»Neue Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte«

Interview mit Léonora Miano über ihren Roman »Rouge Impératrice«

Die Schriftstellerin Léonora Miano wurde 1973 in Douala, Kamerun geboren. 1991 zog sie nach Frankreich und veröffentlichte 2005 ihren ersten Roman »L’intérieur de la nuit«, der in einem fiktiven afrikanischen Land spielt. Ihre Erzählungen drehen sich häufig um Afrika, das gilt auch für »Rouge Impératrice« (dt.: Rote Kaiserin). Für ihren zehnten Roman wurde Miano für den französischen Literaturpreis Prix Goncourt nominiert. Ihr »Bedürfnis nach Afrika«, wie sie es nennt, führte sie nach Togo, wo sie nun seit einigen Monaten lebt.

iz3w: »Rouge Impératrice« spielt im Jahr 2124. Der afrikanische Kontinent ist vereinigt. Wünschen Sie sich das für Afrika?

Léonora Miano: Ja, natürlich. Das ist aber auch etwas, was ich Europa wünsche. Föderalistische Lösungen sind die besten, weil sie uns dazu zwingen, die Bedürfnisse der Anderen zu berücksichtigen. Im Fall von Afrika denke ich, dass die aus der europäischen Kolonisierung entstandenen Staaten ein Verständnis von Nation durchgesetzt haben, das nicht zum subsaharischen Verständnis passt. Der Föderalismus, selbst wenn er nicht ganz Afrika, jedoch größere Regionen wie beispielsweise Ostafrika umfassen würde, ergäbe für uns auf jeden Fall und in allen Bereichen mehr Sinn.

Warum hat dieses vereinigte Afrika in Ihrem Roman mit »Katiopa« einen neuen Namen bekommen?

Weil »Afrika« eine koloniale Bezeichnung ist. Diesen Namen haben uns die Europäer*innen gegeben, er entspricht einem europäischen Projekt, das nicht unseres ist. Seinen Namen selbst wählen, heißt sein Schicksal bestimmen. Im Laufe der Dekolonisierung und mit der Schaffung neuer Staaten haben sich manche dafür entschieden, die kolonialen Namen abzulegen. Dass Thomas Sankara entschieden hat, dass sein Land Burkina Faso und nicht mehr Ober-Volta hieß, ergab Sinn: Während Ober-Volta eine reine geografische Bezeichnung war, bedeutet Burkina Faso »das Land des aufrichtigen Menschen«. Es war eine Möglichkeit, einen Kurs für sich selbst zu bestimmen. »Katiopa« ist der Name für unseren Kontinent, der im kongolesischen Raum bereits vor der Kolonialisierung verwendet wurde. Die Europäer*innen wissen das nicht, aber »Afrika« hatte schon vor der Kolonisierung einen Namen für die Menschen, die hier gewohnt haben.

Ist der Roman ein Versuch, Afrika anders als nur als einen kolonisierten Kontinent zu denken?

Es ist sein Ziel. Er beginnt mit einem Zitat der afro-amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison: »As you enter positions of trust and power, dream a little before you think.« »Rouge Impératrice« ist der Traum, den wir haben, bevor wir an unsere Zukunft denken. Da gerade viel über Panafrikanismus – insbesondere innerhalb der afrikanischen Jugend – gesprochen wird, will ich mit dem Roman Denkanstöße geben: Wie könnte unsere Zukunft besser werden? Ist Panafrikanismus machbar?

Durch eine lebendige Geschichte kann man besser sehen, wie man vorgehen könnte. Der Roman erschüttert aber sicher auch: Manche bemerken vielleicht, dass Teile ihrer Länder in der von mir beschriebenen Zukunft verschwunden sind. Die Küstenerosion, über die sonst wenig gesprochen wird, beunruhigt mich. Ganze Dörfer verschwinden derzeit in fast allen afrikanischen Ländern an der Atlantikküste. Wenn nichts dagegen getan wird, werden innerhalb der nächsten fünfzig Jahre manche Orte einfach nicht mehr existieren. Der Roman eröffnet einen Raum, über all das nachzudenken.

Im Roman stehen sich zwei Anschauungen gegenüber: Einerseits gibt es die Verfechter*innen einer rassischen Identität und andererseits die Befürworter*innen der Vereinigung von Menschen mit Gemeinsamkeiten und gemeinsamen Interessen. Wieso diese Auseinandersetzung?

Ab dem 16. Jahrhundert und den europäischen Eroberungen wurden wir im subsaharischen Afrika rassifiziert – das ist unsere Tragödie. Es war nicht unsere eigene Wahrnehmung, aber wir sind für die ganze Welt »schwarz« geworden, was bis heute Folgen hat. Weil wir schwarz waren, wurden wir auf eine Art behandelt, die psychische Verletzungen hinterlassen hat. Diese können nicht so einfach verarbeitet werden.

Manche sind zur Überzeugung gelangt, dass sie sich vor jenen schützen müssen, die die Apartheid und Rassentrennung durchgesetzt haben und dafür nie wirklich um Entschuldigung gebeten haben oder uns noch immer als minderwertig behandeln. Wenn man eine solche Geschichte hat, gibt man der Verlockung leicht nach, Menschen zu essentialisieren. Igazi, der Verteidigungs- und Innenminister im Roman, kommt zum Beispiel aus Südafrika, was man daran erkennen kann, dass er Zulu spricht. Er verweist auf das »Project Coast«, ein Projekt zur Vernichtung der schwarzen Bevölkerung, das es in Südafrika tatsächlich gegeben hat. In dem Projekt wurde unter anderem an Krankheitserregern geforscht, die nur für Schwarze tödlich sein sollten. Die Erinnerungen daran können zur absoluten Unfähigkeit führen, wieder auf die Anderen zu zugehen. Diese Geschichte muss verarbeitet werden. Denn wenn Menschen Angst haben, ist der Anfangsreflex, sich gegenseitig abzulehnen – das sieht man derzeit am Aufstieg der Rechtsextremen in Europa und weltweit.

Sie nehmen eine rechte Verschwörungstheorie sehr wörtlich: Im Roman wird die Regierung von Katiopa mit sogenannten Katastrophenopfern konfrontiert, nämlich Französinnen und Franzosen, die nach Katiopa fliehen, weil Frankreich von muslimischen und nicht-weißen Einwanderer*innen bevölkert wurde – ganz so, wie in der heute kursierenden Verschwörungstheorie vom »großen Austausch« befürchtet.

Ich bin französische Bürgerin und mir ist dieses Land aus vielen Gründen wichtig. Schon die alte extreme Rechte war verrückt, die Neue ist eine absolute Katastrophe. Ich musste mich mit ihr auseinandersetzen, konnte das aber nur auf eine verzerrte Art, sonst hätte es mich deprimiert. Wir dürfen nicht vergessen, dass sich der Attentäter von Christchurch auf die Theorie des »großen Austauschs« bezogen hat. Auch wenn sie laut ihrem Theoretiker Renaud Camus nicht bis zum Mord führen soll, kann diese Theorie dennoch solche Folgen haben. Diese Theorie ist zudem eine sehr betrügerische Darstellung der Welt, die nicht thematisiert, dass sich Französinnen und Franzosen ebenfalls bewegen. Es gibt viele von ihnen in Afrika, die dort gut leben und sich überhaupt nicht assimilieren.

Nachdem Westeuropa die Welt erobert und besetzt hat, kommt nun die Welt nach Westeuropa. Und jetzt ist Europa nicht mehr damit einverstanden und nimmt nicht wahr, dass es selbst die Realitäten dieser Welt verändert hat. Dass die Menschen Westeuropa immer noch als den Ort sehen, an dem man am besten leben kann, ist im Endeffekt ein Erfolg von Europa auf der epistemologischen Ebene, die nie angesprochen wird. Man hat die ganze Welt träumen lassen und nun kommen die Träumenden, die man erschaffen hat. Heute kann man sie nicht mit der Begründung abweisen, dass es keine Arbeit für sie gäbe. Umso mehr, als man weiter in ihren Ländern Macht haben und sich ihre Ressourcen aneignen will.

Die geopolitischen Aspekte des Romans beziehen sich hauptsächlich auf das Problem der Katastrophenopfer, die nach Katiopa fliehen oder deren Vorfahren geflohen sind. Auch wenn sie sehr wenige sind und als harmlos dargestellt werden, verunsichern sie die Menschen in Katiopa. Was bedeutet diese Beunruhigung?

»Rouge Impératrice« ist keine Realpolitik, sondern verarbeitet symbolische Aspekte. Die Auseinandersetzung um die Katastrophenopfer ist für »Katiopa« zentral, weil es die Beziehung zwischen ehemaligen Kolonisatoren und ehemaligen Kolonisierten hinterfragt. Der afrikanische Einigungsprozess im Buch war kein leichter und die Anwesenheit von Angehörigen der ehemaligen Kolonialmacht verkompliziert die Frage nach der Einheit noch zusätzlich. Wird die Basis der Beziehung weiter die Bitterkeit angesichts der Vergangenheit sein, die uns verbindet? Oder können wir neue Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte schreiben?

Bei der Frage nach den Katastrophenopfern geht es eigentlich um die Fähigkeit, die Präsenz der Anderen in sich selbst zu befrieden. Wenn man in Afrika zur Welt kommt, hat man in seiner Geschichte und in seinem Sein immer einen Teil, der aus der Beziehung mit Europa kommt. Man kann ihn nicht wegwischen, ohne sich selbst zu verstümmeln. Erst wenn wir uns damit auseinandersetzen, können wir eine wirkliche Geschwisterlichkeit schaffen. Das wünsche ich mir und halte es für sinnvoll. Auch wenn die Begegnung der Völker auf einer schlechten Basis stattfand, auch wenn heute noch eine Asymmetrie in den Beziehungen herrscht, können wir das korrigieren und uns für eine bessere Zukunft für alle entscheiden.

Der Roman erzählt die glückliche Liebesgeschichte zweier schwarzer Protagonist*innen, die circa 45 Jahre alt sind. Ist das subversiv?

Die Protagonist*innen sind so alt wie ich, man muss sich ja auch selbst bedienen. Auch wenn ich nicht mehr ganz jung bin, hoffe ich doch, noch eine Chance auf eine glückliche Liebe zu haben. Der Roman ist eine Möglichkeit, jene Märchen umzustürzen, die nur die Liebe von sehr jungen Charakteren darstellen. Wir haben in jedem Alter ein Recht auf Liebe.

Nur sehr selten verkörpert Afrika sowohl die Stärke als auch die Liebe. Wie überall auf der Welt ist die Liebe aber auch hier das Wichtigste im Leben. Und ich wollte, dass sie ausnahmsweise nicht funktionsgestört ist. Afrikanische Schriftsteller*innen erfinden wenige Liebespaare. Sie schreiben zwar über Sex, aber mehr über Prostituierte denn über die fröhliche Sexualität von Menschen, die sich lieben.

Als ich den Roman zu schreiben begann, stellte ich mir ihn als meine ideale afrikanische Fernsehserie vor, also als eine Liebesgeschichte mit Rivalitäten und spannenden Entwicklungen. »Rouge Impératrice« ist eine politische Erzählung mit Menschen, die ein Herz und ein Intimleben haben.

 

Das Interview führte und übersetzte Adèle Cailleteau (iz3w).

Eine längere französischsprachige Fassung des Interviews steht auf www.iz3w.org.

 

 

Rouge Impératrice

Léonora Mianos neuer Roman Rouge Impératrice ist eine politische Utopie. Dennoch fängt er mit einer Liebesgeschichte an: Mann und Frau treffen aufeinander und verlieben sich auf den ersten Blick. Ilunga ist aber nicht irgendein Mann: Er ist einer, wie ihn die Schriftstellerin Léonora Miano nach eigener Aussage noch nicht getroffen hat – er lügt nicht, ist hübsch und hat seine Ziele im Leben erreicht. Und seine Ziele waren groß: Den afrikanischen Kontinent unter dem Namen »Katiopa« zu einen und zu führen.

»Rouge Impératrice« spielt im Jahr 2124, Katiopa ist seit kurzem vereinigt, während Frankreich – im Roman heißt das Land Fulasi – kaum wieder zu erkennen ist. Im Laufe des Lesens versteht man, dass Miano auf die derzeit populäre rechtsextreme Verschwörungstheorie des »großen Austauschs« (Grand remplacement) anspielt: Nicht-weiße und darunter viele muslimische Zuwanderer*innen haben die weiße Bevölkerung von Fulasi »ersetzt«. Daher sind manche Fulasi nach Katiopa geflohen, um wie früher ein »christliches« Leben führen zu können.

Diese »Katastrophenopfer« (Sinistrés) und ihre Nachkommen sind eine Minderheit im kürzlich geeinten Kontinent, die sich nicht integrieren will und ein zentrales Problem für die Politik darstellt. Da fängt die politische Utopie an: Wie soll Katiopa mit den Katastrophenopfern umgehen? Diese Frage führt zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Regierung. Regierungschef Ilunga will diese Gruppen abschieben, um die neue Einheit von Katiopa nicht zu gefährden. Boya, die Frau, in die er sich verliebt, plädiert aber dafür, ihnen eine Chance zu geben, gemäß der Devise »Katiopa, du liebst es oder du verlässt es«. Dies ist eine humorvolle Anspielung auf die Formulierung von konservativen französischen Politikern, die heute Migrant*innen entgegenhalten: »La France, tu l’aimes ou tu la quittes«. Wird Boyas Position einen Einfluss auf Ilunga haben?

Für die Verfechter*innen einer rassischen Identität von Katiopa stellt die »rote Frau«, nach der das Buch benannt ist, eine Gefahr für den jungen Kontinent dar: Die Liebe zwischen Ilunga und Boya wird zur Staatsaffäre. Die Liebesgeschichte der zwei erblühten schwarzen Protagonist*innen verbindet sich mit einer geopolitischen Utopie, erotische Szenen und politische Sitzungen wechseln sich ab.

Léonora Miano begann an »Rouge Impératrice« zu schreiben, nachdem sie in Togo einen Schreibworkshop für Jugendliche zum Thema der Befreiung von Afrika gegeben hatte. Der Roman beinhaltet Elemente, die in den dort produzierten Darstellungen eines zukünftigen Afrika wiederholt angesprochen wurden – Panafrikanismus, aber auch Spiritualität. Die Anführer*innen von Katiopa sowie beide Hauptcharaktere der Geschichte schaffen ein inspirierendes Gleichgewicht zwischen Rationalität – Boya lehrt an der Universität – und Spiritualität. Insbesondere Ilunga und Boya pflegen Verbindungen mit ihren verstorbenen Vorfahren und reisen zwischen den Welten, auch zu Regierungszwecken.

Der Roman stellt Katiopa als einen majestätischen Kontinent dar und öffnet uns die Türen des Regierungspalasts und zu den geheimen Abläufen der Macht. Durch die ironische Umkehrung, dass Nationalismus und das Schicksal von Minderheiten im panafrikanischen Kontext dargestellt werden, stellt diese Social-Science-Fiction mit viel Feingefühl zeitgenössische Fragen – die Beziehungen zwischen ehemaligen Kolonisatoren und Kolonisierten, die Klimaveränderung oder wie mit Minderheiten umgegangen wird. Der Roman beleuchtet spannende Aspekte des afrikanischen Kontinents, was durch die Benutzung von Wörtern aus unterschiedlichen afrikanischen Sprachen noch verstärkt wird. Trotz seiner Länge macht das Lesen vom Anfang bis zum Ende Spaß.

Léonora Miano hat bereits bekannt gegeben, dass ihr politisches und poetisches Zeitbild eine Fortsetzung bekommen wird. Der Roman ist bis jetzt nur auf Französisch erschienen, an einer deutschen Übersetzung wird hoffentlich gearbeitet.

Adèle Cailleteau

Léonora Miano: Rouge Impératrice. Grasset, Paris 2019. 608 Seiten, 24 Euro.