Die iranische Protestbewegung stellt das Regime infrage
Seit drei Monaten riskieren viele Menschen in Iran ihr Leben bei den Protesten gegen das Mullah-Regime. Während die Internationale Gemeinschaft verhalten reagiert, nimmt die Repression im Land zu.
Zu Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Katar veröffentlichte die staatliche iranische Nachrichtenagentur IRNA einen Videobeitrag. Dabei wurden Ausschnitte iranischer Fußballerfolge mit Clips von den landesweiten Protesten verschnitten. Unter dem Slogan »Mā dobāre mā mī-schavīm« (»Wir werden wieder wir«) wird im Kommentar dazu aufgerufen, die »Ereignisse« der letzten Wochen hinter sich zu lassen und unter iranischer Flagge vereint das nationale Team zu unterstützen1. Wie nebenbei werden in einem Ausschnitt auch junge weibliche iranische Fans gezeigt, die wesentlich mehr Haar zeigen, als es von der Moralpolizei in Iran toleriert werden würde. Das Regime inszeniert sich hier als verständnisvoll, nachsichtig und zu Veränderungen fähig. Demgegenüber war es bis 2019 Frauen in Iran vollständig verboten, als Zuschauerinnen an Spielen teilzunehmen. Die mediale Selbstdarstellung des Regimes als wohlwollender und fast unbeteiligter Beobachter bei den Protesten wird in der Realität konterkariert durch eine weitgehende Internetsperre und zunehmende Gewalt der Sicherheitskräfte.
Waffengewalt gegen Freiheitsproteste
Am 15. November näherte sich der dritte Jahrestag des »blutigen Novembers« der Proteste von 2019, bei denen geschätzte 1.500 Menschen durch die Gewalt der Sicherheitskräfte ums Leben kamen. In Erinnerung an die staatlich sanktionierten Gewalttaten wurde in den sozialen Netzwerken zu landesweiten Streiks aufgerufen. In den darauffolgenden Tagen kam es zu Demonstrationen in mindestens 69 Städten und Ortschaften. Mehrere staatliche Betriebe wurden bestreikt, Geschäfte blieben aus Protest geschlossen und an Schulen und Universitäten fanden Kundgebungen statt.
Insbesondere in den kurdischen Gebieten im Westen Irans reagierten die Sicherheitskräfte mit zunehmender Gewalt. In der Kleinstadt Izeh soll es, nachdem unbekannte Bewaffnete das Feuer auf eine Menschenmenge eröffneten, fünf Tote gegeben haben, unter ihnen ein neunjähriger Junge. Die Familie des Jungen macht die Sicherheitskräfte verantwortlich. Am 17. November kam es erneut zu Protesten in mehreren Städten. Medien berichten, dass in der Ortschaft Khomein das Geburtshaus von Ayatollah Khomeini in Brand gesteckt wurde. In den kurdisch geprägten Städten Bukan und Sanandaj soll scharfe Munition zum Einsatz gekommen sein. Bei den zumeist abendlichen Ausschreitungen wurden insgesamt 18 Tote gemeldet.
In der Kleinstadt Mahabad starben ebenfalls vier Menschen durch Schusswaffen, darunter Kamal Ahmadpour. An dessen Beerdigung am 19. November nahmen mehrere tausend Menschen teil. Es wurden Anti-Regime-Slogans gerufen und Jugendliche errichteten Straßenbarrikaden. Am darauffolgenden Tag sollen die Bereitschaftspolizei und die paramilitärische Miliz der Basiji militärisches Gerät und gepanzerte Fahrzeuge gegen die Demonstrierenden eingesetzt haben. In sozialen Medien wurde davon gesprochen, dass die Stadt »unter Belagerung« steht. Videos von gepanzerten Fahrzeugen, Sicherheitskräften mit Sturmgewehren in Tarnuniformen, sowie schwer zu verifizierende Bilder scharfer Munition wurden auch aus Javanroud, Divandarreh und Piranshahr geteilt.
Die NGO Human Rights Activists in Iran zählte bislang 459 in Folge der Proteste getötete Zivilist*innen, darunter 64 Kinder, und über 18.000 Verhaftete (Stand 30.11.2022). Es wurden mindestens sechs Todesurteile gegen Demonstrierende verhängt, allerdings noch nicht vollstreckt. Als Reaktion auf die gewaltsame Unterdrückung der Bevölkerung haben Deutschland und Island im November stellvertretend für 42 Länder eine Sondersitzung im UN-Menschenrechtsrat beantragt, der erstmalig in der Geschichte des Gremiums zur Menschenrechtslage in Iran tagte. Dabei verabschiedete der Rat eine Resolution, die eine unabhängige Untersuchung der Gewalt gegen friedlich Demonstrierende vorsieht.
Stabilität über alles
Währenddessen berichten iranische Staatsmedien über Polizeigewalt in Europa, auf Corona-Demonstrationen und bei Klimaprotesten, und relativieren so die Vorgehensweise der eigenen Regierung. Außenminister Amirabdollahian spricht von »höchster Zurückhaltung bei den aktuellen Protesten« und verbietet sich eine westliche Einmischung in innere Angelegenheiten. Dabei ist man sich in der iranischen Regierung dessen bewusst, dass es gerade die außenpolitische Perspektive ist, die das Regime stabilisieren kann. Denn nach innen argumentiert die iranische Führung seit langem mit dem – vor allem im Vergleich zu Nachbarländern wie Afghanistan, Irak und Syrien – guten Lebensstandard in Iran und mit der deutlich besseren Sicherheitslage. Diesem Vorteil der Islamischen Republik wird das Narrativ von einem drohenden Bürgerkrieg entgegengesetzt und unter anderem von regimetreuen Accounts in sozialen Medien gestreut. Das soll Ängste vor einer Spaltung des multiethnischen Irans schüren. Die in dieser Woche erfolgten Angriffe auf kurdische Widerstandsgruppen im Nordirak sind vor diesem Hintergrund nicht nur als Mittel der gewaltsamen Unterdrückung zu verstehen, sondern auch als innenpolitische Machtdemonstration. Sie verknüpfen die Garantie der territorialen Integrität Irans mit der Existenz einer wehrhaften Islamischen Republik. In einem Land das, der sich zunehmend von einer islamisch-theokratischen Republik hin zu einer Oligarchie der Revolutionsgarden entwickelt, stützt diese Logik das System. Es ist einfach, die Protestierenden als separatistisch zu delegitimieren – welche demgegenüber landesweit mit Solidaritätsbekundungen für Kurd*innen und Belutsch*innen reagieren.
In dieselbe Argumentation reihen sich auch die Berichte über die Entwicklung militärischer Hyperschallraketen durch die Luftwaffe der Revolutionsgarden ein. Im Westen werden diese vor allem als Drohgebärden verstanden. Für die iranische Regierung untermauern sie als Zeichen militärischer Stärke die eigene regionale Vormachtstellung. Die gezielte Veröffentlichung dieser Nachricht auf dem Höhepunkt der Protestbewegung soll implizieren, dass eine stabile Region nur mit der Islamischen Republik möglich ist. Die Nachricht an die westliche Welt und die krisengebeutelten Nachbarstaaten heißt: Eine neue Revolution wäre nicht nur eine Gefahr für die alten Revolutionswächter, sondern auch für die Sicherheitsinteressen der gesamten Region.
»Bisharaf«
Die Generation, die seit fast drei Monaten in Iran auf die Straße geht, hat die wirtschaftliche Ungleichheit unter dem Schah, die Revolution von 1979 und die Schrecken des Iran-Irak-Krieges nicht am eigenen Leib erfahren. Ihre Referenzpunkte sind stattdessen die beständige Auswanderung von Freund*innen und Familienmitgliedern, die Erosion der Wirtschaft, die Proteste der Jahre 2017 und 2019 und unter den politisch Aktiven auch die Ablehnung der iranischen Expansionspolitik in Syrien, im Libanon, in Jemen und im Irak. Ihre Eltern hatten sich teils willentlich, als Teil jener, die durch die islamische Revolution Nutznießer*innen eines umfangreichen Systems sozialer Absicherung und Vetternwirtschaft wurden, teils widerstrebend nach dem Scheitern der ‚Grünen Revolution‘ 2009, mit dem Regime arrangiert. Auf die Resignation folgte der Machtzuwachs der Revolutionsgarden innerhalb des politischen und ökonomischen Systems und die unverhohlene Einflussnahme des Wächterrats auf die Wahlen 2021, die zur Präsidentschaft des Hardliners Raisi führten.
Es ist ein wichtiger Verdienst der aktuellen Proteste, dass das Narrativ der Unabdingbarkeit der Islamischen Republik infrage gestellt wird. Die Inszenierung einer um Wohlergehen und Sicherheit bemühten Führung lässt sich nur schwer aufrechterhalten, wenn junge Iraner*innen täglich um ihr Leben fürchten müssen. Auch deshalb greift die internationale Berichterstattung zu kurz, wenn sie die Demonstrationen als »Kopftuchproteste« bezeichnet. Bereits am 19. September war »Nieder mit dem Diktator!« zu hören; das Bild der Protestierenden auf dem Boulevard Keshavarz, die einer Polizeikette gegenüberstehen, untertitelt mit »Die Islamische Republik gegen Iran« gehörte in den ersten Tagen zu den meistgeteilten in den sozialen Netzwerken. Die Jugendlichen, die bislang ohne detailliertes politisches Programm agieren, sprechen dem theokratischen System die Deutungshoheit über ihr Leben ab.
Das Adjektiv »bisharaf« (würde- oder ehrlos) – ein Schlüsselslogan der Proteste – stellt dabei den Begriff der Freizügigkeit und Ehrlosigkeit, mit dem die jungen Iranerinnen diskreditiert werden sollen, auf den Kopf. Es dreht den Slogan gegen die politischen und geistlichen Führer. »Bisharaf« stellt so ein ideologisches System zur Disposition, das beansprucht auf der Basis islamischer Menschenrechte errichtet worden zu sein, aber tagtäglich Gewalt gegen seine Bürger*innen ausübt. Als explizite Ablehnung der Statthalterschaft der Rechtsgelehrten, des obersten Prinzips der Islamischen Republik, ist die jetzige Ausrichtung damit deutlich radikaler als die Proteste von 2017 und 2019, und vielleicht schon revolutionär.
Anmerkungen
1 irna.ir/news/84949691/ ما-دوباره-ما-می-شویم
Thomas Pesche beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Iran und berichtete zuletzt online für die iz3w aus Teheran.