Als Boris Jelzin im August 1991 vor zehntausenden Demonstranten vor dem Weißen Haus in Moskau zum Widerstand rief, wurde dies ein Augenblick für die Geschichte. Auch die hat mehr handelnde Personen als nur eine und ihre eigenen Geschichten. In diesem Falle die des Sprechers des russischen Parlaments, Ruslan Chasbulatow. Der berichtet, es habe nachdrücklichen Zuredens bedurft, bis der Präsident auf den Panzer kletterte und die Verurteilung des Putsches des „Komitees für den Ausnahmezustand“ verlas. Überzeugend dürfte gewesen sein, dass Chasbulatow anbot, wenn der Präsident nicht wolle, dann müsse er es als Parlamentschef eben selbst machen. Jelzins Auftritt ging als mutig und entschlossen in die Bücher ein.
Den Redetext, dessen Autor Chasbulatow war, konnte ich als Moskauer Korrespondent als Flugblatt am Roten Platz aufsammeln. Dort waren Panzer aufgefahren, hilflose Besatzungen standen herum. Der verzweifelte Versuch zum Erhalt der Sowjetunion scheiterte schmählich. Im Dezember 1991 unterstützte auch Chasbulatow die Ratifizierung der Vereinbarung über das Ende der UdSSR. So offenbart sich die Ironie, dass im Dezember 2022 in der Nesawissimaja Gaseta der letzte Artikel Chasbulatows dem 100. Jahrestag der Gründung der UdSSR, ihren „großen Errungenschaften und dem großen Verlust“, gewidmet war.
Zu den Einsichten des Autors gehört, dass mit dem Untergang des sozialistischen Weltsystems das globale Gleichgewicht verloren gegangen sei. Das politische System von Jalta und Teheran habe die Grundsätze der friedlichen politischen Koexistenz während des Kalten Krieges sichergestellt, Wettbewerb habe für ein dynamisches Wachstum der beiden Wirtschaftssysteme und echte Synergien gesorgt. Heute sei Russland „genauso kapitalistisch und bürgerlich wie die USA und die EU, mit der gleichen Verankerung der Oligarchen wie in diesen Gesellschaften“.
Angesichts seines „erstaunlichen Wachstums“ werde im Westen nun allerdings gefürchtet, dass ein sozialistisches China den Platz der Sowjetunion einnehmen werde. „Dieses grandiose soziale Experiment war mehr als erfolgreich“, lobt Chasbulatow die sozialistische Sowjetunion. Angesichts seiner politischen Biografie verblüfft auf den ersten Blick diese Erkenntnis: „Sie hätte sich länger gehalten als die kapitalistische Gesellschaft, wenn sie nicht von schwachen, feigen Menschen zerstört worden wäre, die durch die Umstände zufällig an die Spitze der Macht gelangten und sich nicht ganz bewusst waren, was sie taten.“ Die Tragödie des Zusammenbruchs „wurde ihm jedoch erst klar, als es bereits zu spät war“, wird Chasbulatow in der Internetzeitung Gaseta.ru vom Historiker Jewgeni Koschokin vage entschuldigt.
Den „militärischen Konflikt, der zwischen Russland und der Ukraine ausgebrochen ist“, sieht Chasbulatow als eine „direkte Folge des Zusammenbruchs eines großen Staates“. Für ihn ist es kein Zufall, dass die beiden ehemaligen wichtigsten Unionsrepubliken der UdSSR – die Verursacher dieser Katastrophe – in den Konflikt verwickelt seien. Russland und die Ukraine hatten 1991 gemeinsam mit Belarus, das heute nur noch äußerst knapp am Rande des Waffengangs laviert, den Vertrag über die Gründung der Sowjetunion aufgekündigt. Den Krieg Russlands gegen die Ukraine vermutet Chasbulatow nun etwas mystisch „möglicherweise auch als Strafe des Allmächtigen für das große Verbrechen von vor 30 Jahren“.
Dem hatte er nicht nur zugesehen, er war einer der führend Mitwirkenden. Seit Ruslan Imranowitsch im Juni 1990 auf dem 1. Kongress der russischen Volksdeputierten zum 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Obersten Sowjets gewählt wurde und später von Boris Jelzin das Spitzenamt übernahm, sorgte er für Aufsehen. Mit dort ungewohnt schneidender Intelligenz, etwas schnarrender Stimme und einigem Vergnügen dirigierte er den Saal nach Belieben. Geholfen hätten ihm „seine tschetschenische Herkunft, sein natürlicher Scharfsinn und seine demokratische Orientierung“, meinte Dmitri Trawin, ein als Kritiker des Politikers bekannter Historiker der 1990er Jahre. Er lobt: „Ein Demokrat, aber kein Radikaler. Ein Vertreter der nationalen Minderheit, aber gleichzeitig ein Moskauer Intellektueller. Ein Mann, der intrigieren kann, aber vorerst die Grenzen des Erlaubten nicht überschreitet. Mit einem Wort, es gibt nichts Besseres.“
Regierende „Radikalreformer“ und Durchpeitscher der „Schocktherapie“ wie Jegor Gajdar oder den Chefprivatisierer Anatoli Tschubajs bezeichnet er lässig als „leicht verwirrte Jungs” und lässt keinen Zweifel daran, was er von ihnen hält: „Nicht nur erfolglos, sondern unqualifiziert.” Am Ende geben ihm eine beispiellose Verarmung der Bevölkerung in einer rasenden Inflation und andererseits die Anhäufung von großem Reichtum bei Günstlingen der Mächtigen recht. Es ist die Zeit, in der Oligarchen gemacht werden.
Chasbulatow fühlt sich im Parlamentarismus und im Meinungsstreit als Reformer sichtlich wohl. Mit seiner Familie wurde er als Tschetschene in der Stalinzeit deportiert und verfolgt. Daraus hat er Schlüsse gezogen. Bitter und entschieden weist er Vorwürfe als absurd zurück, er sei „rot-brauner Gesinnung“. Für ihn seinerseits ist Jelzin ein Altkader, der von seinen Methoden als kommunistischer Parteichef in Swerdlowsk nicht lassen mag. „Ruslan Imranowitsch war ein echter Parlamentspräsident, während Boris Nikolajewitsch von Natur aus schon immer ein Zar gewesen ist“, schreibt Historiker Koschokin, selbst russischer Abgeordneter 1990-1993.
Die beiden früheren Verbündeten streiten über die Staatsform Russlands. Während Jelzin ein Präsidialsystem nach amerikanischem Zuschnitt bevorzugt, tritt Chasbulatow für ein parlamentarisches Modell nach westeuropäischem Vorbild ein. Das sei kein persönlicher Streit mit Jelzin gewesen, wird er später in Interviews, so der Wiener Zeitung, erläutern. „Im Zentrum stand vielmehr die Frage, wohin sich Russland entwickeln sollte: in eine demokratische oder eine diktatorische Richtung.“
Der Konflikt eskaliert im Herbst 1993. Der Präsident erklärt den Obersten Sowjet für aufgelöst, lässt ihm Strom und Wasser abstellen. Panzer beschießen das Weiße Haus. Die Belagerten setzen Jelzin ab und ernennen dessen Vize Alexander Ruzkoj zum Präsidenten. Sie rufen ebenfalls zu den Waffen. Das Fernsehzentrum Ostankino soll besetzt werden. Stunden später sammeln sich die Unterlegenen am Rigaer Bahnhof. Ich sehe Männer mit blutigen Verbänden, eine geschlagene Streitmacht.
„Nicht 150, sondern mehr als 1500 Menschen wurden vor dem Gebäude des Obersten Sowjets getötet. Dann wurden die Leichen nachts mit Lastkähnen auf der Moskwa abtransportiert“, berichtet Ruzkoj im Juni 2021 dem Internetportal lenta.ru. Es hätten „betrunkene OMON-Bereitschaftspolizisten Menschen ergriffen und sie direkt im Stadion in der Nähe des Gebäudes des Obersten Sowjets erschossen“. Die Anführer und ihre Getreuen im Weißen Haus haben aufgegeben. Nun ist auch Chasbulatow ein „Letzter“ – nach ihm gibt es keinen Obersten Sowjet Russlands mehr.
Bis heute predigt nicht nur Die Welt das schon in sich nicht schlüssige Lobeswort: „Panzer verteidigten also die Demokratie gegen ihre Gegner, indem sie auf den Sitz der Volksvertretung schossen.“ Das soll, wie die Empörung über den Sturm des Weißen Hauses in Washington oder des Kongressgeländes in Brasilia zeigt, aber nur im russischen Falle gelten.
„Hätte der Westen nicht den Putsch Jelzins mitsamt der Zerstörung des Parlaments unterstützt, wäre Russland jetzt eine parlamentarische Demokratie“, meint Chasbulatow. „So gesehen könnte man sagen, der Westen hat das bekommen, was er sich verdient hat. Das Entstehen des Systems Putin ist in den damaligen Ereignissen begründet.“ Der Präsident habe das unabhängige Parlament abgeschafft. Nach den Protesten 2012 auf dem Bolotnaja-Platz seien antidemokratische Gesetze in einem solchen Tempo verfertigt worden, dass die Staatsduma als „rasender Drucker“ verspottet wurde. Die Machtstrukturen, wagt Chasbulatow eine Anspielung auf den Stalin-Terror, hätten eine einzigartige Bedeutung erlangt – „vergleichbar mit ihrer Blütezeit in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre“.
Am 3. Januar 2023 ist Ruslan Imranowitsch Chasbulatow, Korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Professor für Weltwirtschaft am Plechanow-Institut und früherer Spitzenpolitiker im Alter von 80 Jahren in Moskau verstorben. Er wurde in seinem tschetschenischen Heimatort Tolstoj-Jurt beigesetzt.