Unter der schwarz-roten Friedensfahne

WRI, IDK, GWR und der Klang der Anarchie. Ein Interview mit Wolfram Beyer

Vor 100 Jahren, 1921, wurde die War Resisters‘ International (WRI, Internationale der Kriegsgegner*innen) in den Niederlanden gegründet, ursprünglich unter dem Namen „Paco“ (Esperanto: Frieden). Diesem weltweiten Netzwerk von Antimilitarist*innen, Kriegsdienstverweiger*innen und Pazifist*innen gehören die Graswurzelrevolution, die DFG-VK, das Archiv Aktiv, das Anti-Kriegsmuseum, der Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und weitere rund 90 Organisationen in mehr als 40 Ländern an. Eine deutsche Sektion der WRI ist die Internationale der Kriegsdienstgegner*innen e.V. (IDK) mit Sitz in Berlin. Das Leben von IDK-Sprecher Wolfram Beyer (* 6.11.1954 in Berlin) ist sowohl mit der WRI als auch mit der Graswurzelrevolution verknüpft. Gerne hätte GWR-Mitherausgeber Bernd Drücke ihn live in einer Radio Graswurzelrevolution-Sendung „verhört“. Da das unter den Corona-Bedingungen momentan noch schwierig ist, hat er stattdessen ein E-Mail-Interview mit dem Politologen, Autor und Musiker geführt. Die GWR veröffentlicht eine Kurzfassung. Eine lange Version erscheint voraussichtlich im März 2022 in dem von Bernd Drücke im Unrast Verlag erscheinenden Interviewsammelband „Anarchismus Hoch 4“. (GWR-Red.)

 

Graswurzelrevolution (GWR): Auf Wikipedia gibt es ein schönes Foto von Dir. Da sitzt Du am IDK-Büchertisch, hältst gut gelaunt die Broschüre „Abschaffung des Krieges“ in die Kamera. Im Hintergrund eine schwarz-rote Anarcho-Fahne mit Peace-Zeichen und die IDK-Fahne mit zerbrochenen Gewehr [siehe Foto auf dieser Seite]. Was bedeuten (Dir) diese Symbole?

 

Wolfram Beyer: Symbole sind mir deshalb wichtig, weil sie auch Inhalte transportieren und Assoziationen erzeugen. Bei diesem Foto sind die Hinweise beabsichtigt, weil dieser IDK-Büchertisch am 2. Mai 2019 zum Gedenken an den Anarchopazifisten Gustav Landauer gemacht wurde. Die IDK hatte anlässlich dieser Veranstaltung die oben genannte Schrift aus dem Jahr 1911 von Landauer publiziert. Als Herausgeber der IDK-Schriftenreihe fand ich den klassischen Text von Rudolf Rocker „Die Waffen nieder – die Hämmer nieder“ (1919) als „Nachwort“ passend, also einen Artikel von einem bedeutenden Vertreter des Anarcho-Syndikalismus. Aus meiner Sicht gehören die Namen Landauer und Rocker zusammen. Ihre unterschiedlichen anarchistischen Schwerpunkte ergänzen sich. Das sind die kommunitären, kultursozialistischen Ansätze und die gewerkschaftliche, syndikalistische Richtung. Aber, bereits auf der Veranstaltung selbst wollte jemand diese Verbindung nicht akzeptieren. Das ist o.k. und darüber können wir diskutieren. Mit den Schriften von Landauer können unterschiedliche politische Schlussfolgerungen gezogen werden.

Die schwarz-rote Fahne steht für Anarcho-Syndikalismus und das zerbrochene Gewehr ist seit ca. 1905 ein anti-autoritäres Symbol für Antimilitarismus, Kriegsdienstverweigerung und Gewaltfreiheit. Die Schriften von Landauer und Rocker sind auch eine wichtige theoretische Grundlage für gewaltfreie Positionen im Anarchismus.

Das Peace-Zeichen ist noch nicht so alt und wurde in den 1960er Jahren von der CND, der Campaign for Nuclear Disarmament, bekannt gemacht. Bei den Ostermärschen der 1960er Jahre zuerst in England dann auch in West-Deutschland, wurde dieses Symbol populär. Seitdem steht es auch in der Pop-Kultur für Love&Peace und viele verbinden damit auch Pazifismus. In den 1960er Jahren wurde das Peace-Zeichen auch auf schwarzen Fahnen der CND getragen. Obwohl die schwarze Fahne auch ein anarchistisches Symbol ist, bevorzuge ich die schwarz-rote, erstens weil sie für Anarcho-Syndikalismus steht und zweitens, weil heute schwarze Fahnen mit unterschiedlichen Symbolen auch von nationalistischen, völkischen oder islamistischen Gruppierungen verwendet werden. Symbole können auch Verwirrung stiften.

 

GWR: Viele Pazifist*innen haben Vorurteile gegen die vermeintlich chaotischen Anarchist*innen. Was verstehst Du unter Anarchopazifismus?

 

Wolfram Beyer: Auch Begriffe können Verwirrung stiften. Deshalb hier mein Versuch der Klärung: Als Anarchist habe ich eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft als Ziel. Mit dieser Definition bin ich seit ca. 1978 verbunden, die die Zeitschrift Graswurzelrevolution im Selbstverständnis seit 1972 führt. Ich verwende und interpretiere die Begriffe Anarchie, Anarchist und anarchistisch im politisch-öffentlichen, zivilgesellschaftlichen Sinn, also nicht als eine individuelle Angelegenheit. Dabei orientiere ich mich am Zukunftsforscher Ossip K. Flechtheim, der die sozialistische Perspektive mit der sozialistischen Vision vom Absterben des Staates und einer gewaltfreien Revolution verbinden wollte. Flechtheim schrieb 1987, dass „Gewalt, Macht und Herrschaft“ Schulbeispiele „der Entmenschung des Menschen“ sind. Schon im Begriff „Staat“ steckt laut Flechtheim die Drohung mit Zwang und Gewalt, die institutionalisiert, legitimiert und legalisiert ist.

Anarchie ist ein belastetes Wort und wird umgangssprachlich meist negativ verwendet. Ich habe selber erlebt wie in den 1970er Jahren überall mit Fahndungsplakaten nach vermeintlich „anarchistischen Gewalttätern“ gesucht wurde. Die Gesuchten waren Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ (RAF), die alles andere waren, nur keine Anarchist*innen. Sie bezeichneten sich selbst auch nicht als solche. Der Name „Rote-Armee-Fraktion“ gehört in das politische Spektrum eines autoritären Staats-Sozialismus und steht meinen anarchistischen Vorstellungen konträr gegenüber.

Ärgerlich ist, dass heute zum Beispiel die Bundeszentrale für politische Bildung mit ihrem Magazin „Fluter“ die Anarchie mit Terror und Chaos gleichsetzt. In der im Sommer 2020 erschienenen Ausgabe zum Thema Terror gab es ein Aufmacher-Foto von einem Auto, das von einer Bombe zerstört wurde. Das Foto wurde in die Verbindung mit der RAF gesetzt, ohne Quellenangaben. Selbst dieses Magazin, nach ihrem Selbstverständnis der Aufklärung verpflichtet, nutzt in ihrer „politischen Bildung“ das gängige Klischee von Anarchie gleich Chaos und Terror.

Wenn wir der Wortschöpfung folgen, dann bezeichnet Anarchie einen Zustand der Abwesenheit von Herrschaft und das ist ein wichtiger Begriff in der politischen Theorie. Als Politikwissenschaftler ist mir dieser Hinweis wichtig.

Als Anarchist bin ich selbst nicht unordentlich, nicht ohne Regeln, nicht ohne Ordnung, sondern stelle die soziale Frage: Können wir in einer Gesellschaft ohne Herrschaft leben? Herrschaft ist nicht gleich Macht. Macht und Herrschaft sind zwei verschiedene Dinge. Wenn sich Machtstrukturen verfestigen, dann werden sie zur Herrschaft und dann wird dies zur Gewalt. Macht hat etwas Positives, weil sie von Gruppen und Gesellschaften getragen wird, während Herrschaft von Einzelnen oder Kleingruppen ausgeht und vor allem in Herrschaftsinstitutionen (Militär, Polizei, Bürokratie etc.) organisiert ist.

Wenn ich also das kultur-politische Spektrum der Herrschaft im Blick habe, dann folgt daraus automatisch die Kritik der Gewalt und daraus logischerweise die Formel „ohne Gewalt leben“. Mein konkretes Handeln kann mit sozialistischen, antimilitaristischen, menschenrechtlichen und bürgerrechtlichen Themen verbunden sein. Politisches Handeln in der Realität sollte immer einen Bezug zur Perspektive haben. Das kann in der Lebenspraxis, in manchen Phasen des Lebens, sehr unterschiedlich sein.

In meinem Leben habe ich selten das Wort Anarchie oder die Selbstbezeichnung „Anarchist“ verwendet. Genauso bin ich mit der Selbstbezeichnung Atheist umgegangen, nachdem ich mit 16 Jahren aus der evangelischen Kirche ausgetreten bin. Im pragmatischen Alltag geht es oft um einzelne konkrete Themen, in denen allgemeine plakative Positionierungen keine Rolle spielen. Es gibt wundervolle, sympathische Mitmenschen, die keine Anarchist*innen sind oder sich nicht als solche bezeichnen würden. Und es gibt auch Anarchist*innen, mit denen ich nicht zusammen sein möchte.

In gewaltfreien Aktionen und im Antimilitarismus gibt es punktuell fruchtbare Zusammenarbeit mit sehr unterschiedlichen Menschen. Das gefällt mir an der WRI und der IDK, in der ich seit 1978 aktiv bin. Für die Verständigung von unterschiedlichen Menschen und Gruppen ist ein gemeinsamer Konsens, wie in der WRI-Grundsatzerklärung seit 1921 formuliert wurde, hilfreich. „Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten.“

Nun gibt es ein breit gefächertes Spektrum von Leuten, die sich als Anarchist*innen bezeichnen oder verstehen. Das ist auch gut so. Wie sie ihre Positionen begründen liegt in ihrer Verantwortung.

Weit verbreitet besteht die Auffassung „Gesellschaft sei gleich Staat“ und ohne Staat ginge gar nichts. Dem widerspreche ich und vertrete die Auffassung, dass eine Gesellschaft ohne Staat möglich ist, insbesondere eine sozialistische Gesellschaft, die nur ohne Staat sein kann. In diesem Sinn ist z. B. Militär niemals eine Option für eine Gesellschaft ohne Staat.

 

GWR: Das klingt schön revolutionär. Was ist Dein Revolutionsverständnis?

 

Wolfram Beyer: Mein Bezug ist auch hier die Verortung des Begriffs, wie er im Wort Graswurzelrevolution zu finden ist. Es geht dabei nicht darum, Revolution zu machen oder um die eine Revolution, die als der Schlüssel zur Lösung aller Dinge gesehen wird. Die griechische Sage über den Gordischen Knoten, den Alexander der Große einfach mit dem Schwert durchtrennte und damit weitere Herrschaft erlangte, steht auch heute für eine Lösung mit der Gewalt eines Superhelden. Viele Menschen sind diesem Bild verhaftet. Perspektivwechsel für andere Bilder sind wichtig.

Ich will dagegen zum revolutionären Verhalten anregen, also Unerhörtes zu denken, eine humane, soziale und ökologische Gesellschaft vorzudenken und Handlungen entsprechend zu praktizieren.

Den Erfolg einer Revolution kann man allerdings erst im Nachhinein erkennen, wenn etwas Undenkbares und Radikales zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Auch geht es darum, Revolution im kleinen Radius von vielen gesellschaftlichen Bereichen umzusetzen.

Damit sehen wir den Unterschied zum politischen Bereich. Revolution, in meinem Sinn, ist nicht die Vorstellung, die Herrschaft an den politischen Schalthebeln auszuwechseln. Revolution hat bei mir immer die Vorstellung einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Dimensionen, der Sozialen Revolution.

In der Französischen Revolution (1789) wurden die Menschenrechte zum Maßstab, zur gesellschaftlichen Verfassungsrealität. Dass die Menschen alle gleich sind und Rechte haben, war vorher in der Ständegesellschaft undenkbar. Vorher berief man sich auf die christliche Nächstenliebe (u.a. etc.), um gegen Ungerechtigkeiten anzugehen.

Die Menschenrechte wurden dann die Grundlage für politische Systeme und im Vergleich zu vorher war das wahrlich revolutionär. Allerdings muss die Ausgestaltung immer neu und aktuell gedacht werden und manchmal von neuem begonnen werden.

Schon in der Französischen Revolution fehlte die grundlegende (radikale) Umgestaltung des ökonomischen Bereichs, denn die Feudalherrschaft wurde nicht grundsätzlich angetastet, sondern verfassungsrechtlich umgedeutet und legitimiert. Eine Ausnahme waren die Enteignungen des Besitzes der in der französischen Gesellschaft mächtigen Kirche. Menschenrechte mussten gegen kirchliche Herrschaft erkämpft werden. Die Ansätze zum revolutionären Handeln leben immer im Gegebenen, in der jeweiligen vorfindbaren Realität. Sie fallen nicht vom Himmel.

 

GWR: Dein 2012 erschienenes Buch „Pazifismus und Antimilitarismus“ ist eine gelungene Einführung in die antimilitaristische, libertär-pazifistische Ideengeschichte. Es gibt viele Linke und Anarchist*innen, die den Begriff Pazifismus ablehnen. Warum verwendest du das Wort Pazifismus? Was verstehst Du unter Anarchopazifismus?

 

Damals wollte der Schmetterling-Verlag nur eine Einführung in den Antimilitarismus und ich konnte den Verlag überzeugen, dass es theoriehistorisch sinnvoll ist, beide Begriffe – Pazifismus und Antimilitarismus – darzustellen und kontrovers zu diskutieren. Ich selbst verwende in Gesprächen für mich die Bezeichnung Pazifist und Kriegsdienstgegner. Diese Worte sind weniger negativ belastet und führten oft zu freundlichen, offenen Gesprächen. Als Pazifist bin ich auch Antimilitarist, weil ich punktuell gegen Erscheinungsformen des Militarismus engagiert bin. Im anglo-amerikanischen Sprachraum ist ein Pazifist jemand, der eher im Spektrum der Graswurzelrevolution aktiv ist. Manchmal sage ich auch, dass ich ein gewaltfreier Pazifist bin, denn es gibt Pazifist*innen, die Militär zur Konfliktregulierung wünschen, z.B. als „Blauhelmsoldaten“ der UNO in bestimmten Krisenregionen. Diese Friedensfreunde bezeichne ich als Völkerrechtspazifisten, die nicht grundsätzlich gegen Militär sind und durchaus für die Option Krieg eintreten. Am Völkerrecht sind auch viele Antimilitarist*innen orientiert, wenn sie (nur) gegen einen völkerrechtswidrigen Krieg argumentieren. Im Völkerrecht ist auch das Kriegsführungsrecht der Staaten unangetastet. Antimilitarist*innen, die damals an der Politik des „realen Sozialismus“ der DDR orientiert waren, meinten auch: „Der Frieden muss bewaffnet sein“. Hier sehen wir ein ähnliches Politikverständnis zu den Pazifist*innen, die die Institution Militär nicht antasten wollen, sondern nur den Krieg durch Völkerverständigung und staatliche Friedenssicherung verhindern wollten.

Meine pazifistische Begründung kommt aus dem englischen Wortverständnis des aktiven Pazifismus, wie er vor ca. 100 Jahren von den Gründungsmitgliedern der War Resisters’ International (WRI) formuliert wurde. Danach ist Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg. Frieden in der Gesellschaft bedeutet auch die Verwirklichung der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit. Gewalt besteht als personale (direkte) und strukturelle (indirekte) Gewalt und beide Formen zerstören oder vermindern Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten. Nach diesem pazifistischen Verständnis ist Frieden die Überwindung, Minimierung und Abwesenheit von Gewalt. Es kommt darauf an, gewaltfreie Methoden der Konfliktlösung zu entwickeln und anzuwenden. In diesem Sinn ist der Pazifismus immer aktiv bzw. handlungsorientiert.

 

GWR: Apropos Pazifismus. Du hast in diesem Jahr, 2021, die Broschüre „Widerstand gegen den Krieg. 100 Jahre War Resisters‘ International“ im IDK-Verlag herausgegeben. Wie schätzt Du die Situation der antimilitaristischen Bewegung weltweit und der WRI heute ein? Welche Perspektiven siehst Du?

 

Wolfram Beyer: Friedenssichernde Maßnahmen sind natürlich besser als Krieg. Die Solidaritätsarbeit für die Kriegsdienstverweiger*innen in vielen Ländern ist notwendig, weil sie einerseits für die Einzelnen ermutigend ist, zum anderen sich gut eignet, an individuellen Beispielen unsere Anti-Kriegs-Arbeit und menschenrechtlichen Aspekte hervorzuheben. Unsere Stärke liegt in der Prävention vor Kriegsausbruch, also immer wieder die Sinnlosigkeit von Militär klar zu machen, zu delegitimieren. Im Rahmen der Klima-Katastrophe ist Antimilitarismus auch ein ökologisches Thema oder sollte zumindest zusammen gedacht werden. Das müssen wir stärker fokussieren: Klimakiller-Krieg! Ich meine dabei nicht nur die Kritik am Krieg, sondern grundsätzlich das Militär mit dem militärisch-industriellen Komplex.

 

GWR: Ich weiß, dass Gernot Jochheim Dein Denken mitgeprägt hat. Im Mai 2021 hast Du unter dem Titel „Antimilitarismus und Gewaltfreiheit“ eine populärwissenschaftliche, überarbeitete Neufassung von Jochheims Dissertation herausgegeben. Kannst Du dazu etwas sagen?

 

Wolfram Beyer: 2020 redigierte ich die Dissertation von Jochheim aus dem Jahr 1977 zur Sozialgeschichte des Antimilitarismus und der Gewaltfreiheit für eine populärwissenschaftliche Neuauflage im Verlag Graswurzelrevolution.

1978 veranstaltete Jochheim ein politikwissenschaftliches Seminar am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Da trafen sich damals viele, die im Spektrum der Graswurzelrevolution bzw. der Gruppe „Gewaltfreie Aktion“ aktiv waren. Wir waren auch in den Seminaren von Theodor Ebert, der durch sein Buch Gewaltfreier Aufstand (1968) bekannt war.

Was mich an Jochheims Buch begeisterte, war die systematische Suche nach den sozialen Ursprüngen und den Traditionen der Theoriegeschichte der Gewaltfreiheit. Wie war die historische Vermittlung? 1977 war das eine neue wissenschaftliche Fragestellung. Bisher galt, dass die Doktrin der Gewaltfreiheit im Wesentlichen durch Gandhi geprägt und außerhalb Indiens dann rezipiert worden sei. Auch unter radikalen Pazifist*innen, die jahrzehntelang in der Friedensbewegung gestanden haben, finden sich auffallend eindeutig gefestigte Aussagen über die Rolle Gandhis für die europäische antimilitaristisch-pazifistische Bewegung. Dann leuchtete mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King auf. Ich war an sozialistischen, anarchistischen und revolutionären Positionen interessiert und nicht so sehr an den Persönlichkeiten Gandhi und King.

Was mich damals packte war eine Aussage von Jochheim, dass Gewaltfreiheit genuin sozialistisch sei. So ist nämlich zu konstatieren, dass in der europäischen sozialistischen Bewegung etwa ab ca. 1890 Organisationen in der Arbeiterbewegung existierten, die auf der Grundlage einer Kritik von revolutionärer Gewalt Modelle eines aktiven gewaltlosen Klassenkampfes ausgebildet haben. Mitte der 1970er Jahre kannte ich nur Karl Liebknecht, wenn es um Antimilitarismus ging. Und: Wen meint eigentlich Lenin in seiner Schrift „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ (1920)? Die Antworten stehen in Jochheims Buch! Mit seinem Buch lernte ich die anarchistische Position von Ferdinand Domela Nieuwenhuis kennen, den Liebknecht in seiner bekannten Schrift „Militarismus und Antimilitarismus“ (1907) kritisierte. Und ich lernte die Rätekommunist*innen der Niederlande (Gorter, Pannekoek, Roland Holst) kennen, denen Lenin Kinderkrankheiten unterstellte. Hervorzuheben sind die Entwicklungen der Anarcho-Syndikalist*innen, deren organisatorische Zusammenhänge beschrieben werden. In diesem historischen Kontext stehen auch Informationen zur Gründung des Internationalen Versöhnungsbundes (IFOR), der WRI und der Tols-tojaner*innen. Das politische Zentrum für Europa waren damals die Niederlande.

Jochheims Buch sollte als Nachschlagewerk bei allen stehen, die an der Geschichte des Anarchismus, Anarcho-Syndikalismus und Rätekommunismus interessiert sind. Es ist ein Buch gegen das Vergessen. Er schreibt in seiner Einleitung: „Die schließlich siegende Fraktion in der sich revolutionär verstehenden Arbeiterbewegung hat den Anspruch der gewaltlosen Sozialisten diffamiert und teilweise skrupellos unterdrückt, so dass er, einmal verschüttet, von der herrschenden sozialistischen Geschichtsschreibung nicht einmal verdrängt zu werden braucht.“

 

GWR: Du hast 2017 über die ersten 70 Jahre der IDK-Geschichte das Buch „Internationale der Kriegsdienst-gegner*innen“ in der Edition AV herausgegeben. Kannst Du für die GWR-Leser*innen kurz die IDK-Geschichte skizzieren? Was unterscheidet die IDK von der DFG-VK?

 

Wolfram Beyer: Die Unterschiede sind zu finden in der Schwerpunktsetzung der pazifistisch-antimilitaristischen Arbeit und in der jeweiligen Vereinsgeschichte. Die IdK war 1947 die Nachfolgeorganisation des Bundes der Kriegsdienstgegner (BdK, 1919–1933), der aktiv u.a. mit Helene Stöcker an der WRI-Gründung beteiligt war. Die Kriegsdienstverweigerung, die Anti-Wehrpflicht- und Anti-Dienstpflicht-Arbeit waren Schwerpunkte, die mit der IdK bis heute eine Kontinuität haben. Während der Phase der WRI-Gründung 1921 war der BdK auch beteiligt bei der Gründung des Internationalen Anti-Militaristischen Büros gegen Krieg und Reaktion (IAMB), bei dem auch die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) mit Fritz Kater dabei war. Schon damals gab es aktive Verbindungen zur links-sozialistischen und anarcho-syndikalistischen Arbeiter*innenbewegung. 1947 im Umfeld der Hamburger IdK können wir diese historische Kontinuität auch mit der libertären „Kulturföderation freier Sozialisten und Antimilitaristen“ sehen. Gründungsmitglied und Aktivist der IdK war damals der Anarchist Theodor Michaltscheff.

In den 1960er Jahren, im Kalten Krieg, vollzog sich ein Wandel in der IdK in der Hinsicht, dass eine Mehrheit sich stärker gegen den herrschenden westdeutschen Anti-Kommunismus bildete und damit die neutrale Haltung zwischen den Machtblöcken (Ost-West-Konflikt) verließ. Ein Beispiel ist die IdK-Vorsitzende Renate Riemeck, die 1961 für die Deutsche Friedensunion (DFU) kandidierte. Sie musste auf Druck der IdK, weil ein IdK-Grundsatz die Parteineutralität ist, ihre IdK-Ämter niederlegen. Dennoch wurde offensichtlich, dass sich die IdK-Mehrheitsverhältnisse geändert hatten und Positionen der DFU und später der DKP sich verstärkten.

Ein anderer wichtiger Zeitgeist war der Wunsch, einen „politischen Pazifismus“ mit einer politischen Massenorganisation zu schaffen. 1968 fusionierte die Mehrheit der IdK-Gruppen mit der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) zur DFG-IdK und 1974 folgte der Zusammenschluss mit dem Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK) zur Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK).

Das Weiterbestehen der IDK hatte mehrere Gründe. 1968 war die IDK in West-Berlin eine aktive Organisation in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) und im Republikanischen Club. DDR-Politik spielte in dem eher linksradikalen oder links-sozialistischen Milieu der Student*innenrevolte in West-Berlin keine Rolle. 1969 war die IDK ein Teil der Kampagne für Deserteure, die in West-Berlin ohne Wehrpflicht leben wollten. Damit war klar, dass Kriegsdienste verweigern umfassend gedacht wurde. Deshalb unterstützte die IDK später die Totalen Kriegsdienstverweigerer. 1973 mit der ersten Graswurzelrevolution-Redaktion in West-Berlin entstanden Verbindungen der IDK zur Gewaltfreien Aktion, zu gewaltfreien Trainings und den vielen GWR-Themen, insbesondere zu Ökologie, Anti-AKW-Bewegung etc. 1970 wurde die IDK wieder eine WRI-Sektion, weil die alte IdK ihren Vereinsstatus mit der oben genannten Fusion aufgab. Protest der DFG-IdK zur IDK-Vereinsgründung blieb aus, weil die DFG-IdK der DDR-Auffassung der Drei-Staaten-Theorie verbunden war. Derzufolge war West-Berlin eine selbstständige politische Einheit und gehörte nicht zur BRD. Das war nicht die Auffassung der IDK, weil es auch in Westdeutschland (BRD) und der DDR IDK-Mitglieder gab. Die IDK war immer transnational orientiert und hat keinen Respekt vor Staatsgrenzen.

Für die IDK ist die WRI eine wichtige internationale Verortung und im Unterschied – historisch betrachtet – kam mit der DFG eine bürgerlich-pazifistische Tradition (International Peace Bureau, IPB) auf die politische Bühne, die nicht in der Tradition der Kriegsdienstverweigerung und der gewaltfreien direkten Aktion stand. Die Völkerrecht-Pazifist*innen (DFG, IPB, DFU, Pahl-Rugenstein-Verlag) vertraten die politische Forderung nach der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR. Dieses Politikverständnis war an Staatspolitik orientiert. Also können wir an diesem Punkt zwischen IDK und DFG-VK einen Unterschied ausmachen.

Heute sind die Unterschiede marginal und es gibt gute Kontakte zur DFG-VK, der Mainzer DFG-VK-Gruppe und den vielen Freund*innen der Graswurzelrevolution in der DFG-VK.

 

GWR: Zur 70. Geburtstagsfeier der IDK e.V. durfte ich 2017 als damaliger GWR-Koordinationsredakteur im Anti-Kriegs-Museum Berlin einen Redebeitrag halten. Wenn alles klappt und die Corona-Pandemie bis dahin ihre Gefährlichkeit verloren hat, wird die Graswurzelrevolution im Sommer 2022 voraussichtlich ihren 50. Geburtstag feiern. Was wirst Du dazu sagen?

 

Wolfram Beyer: Jubiläen eignen sich dazu, um innezuhalten, die Geschichte zu reflektieren, die Gegenwart einzuschätzen und die Zukunft der GWR zu planen. Die Zeitschrift und der Buchverlag Graswurzelrevolution stehen im optimistischen Zenit. Mein Wunsch wäre, dass wir die Transformation an die junge Generation hinkriegen. Wird das klappen? Darüber sollten wir nachdenken und geeignete Maßnahmen treffen. Auf dem Weg dorthin wären auch erweiterte organisatorische Strukturen hilfreich.

Und, um auf die Symbole zurückzukommen, ein neuer GWR-Anstecker wäre zum Jubiläum schön und würde Verbindungen schaffen. Gerne mache ich dazu Musik, aber das ist ein weiteres Kapitel.

 

Interview: Bernd Drücke

 

Dr. Bernd Drücke war 22 Jahre Koordinationsredakteur der Graswurzelrevolution und arbeitet seit Januar 2021 im Leitungsteam des Archivs für alternatives Schrifttum (afas) Duisburg. www.afas-archiv.de

 

Interview aus: Graswurzelrevolution Nr. 460, Sommer 2021, https://www.graswurzel.net/gwr/2021/06/unter-der-schwarz-roten-friedensfahne/