Ein bisschen Unruhe hätte „Unruh“ gutgetan

Schlafes Bruder statt anarchistische Agitation?

Filmbesprechung

 

Unruh - Schweiz 2022 - OT: Unrueh - Regie: Cyril Schäublin - Darsteller: Valentin Merz, 
Alexei Evstratov, Clara Gostynski, Monika Stalder, Nikolai Bosshardt - Laufzeit: 93 Minuten.

 

„ ‚Unruh‘ ist eine nachdenkliche Kritik der kapitalistischen Moderne.“

Jacobin, 19.1.2023

 

„Uhrmacherinnen werden zu Anarchistinnen: Der Historienfilm ‚Unruh‘ spielt in einer Schweizer Uhrenfabrik des 19. Jahrhunderts. Regisseur Cyrill Schäublin zeigt, wie Menschen stets versuchen, sich eigene Ordnungen aufzuerlegen – und damit scheitern.“

Deutschlandfunkkultur, 4.1.2023

 

„Ein schillerndes, kluges Gesellschaftsporträt zwischen Spott und Empathie, Sanftmut und Zorn, Liebe und Revolution.“

Kritik der FILMSTARTS-Redaktion

 

Selten bin ich mit solcher Vorfreude in einen Kinofilm gegangen. Kein Wunder. Ein Spielfilm über den Anarchisten Pjotr Kropotkin! Ein Film, der durch Florian Eitels großartige Dissertation über die „Anarchistische[n] Uhrmacher in der Schweiz“ (Transcript Verlag, Bielefeld 2018) inspiriert ist, ein Film, der von taz, ND, SZ, bis Spiegel und FAZ gefeiert wurde. Außerdem ein sympathischer pro-anarchistischer Regisseur, der für „Unruh“ auf der Berlinale mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Nach der Lektüre der vielen Rezensionen pochte mein schwarz-rotes Herz vor freudiger Erwartung. Das kann eigentlich nur ein großartiger Film sein. Oder?

Das habe ich zumindest erhofft. Weil meine Liebste, anders als ich, keine Lust auf einen Agitprop-Anarcho-Politfilm hatte, bin ich mit unserer alten Freundin und Genossin Charlotte (1) aus gemeinsamen Themroc- und Hausbesetzer:innenzeiten in mein liebstes Programmkino gegangen.

 

Cyril Schäublins Film „Unruh“ beginnt mit einer Szene, in der sich Frauen aus dem russischen Hochadel über ihren in die Schweiz gereisten Cousin, den Fürsten Pjotr Kropotkin, und dessen anarchistische Ideen unterhalten. Hier wird ganz nebenbei erklärt, dass die anarchokommunistische Ethik und das Ziel einer herrschaftsfreien Gesellschaft, wie sie Kropotkin propagiert hat, keineswegs mit Chaos und Terror gleichzusetzen ist. Ein wunderbarer Einstieg in die anarchistische Ideenwelt und den Film.

 

Im Zentrum von „Unruh“ stehen die Arbeiterinnen in einer Uhrenfabrik im schweizerischen St. Imier und ihr Agieren in der lokalen und internationalen anarchistischen Bewegung des Jahres 1877. Schön sind die Szenen, in denen zu sehen ist, wie die anarchistischen Uhrfabrikarbeiter:innen kollektiv Geld für die in Chicago inhaftierten Genoss:innen sammeln. Eine frühe anarchistische Solidaritätsbewegung. Gegenseitige Hilfe in der Menschenwelt.

Im Mittelpunkt des Films stehen aber weniger der Anarchismus und seine Ideenwelt, sondern vor allem die Anfänge der industriellen Produktion von Uhren in der Schweiz. Fabrikbesitzer, Behörden, Bahnhofsvorsteher und Uhrenmodelle hatten in dieser Epoche noch jeweils eigene Zeiteinteilungen, mit denen nicht nur die Vorstellung von Zeit, sondern auch Werte und Weltbilder verknüpft waren. Die Abläufe in den Uhrenfabriken waren fremdbestimmt. Die Uhrenherstellung wurde durch neue technische Entwicklungen verändert und streng getaktet.

Die Fabrikarbeiterin Josephine Gräbli ist, neben Kropotkin, Hauptfigur des Films. Sie wacht über die Unruh, die im Inneren der mechanischen Uhren schwingt. Als sie mit neuen Wegen der Beschaffung finanzieller Mittel und einer veränderten Organisation von Arbeit in Kontakt kommt, stößt sie auf die lokale Bewegung der anarchistischen Uhrmacher:innen, die gut mit der internationalen anarchistischen Arbeiter:innenbewegung vernetzt sind. In diesem Umfeld lernt sie Kropotkin kennen, der als Kartograf anarchistische Landkarten zeichnet.

„Sie lassen sich von den neuen Ideen inspirieren, fordern das Ende von Nationalismus und Marktgesetzen und setzen diesen Pazifismus und Solidarität entgegen. Sie verlangen nichts Geringeres als die Befreiung der Zeit“, so heißt es im Eintrag zu „Unruh“ auf Wikipedia.

Charlotte und mir ging der doch arg von den immer wieder kehrenden, detailverliebten Bildern der Uhrenproduktion dominierte Film nach einiger Zeit allerdings zunehmend auf den Wecker. Angesichts der dröge wirkenden Figuren und des fehlenden Spannungsbogens fingen wir an, ein bisschen zu lästern.

Die ungewöhnliche Kameraführung konnte bei uns den Eindruck nicht kaschieren, dass es sich bei „Unruh“ um einen wenig inspirierenden Kostümfilm mit mehr oder weniger begabten Laiendarsteller:innen handelt, der angesichts einer lethargischen Grundtendenz von der sprudelnden Lebendigkeit und dem großartigen Esprit des Anarchismus nur wenig vermittelt. Sehr wenig! Abgesehen von einigen wirklich sehenswerten Szenen. Eine davon ist auch im Trailer (2) zu sehen, der mich vor dem Sehen des Films noch so neugierig gemacht hat.

Unsere Lästerei während der Filmvorführung veranlasste eine andere Besucherin sich im direkten Anschluss laut zu mokieren. Ihr habe gerade die von uns monierte „Langsamkeit“ gefallen.

Der Abend war gerettet. Denn es entwickelte sich eine heiße, für alle Beteiligten anregende Diskussion mit den noch im Kino verbliebenen Zuschauer:innen.

Charlotte: „Wie kann man denn die spannende Geschichte des Anarchismus in St. Imier so laaaaaannnngggweiiiilig rüberbringen?!“

Zuschauerin: „Ich fand aber gerade die Ruhe, die der Film ausstrahlt, sehr wohltuend.“

Ich: „Kropotkin war ein anarchistischer Agitator, Autor und Redakteur. Er hat andere Menschen auch mit seinen anarchistischen Zeitschriften bewegt. Der Film stellt ihn aber geradezu als blutleere Schlaftablette dar. Das wird ihm als verdienstvolle Person sowohl der Wissenschaft als auch des Anarchismus nicht gerecht. Kropotkin hätte sich über diesen Film entweder lautstark echauffiert, oder er wäre eingeschlafen!“

Es stellte sich heraus, dass Charlotte und ich unter den Anwesenden die einzigen Anar-chist:innen waren und ich der einzige war, der Kropotkins „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ u.a. Schriften des legendären Anarchokommunisten gelesen hat.

Vielleicht hatte ich einfach zu große Erwartungen an den Film?

Offenbar wirkt er nämlich auf Noch-Nicht-Anarchist:innen und vielleicht auch andere Anarchist:innen viel positiver als auf alte anarchistische Hasen wie Charlotte und mich.

„Mit dem Einbau des regelmäßig schwingenden Taktgebers in die Uhr verankern seine Anarchistinnen und Anarchisten die politische Unruhe im Herzen der kapitalistischen Moderne - auf die allerhöflichste Art und Weise, versteht sich“, schreibt Philipp Stadelmaier in der Süddeutschen Zeitung vom 6.1.2023.

Schön wär’s.

Anarchie und Glück!

 

Bernard Berger

 

Anmerkungen:

1) Name geändert.

2) https://www.youtube.com/watch?v=K4bdN-CRO00

 

Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 477, März 2023, https://www.graswurzel.net/gwr/2023/03/ein-bisschen-unruhe-haette-unruh-gutgetan/