Batka mit dem Rücken zum Kreml

Zum Geburtstag habe Wladimir Putin dem belarussischen Präsidenten am 30. August eine Reise nach Moskau geschenkt, titelte genüsslich die Komsomolskaja Prawda. Dies tat der Präsident Russlands während eines der in diesen Wochen ungewohnt zahlreichen Telefonate mit Alexander Lukaschenko. Offiziell verkündet wurde diplomatisch verschleiert der Wille „zur Festigung der russisch-belarussischen Gemeinschaft und der Verbreiterung der gegenseitig nützlichen Zusammenarbeit in allen Richtungen“. Der Termin blieb offen, nach unbestätigten Hinweisen warten alle diesen Montag ab.

Die Einladung war mehr als eine diplomatische Artigkeit gegenüber dem nunmehr 66-jährigen Lukaschenko. Der bis zum Ausbrechen des Konfliktes zuweilen als „Batka“, also Vater, bezeichnete Staatschef rühmte sich zudem der Aufmerksamkeit, dass seinem Land als erstem der russische Impfstoff „Sputnik V“ gegen das Corona-Virus versprochen worden sei. Vor allem aber galt dem vorgeblichen 80-Prozent-Wahlsieger vom 9. August statt des hunderttausendfachen „Hau ab!“ zorniger Bürger auf den Straßen der Hauptstadt Minsk und überall im Land ein „Komm her!“ aus Russland. Dessen Präsident erkannte die Präsidentschaftswahlen in Belarus und Lukaschenko als deren Sieger an. „Wie sie wissen, gratulierte ich Alexander Lukaschenko zum Sieg bei diesen Wahlen“, zitierte die belarussische Agentur BelTA aus einem Interview Putins für den ersten russischen Fernsehkanal.

Da hatte Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, zu diesem Zeitpunkt das letzte in Freiheit wirkende Präsidiumsmitglied des oppositionellen Koordinierungsrates, noch nicht gewarnt, dass Russland mit seiner Politik das belarussische Territorium sichern, des belarussische Brudervolk aber verlieren könne. Der selbstgefällige Sieger mochte seinen umstrittenen Triumph seit Wochen nicht nur mit verbaler Kraftmeierei gegen Demonstranten, sondern zugleich mit Reizgas, Gummiknüppeln und Massenverhaftungen glaubhaft machen. Damit heizte er den Protest an. „Je mehr grobe Gewalt die Herrschenden gegen die Protestierenden anwenden, desto stärker wird der Widerstand“, meinte der Politologe Waleri Karbalewitsch in der Internetzeitung gaseta.by.

Erst rund vier Wochen nach zum Teil brutalen Einsätzen von Miliz, Spezialeinheiten und Geheimdienstlern bequemte sich die Staatsanwaltschaft zu der Ankündigung, „Beschwerden der Bürger ernsthaft nachgehen“ zu wollen. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte sei eine „innere Angelegenheit“ gewesen, hielt sich Putins Sprecher Dmitri Peskow raus. Die Ordnungskräfte seien „ziemlich zurückhaltend“ gewesen, hatte sein Chef am 27. August gegenüber TV Rossija 1 abgewiegelt. Ähnlich großzügige Beobachter verwiesen darauf, dass Präsident Lukaschenko trotz allem ja doch über eine Mehrheit um die 60 Prozent verfüge. Auch Peskow sieht „nicht alle Belarussen“ im Protest gegen den Präsidenten. Kurz vor dessen erwarteter Visite meinte er lässig: „Nach Wahlen gibt es immer Unzufriedene, immer und in allen Ländern.“ Man dürfe nicht die „gewaltige Zahl der Belarussen vergessen, die ehrlich ihren Präsidenten unterstützen“.

Doch so wenig wie die verkündeten 80 Prozent bietet auch das keinen Beleg für faire Wahlen. Der Betrug begann nicht erst mit der Auszählung, sondern schon weit vor dem Urnengang – auch mit der skrupellosen Ausschaltung unliebsamer Gegenkandidaten vor und nach dem Votum. Swetlana Tichanowskaja trat bekanntlich erst an, nachdem ihr Ehemann Sergej von der Wahl ausgeschlossen und ins Gefängnis geworfen wurde.

Mit „ungelenkter“ Opposition hat man es in Minsk und auch in Moskau nicht so. Sie steht unter Generalverdacht, mit dem Land in den Westen abzudriften, von dem sie angeblich geistig und materiell gefüttert werde. Abtrünnige Sowjetbrüder wie zuerst die baltischen, zuletzt die ukrainischen und „Farbenrevolutionen“ ohnehin dienen einem bevorzugt in militärischen Kategorien agierenden Machtapparat als Mahnung und Verpflichtung zum resoluten Durchgreifen.

Der Sicherheitsrat der Russischen Föderation habe die Aufstellung einer Einsatztruppe entschieden, „nachdem er die geopolitischen Risiken für Russland, so wie sie die konservative Superelite Russlands versteht, nicht zugunsten von Lukaschenkos Gegnern eingeschätzt hat“, analysierte die Njesawissimaja Gasjeta. Die Ankündigung, auf Bitte Lukaschenkos solche Kräfte für den Fall einer unkontrollierten Eskalation bereitzuhalten, traf nicht nur auf Widerspruch des Chefredakteurs Konstantin Remtschukow: „Wenn Lukaschenko ein Spitzbube und Fälscher von Wahlergebnissen ist, dann ist er derjenige, der die Situation im Land destabilisiert, und Putin müsste mit seiner Reserve von Gesetzeshütern eingreifen und die ehrlichen Menschen in Belarus schützen.“

Die Auseinandersetzung um Belarus hat den nationalen Rahmen von Wahlfälschung, rüpeliger bis brutaler Machtarroganz und einer breiten Protestbewegung dagegen überschritten. Die Geschichte verläuft einmal mehr nach der fast auf den Tag vor 130 Jahren von Friedrich Engels an Joseph Bloch übermittelten Erkenntnis: „Denn was jeder Einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat“ (Brief an Joseph Bloch in Königsberg, 21. September 1890). Die Auseinandersetzung könnte gar in eine Art Ost-West-Konflikt nach Art der Ukraine übergleiten. Ihre Probleme sollten die Belarussen jedoch selbst lösen, unterstrich Putins Sprecher am 10. September bei der Agentur Interfax, „nur sie sollen das tun, weder wir noch andere Länder Europas oder der Welt haben das Recht, sich einzumischen“.

Russland steckt freilich schon drin. Alexander Grigorjewitsch kann es mit der Annäherung auf einmal gar nicht schnell genug gehen. Denn eben dies erscheint Lukaschenko als Königs(Aus-)weg aus bedrängter Lage. Mit seiner Schaukelpolitik der „Multivektoren“ versuchte sich der kleine slawische Bruder bis zum Überdruss gegen den übermächtigen Nachbarn zu behaupten. Wenn auch der slawische Bruderbund mit Moskau beschworen wurde, pflegte Minsk demonstrativ eigene Beziehungen mit Kiew. Auf der Habenseite finden sich allerdings die Vereinbarungen zur Lösung des ukrainischen Konfliktes. Sie tragen nicht zufällig den Namen der Hauptstadt Minsk und bleiben der wohl größte diplomatische Erfolg Lukaschenkos.

Nun sei der westliche Vektor abgebrochen, konstatiert Alexander Klasskowski in der kritischen belarussischen Internetzeitung naviniy.by und sorgt sich vor allem um die Wirtschaft. Die Gesetzlosigkeit während und nach den Wahlen sei „nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich ein Bärendienst für das Regime“ gewesen. Die Führung in Minsk habe sich auf Leute mit Schulterstücken verlassen und so viel Porzellan zerbrochen, dass der bis dahin auf pragmatischen Dialog orientierte Westen einfach zu Sanktionen genötigt werde. „Jetzt sind die politischen Beziehungen mit dem Westen ernstlich und für lange Zeit zerstört.“

Die letzte Rettung sieht Lukaschenko in der Rückkehr zur Sojus. Dabei ging es dem Mitte der 1990er Jahre noch mit Russlands Präsidenten Boris Jelzin geschlossenen Bund nie gut. Auch in dem offiziell 1997 gebildeten Unionsstaat blieben die Brüder zerstritten. Russland wolle sich Belarus unter dem Vorwand einer tieferen Integration einverleiben, klagte Lukaschenko. Es gebe ungerechte Handelsbedingungen, der Preis des Erdöls sei zu hoch. Sein Gegenüber rüffelte den „unbefriedigenden Zustand“ der Gaspipeline Jamal-Europa auf belarussischem Gebiet und dass der Verbündete unsolidarisch die Moskauer Gegensanktionen angesichts westlichen Boykotts sabotiere. Doch Belarus bleibt für den Kreml von größter strategischer Bedeutung. Der Nachbar grenzt an Lettland, Litauen, die Ukraine sowie Polen und wird als letzte europäische Pufferzone zum Westen und der vorrückenden NATO verstanden.

Lukaschenko selbst steht mit dem Rücken zum Kreml. Plötzlich lobt er Russland als „unser gemeinsames Vaterland“ von Brest bis Wladiwostok. Alexej Nikolski erinnert in dem Wirtschaftsblatt Wedomosti jedoch an einen Wahlkampf „faktisch unter antirussischen Losungen“. Jetzt könne der Präsident nirgendwo mehr hin, und als Gegenleistung für Hilfe würden Worte nicht genügen. Quasi als Morgengabe sprang Lukaschenko dem Kreml in der Nawalny-Affäre in Wort und Ton mit einem nach seinen Angaben zwischen Warschau und Berlin abgefangenen Telefonat bei, das die Vergiftung des russischen Oppositionellen als Fälschung offenbaren sollte. Die Beweiskraft bleibt ebenso zu bezweifeln wie bei allen anderen vorgeblichen Indizien. Obwohl es in der westlichen Welt bereits Schuldsprüche hagelt und das Strafmaß für Putin diskutiert wird, könnte bei der herrschenden Faktenlage auch hier kein gesetzestreuer Richter auch nur einen Haftbefehl, geschweige eine Hinrichtung, in Erwägung ziehen.

Zumindest als Dulder, wenn nicht als Stütze des Autokraten, der von Anfang an auf Eskalation setzte, gerät Moskau derweil in immer größere Mitverantwortung. Das Vorgehen Lukaschenkos und dessen Folgen fallen auch auf Putin zurück. Dem ohnehin bedrängten Kremlchef kann das unmöglich gefallen. Er persönlich hält sich seit der Gratulation und der Ankündigung, vertragstreu eine Polizeitruppe bereitzuhalten, zurück. Die Sorge russischer Bürger – „Wir geben Lukaschenko alles und bekommen dafür von ihm nichts. Wie immer.“ – soll sich aber keinesfalls bestätigen. Der angeschlagene Selbstherrscher wird jeden Preis zahlen – und der Kreml ihn verlangen. Der Lohn wäre ein Überleben von Moskaus Gnaden. Das könnte bis zur Sicherung einer russlandfreundlichen Stabilität dauern, die erst künftig ohne diesen inzwischen durchaus weithin ungeliebten Herrscher im Stile der nachsowjetischen 90er Jahre auskommt.

Abgeschlossen am 10. September 2020 – Anm. d. V.