Mieten oder kaufen?

Wer wo wie wohnt, entscheidet zuerst einmal das Portmonnaie

Vom Schutz vor dem Wetter und wilden Tieren zum Appartement im Hochhaus – Wohnen ist ein Grundbedürfnis, zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte. Die Menschen fingen an zu wohnen, als sie in der frühen Jungsteinzeit allmählich sesshaft wurden. Sie betrieben Landwirtschaft und Vorratshaltung anstatt dem nomadischen Leben. Von Anfang an hatte die Qualität des Wohnraums Einfluss auf die körperliche und seelische Verfassung der Bewohner*innen.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO misst heute dem Wohnen eine zentrale Bedeutung für die menschliche Gesundheit bei, insbesondere hinsichtlich wachsender Städte, einer alternden Bevölkerung und des Klimawandels. Gesunder Wohnraum bedeutet für die WHO eine intakte physische Unterkunft, die Schutz vor den klassischen vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft bietet und angenehme Temperaturen ermöglicht, sanitäre Anlagen und Beleuchtung besitzt sowie Zugang zu Brennstoff oder Strom hat. Des Weiteren schützt sie vor Schadstoffen, Verletzungsgefahren, Schimmel oder Schädlingen.

 

Die neue soziale Frage

Doch nicht nur das. Gesunder Wohnraum soll nach der WHO ein Gefühl von Zuhause vermitteln, von Zugehörigkeit, Sicherheit und Privatsphäre. Und auch was außerhalb der eigenen vier Wände existiert gehört dazu: ein soziales Umfeld, das Interaktionen ermöglicht und so zum Wohlbefinden beiträgt, der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen, Grünflächen und Verkehrsmitteln. Die Wohnung bietet einen gewissen Schutz vor Müll und Verschmutzung. Höchste Priorität räumt die WHO dem Problem der Überbelegung ein, denn zu wenig Wohnraum pro Kopf schlägt nicht nur aufs Gemüt, sondern führt auch zu Krankheiten, etwa durch Infektion. Davon sind nicht nur Menschen in Armut betroffen: Hinter mindestens eines dieser Merkmale ungesunden Wohnens, die sich entlang der obigen Kriterien ergeben, werden viele Leser*innen ebenfalls ein Häkchen setzen können.

»Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietspreise, eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden.« Einzig aufgrund der altertümlichen Sprache ahnt man, dass das keine zeitgenössische Beschreibung ist. Das Zitat aus Friedrich Engels‘ „Zur Wohnungsfrage“ beschreibt im Jahr 1872 die Situation europäischer Arbeiter*innen, die Engels seit den 1840er-Jahren vor allem in den Industriestädten Englands dokumentierte. Zur Einsicht, dass das Wohnen die neue soziale Frage ist, kommt man seither immer wieder, auch heute in Zeiten ‚neuer‘ Wohnungsknappheit. Woher kommt das heute? „Und diese Wohnungsnot macht nur so viel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat“, könnte man Engels weiter anführen.

„Eine Stadt in Wohnangst“ titelte zuletzt die Süddeutsche Zeitung über die Situation in der Großstadt München. Wohnraum ist zu teuer – und das geht an die Substanz. Was den Habenichtsen schon lange klar war, dringt seit einiger Zeit auch in die wohlsituierteren Schichten vor. Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum, nicht nur für Geringverdiener*innen. Bezahlbar heißt, dass man nicht mehr als 30 Prozent des Nettoeinkommens für Miete aufbringen muss. Ein Verhältnis, bei dem inzwischen auch viele Besserverdienende nur müde lächeln können.

 

Mieten, kaufen oder besetzen?

Bei der Mietquote sind in Europa die deutschsprachigen Länder führend. Hier wohnt fast die Hälfte der Bevölkerung zur Miete, in der Schweiz sogar gut 56 Prozent. Vergleichbar hohe Mietquoten gibt es sonst nur in Hongkong und Südkorea. Paradoxerweise ist die Mietquote gerade in einigen reicheren Ländern hoch. Viele arme Menschen im globalen Süden könnten sich Mietzahlungen gar nicht leisten. Die Liste der Länder, in denen die meisten Menschen ihren Wohnraum auch ihr Eigentum nennen können, wird in Europa von einem unerwarteten Land angeführt: Rumänien. Gefolgt wird es von weiteren postsozialistischen Staaten. Dort wurde häufig nach der ‚Wende‘ ab 1989 öffentlich verwalteter Wohnraum zu geringen Preisen an die Bewohner*innen verkauft (Seite 26). Ein zwiespältiges Schnäppchen: In einem Bericht für die BBC aus dem Jahr 2018 von Ioana Moldovan heißt es, dass bis zu ein Drittel des rumänischen Gebäudebestands in schlechtem Zustand ist. Es fehlt den Eigentümer*innen oft schlicht das Geld, um notwendige Reparaturen zu bezahlen. Gerade in einer Erdbebenregion wie Rumänien ist das ein lebensgefährlicher Missstand. Mit einem kaum vorhandenen Marktsegment an Mietwohnungen fehlt es außerdem vielen Rumän*innen an räumlicher Flexibilität, etwa wenn berufs- oder familienbedingt ein Umzug ansteht. Dann bleibt oft nur Kaufen und Verkaufen – wenn denn das notwendige Kapital vorhanden ist. Sonst heißt es: Wohnen auf engem und überbelegtem Raum.

Verstädterung heißt das Phänomen, das vordergründig hinter der Wohnungsnot in den Metropolregionen weltweit steckt. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen, meist berufsbedingt, in Städte und Ballungsgebiete ziehen. Stadtluft macht frei – diesem Slogan folgten nicht nur viele Leibeigene im Spätmittelalter, um den Grundherren zu entfliehen. Zu allen Zeiten waren Städte Anziehungspunkte, gerade für die, die nur ihre Arbeitskraft zu Markte tragen können. 2009 lebte die Hälfte der Menschheit in Städten, 2050 sollen es nach Prognosen zwei Drittel sein. Dort drängen sich immer mehr Menschen in kleinen Wohnungen. Wenn zudem die Familien wachsen, wird es immer schwieriger, angemessen großen Wohnraum zu finden.

Auch für Einzelpersonen wird die Wohnungssuche schwieriger. So leben immer mehr Menschen auf engstem Raum, bis hin zu den sogenannten Sargwohnungen von Hongkong, oder im eigenen Auto, wie zuletzt porträtiert in dem Film „Nomadland“. Oder, so einfach wie brutal: in der Obdachlosigkeit. Das informelle Wohnen gewinnt auch im Globalen Norden an Bedeutung: das Bauen von Behausungen auf Land, das anderen gehört, das Umherziehen mit seinen Habseligkeiten, das Leben im Zelt oder anderen behelfsmäßigen Unterkünften, an Stadträndern, auf Brachen und Parkplätzen, in Bauwagen und besetzten Immobilien. Kurz: das Leben im Slum ist nicht nur ein Phänomen der sogenannten Entwicklungsländer, es kehrt auch in der Ersten Welt wieder. Hier liegen wieder die oben erwähnten Länder nach der postsozialistischen Transformation des Wohnraums an der Spitze.

Mieten, kaufen, spekulieren. Der Großteil der Mieter*innen und selbst der Eigenheimbesitzer*innen haben wenig Einfluss auf eine andere Entwicklung: Die zunehmende Kommodifizierung von Wohnraum als Wertanlage und Profitquelle. Der Begriff „Betongold“ kommt nicht von ungefähr. Aber seit den 1990er-Jahren und spätestens seit den 2010er-Jahren gewinnt diese Dynamik weltweit rasant an Fahrt. Im postfordistischen Zeitalter, in dem wir uns immer noch befinden, verschob sich das Potential der Profitmaximierung von der Industrie zum Teil in Richtung Immobilien. Wurden Wohnungen einst zur Unterbringung der Mehrwert produzierenden Arbeitskräfte bereitgestellt, so werden sie nun vermehrt zur Hauptmanege der Profitgenerierung. Passenderweise wurde die Wohnungswirtschaft in fast allen Industrieländern seit spätestens den 1990er-Jahren neoliberalisiert. So sank etwa der Bestand kommunaler Wohnungen in Deutschland von einem Markanteil von etwa 20 Prozent in den 1980er-Jahren auf sechs Prozent in den frühen 2000ern. Das bedeutet, dass der freie Markt unangefochten die Preise diktiert und nur noch wenige Wohnungen der öffentlichen Hand unterliegen. Das war – zumindest in vielen Industrieländern – auch mal anders.

 

Sozialbau für die unteren Klassen

Die soziale Ungleichheit bringt oft schlechte Wohnverhältnisse mit sich. Das verursacht gesundheitliche Probleme bis hin zur Ausbreitung von Seuchen und zu einer kürzeren Lebensdauer. Dabei gibt es schon lange Bestrebungen seitens Arbeitgeber*innen und Regierungen, Wohnraum für die arbeitende Bevölkerung bereitzustellen. Ein Vorteil davon ist eine gesündere Arbeiter*innenschaft. Ein weiterer Vorteil ist, dass man die Bewohner*innen beisammen hat und die Kontrolle über sie ausüben kann.

Als frühes Beispiel einer Sozialbausiedlung gilt die Fuggerei in Augsburg, die 1521 von Jakob Fugger, auch genannt „Der Reiche“, gestiftet wurde. Die Wohnungen werden noch heute extrem billig vermietet und die Mieter*innen sprechen, zumindest gemäß der Mietvereinbarung, täglich ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis und ein Ave Maria für den Stifter und die Stifterfamilie Fugger. Die Werksiedlung im schottischen New Lanark wiederum gilt als Beispiel für frühes genossenschaftliches Wohnen des frühen 19. Jahrhunderts. Sie war eine Idee des walisischen Textilunternehmers und Frühsozialisten Robert Owen. Im 20. Jahrhundert, als in Industrieländern erste Sozialstaaten entstehen, schossen die Sozialbauten nur so aus dem Boden, insbesondere nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Dieser Bestand verfällt aber mittlerweile. Was nicht privatisiert ist, wird vernachlässigt, baufällig, wird zum Ghetto, Angstraum und sozialen Brennpunkt: zum Beispiel manche französische Banlieues, die Projects in der Bronx in New York, die Gropiusstadt in Berlin.

Eine Ausnahme sind die sogenannten Gemeindebauten von Wien. Das Produkt des „Roten Wiens“, also der Ära von 1919-1934, als die österreichische Hauptstadt von Sozialdemokrat*innen regiert wurde, bieten die Mietshäuser bis heute bezahlbaren und hochwertigen Wohnraum für Menschen verschiedenster Herkunft und Einkommensklassen. Ein Tauschkonzept ermöglicht Umzüge ohne Mietaufschlag. So kann eine Wohnung je nach Lebenslage innerhalb der Gemeindebauten gewechselt werden. Laut eines Rankings des Economist ist Wien 2022 zum zehnten Mal in Folge die lebenswerteste Stadt der Welt.

Mit dem globalen Süden verbindet man das Konzept des Sozialbaus eher nicht, doch auch hier wurde für die Massen gebaut: In französischen Kolonien baute man ähnlich wie in den Banlieus abgeschottete Stadtteile für die arbeitende, kolonisierte Bevölkerung. Das franquistische Spanien zog Wohnblocks in Marokko hoch, immer untermalt vom Diskurs der Modernisierung, Zivilisation und angeblicher Großzügigkeit der Kolonisatoren und späteren Geberländer. In vielen dekolonisierten Ländern mit sozialistischer Ausrichtung wurde nach Vorbild des sowjetischen Plattenbaus (oder der jugoslawischen IMS-Bauweise, Seite 26) Wohnraum geschaffen, am auffälligsten vielleicht in Brasilien mit futuristischen, modernistischen Bauten des Architekten Oscar Niemeyer. Dessen Wohnkomplex Conjunto Juscelino Kubitschek in Belo Horizonte, entworfen 1951 als Stadt in der Stadt aus 1.100 Wohnungen, geplant mit Annehmlichkeiten und Gemeinschaftseinrichtungen wurde nie so realisiert. Der Militärputsch von 1964 kam dazwischen. Heute leben immerhin an die 5.000 Menschen in den beiden Türmen.

Ob die oben genannten Sozialbauten immer den Bedürfnissen der Bewohner*innen gerecht werden, ist fraglich. Vielerorts werden Gebäude, einst im Gedanken an die mitteleuropäische Kernfamilie erbaut, kurzerhand umgebaut. In Kuisebmond/Namibia etwa, einer Vorstadt der Hafenstadt Walvis Bay, werden die Einfamilienhäuser aus Kolonialzeiten von ihren Bewohner*innen durch Anbauten vergrößert, um Mehrgenerationenfamilien Platz zu schaffen.

 

Wohnen, Gemeinschaft und Reproduktion

Die Zahl der Singlehaushalte steigt weltweit. Doch Wohnen bedeutet für viele immer noch Gemeinschaft und Familie. Vom jungsteinzeitlichen Langhaus, in dem verschiedene Generationen und Gemeinschaftsmitglieder zusammenwohnten, zum Oikos der griechischen Antike, in dem ein männlicher Haushaltsvorstand über Frauen, Kinder, Bedienstete und Versklavte herrschte, zum mittelalterlichen Wohnstallhaus mit der landwirtschaftlichen Mehrgenerationenfamilie inklusive Haustieren, bis zur Fokussierung auf die Zweigenerationenfamilie als ‚typische‘ Wohnpartei ab dem 19. Jahrhundert. In Indien ist dieser Strukturwandel in der Gegenwart im Gange (Seite 6). Inzwischen sind neue nichtverwandte Zweckgemeinschaften dazugekommen, etwa im Wohnheim oder der Wohngemeinschaft. Andere eher selbstgewählte Wohnzusammenhänge sind Mehrgenerationenhäuser, Kommunen und Wohnprojekte. Neben dem effizienter genutzten Wohnraum können diese Modelle auch ein Ansatz sein, um die Einsamkeit und Vereinzelung zu bekämpfen.

Auch hier ist Wohnraum der Ort der Reproduktion der Arbeitskraft. Das geschieht vor allem durch Hausarbeit: Kochen, Waschen, Putzen, Kindererziehung – Tätigkeiten, die auch heute noch als typisch weiblich gelten. Feminist*innen betonen deshalb schon lange: Das Private ist politisch und damit ist der Modus des Wohnens politisch. Die Hausarbeit gehört fair aufgeteilt und Architektur hat die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Das Wohnen ist auch deshalb politisch, weil Frauen im Zuhause einem hohen Risiko ausgesetzt sind Opfer von Gewalt werden. Im Februar 2016 titelte das Magazin Vice „Angesichts steigender Mieten bleiben viele Frauen in gewalttätigen Beziehungen“ über die verheerende Situation in weltweiten Metropolregionen. Dass Frauen unabhängig von Ehemännern und Herkunftsfamilie wohnen können ist bis heute in vielen Ländern nicht selbstverständlich. Im New York City des frühen 20. Jahrhunderts etwa baute die Young Women’s Christian Association (YWCA) erste Wohnheime nur für werktätige unverheiratete Frauen auf. Dieser größer werdenden Bevölkerungsgruppe sollten sichere (und kontrollierte) Wohnbedingungen gewährleistet werden. Viele von ihnen mieteten sich später Apartments in den ersten großen Wohnblocks, auch eine Ermöglichung von weiblicher Unabhängigkeit und deshalb den damaligen Konservativen ein Dorn im Auge. Feministische Architekt*innen, wie etwa die britische Matrix Feminist Design Co-operative, die von 1981 bis 1994 existierte, denken die Bedürfnisse von Frauen und Sorgenden in ihren Entwürfen mit, denn Architektur formt auch die Beziehungen.

Am Ende stehen immer noch die Preise. Wenn man sich den Wohnraum nicht leisten kann, oder man ständig von Räumung und Eigenbedarfskündigung bedroht ist, helfen auch die schönste Raumaufteilung, der hauseigene Spielplatz und die Kinderwagenrampe nichts. Und das ist ein globales Problem. Deshalb gehen weltweit Menschen entlang der ‚neuen sozialen Frage‘ auf die Straße, besetzen Häuser, fordern bezahlbare Mieten oder Re-Kommunalisierung oder die Enteignung von Immobilienkonzernen. Es gäbe bessere Modelle, um Wohnraum zu finanzieren, zu schaffen, zu verwalten und zu verteilen, als durch große Unternehmen auf dem freien Markt. Erprobt werden sie schon lange, und das weltweit: in Genossenschaften, Kooperativen, Community Land Trusts, oder auch durch kommunale Wohnungsbaugesellschaften. Sind sie die Zukunft des Wohnens? Gesund wäre es!