Fünfzehn Tage, die die Welt erschütterten

Die Januarkämpfe 1919 und die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts

in (14.01.2019)

Die Novemberrevolution von 1918 war im Grunde keine. Erst im Zusammenhang mit der weitergehenden, zweiten Revolution Anfang 1919 und der Kontextualisierung der deutschen Ereignisse in einem globalen Revolutionszyklus zwischen 1916 und 1923 erscheint sie als solche.

Friedrich Ebert wollte sie nicht. Alle zentralen Errungenschaften – allgemeines Wahlrecht, Frauenwahlrecht usw. usf. – waren vom Kaiserreich, das politisch massiv geschwächt war, bereits selbst vorgeschlagen worden. Diejenigen Maßnahmen, die 1918 möglich, nötig und populär gewesen wären, nämlich die »Aufteilung des Großgrundbesitzes; revolutionäre Sozialisierung der Industrie; Personalreform der Verwaltung und der Justiz«, wurden als »Möglichkeiten […] ausgelassen«, so der Schriftsteller Kurt Tucholsky 1928 (GW 1, 30). Schon 1919 hatte er geahnt:

»Wenn Revolution nur Zusammenbruch bedeutet, dann war es eine; aber man darf nicht erwarten, daß die Trümmer anders aussehen als das alte Gebäude. Wir haben Mißerfolg gehabt und Hunger, und die Verantwortlichen sind davongelaufen. Und da stand das Volk: die alten Fahnen hatten sie ihm heruntergerissen, aber es hatte keine neue […]“ (GW 2, 52).

Allerdings soll Ebert, als SPD-Abgeordneter, bereits am 7. November zum Kanzler Max von Baden gegen die Rätebewegung gerichtet gesagt haben: »Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich; ich aber will sie nicht, ja, ich hasse sie wie die Sünde« (zit. nach Haffner 2008, 76). Zwei Tage später dankte der Kaiser tatsächlich ab, floh nach Holland und Ebert wurde, während zum selben Zeitpunkt die SPD einen Generalstreik initiierte, durch von Baden zum Reichskanzler ernannt. Noch am selben Tag erklärte dann zuerst Eberts Scheidemann die Republik, und in etwa zeitgleich tat es Karl Liebknecht – nun als sozialistische. Mit dieser doppelten Erklärung einerseits und der Existenz bewaffneter Arbeiter- und Soldatenräte sowie einem provisorischen Rat der Volksbeauftragten (einer Zwangsehe bestehend aus SPD und ihrer marxistisch-kriegsgegnerischen Abspaltung USPD) andererseits bestand nun ein Machtgleichgewicht. Es ging um unterschiedliche Wege hin zu den Beschlüssen des Reichsrätekongresses, die eine Sozialisierung von kriegswichtigen Industriezweigen sowie die demokratische Kontrolle der Armee vorsahen (vgl. Schütrumpf u.a. in diesem Heft).

Nach den blutigen Weihnachtskämpfen und nachdem die SPD das Bündnis mit der USPD gekündigt hatte, wurde am 1. Januar 1919 die KPD gegründet. Die Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD) durch Ebert am 4. Januar wurde von der revolutionären Bewegung zu Recht als nächster Schritt in einer Konterrevolution interpretiert und hatte eine Protestdemonstration des Berliner USPD-Vorstands und der Revolutionären Obleute zur Folge. Schon am 2. Januar hatte Tucholsky in der „Weltbühne“ gewarnt – mit einem Gedicht, in dem es heißt: „Wofür, mein Gott, hat die Freiheit geblutet?/ Wofür wurden Männer und Mädchen geknutet?/ Spartakus! Deutsche! So öffnet die Augen!/ Sie warten, euch Blut aus den Adern zu saugen –/ Der Feind steht rechts!“ (GW2: 8). Dies war der Beginn der »zweiten Revolution«. Jedoch, wie der Publizist Sebastian Haffner (2008, 155) ein halbes Jahrhundert später betonte:

»Das Schicksal der deutschen Revolution entschied sich in Berlin in der Woche vom 5. bis 12. Januar 1919. Diese Woche ist als ›Spartakuswoche‹ in die Geschichte eingegangen – zu Unrecht. Was damals vor sich ging, war kein kommunistischer Aufstand gegen die sozialdemokratische Regierung. Es war ein Versuch der Berliner Arbeitermassen, das am 9. und 10. November Errungene und inzwischen schon halb Verlorene noch einmal zu erringen, und zwar auf dieselbe Weise wie damals. Der 5. Januar war ein zweiter 9. November«

Aus der Großdemonstration vom 5. Januar heraus kam es zur Besetzung der Druckereien des SPD-eigenen Vorwärts und des Berliner Tageblatts sowie der Verlagsgebäude von Scherl, Ullstein, Mosse, des Wolff’schen Telegraphenbüros und der Druckerei Büxenstein durch bewaffnete Arbeiter. Alfed Döblin, Schriftsteller und Zeitzeuge, schrieb später in seiner Trilogie:

»Revolutionäre Stoßtrupps gingen gegen die Zeitungsgebäude […] vor, Bewegungen, die keiner dirigierte und die zunächst einmal die Lügenpresse zum Verstummen bringen sollten« (Döblin 1948, 348).

Anschließend wurden auch noch Anhalter und Potsdamer (und am Folgetag auch noch der Schlesische) Bahnhof besetzt.

»Noch in der Nacht waren überall in der Innenstadt aufgeregte Züge unterwegs, auf der Suche nach strategischen Zielen, die es zu besetzen, oder auch nach Feinden, die es niederzukämpfen galt. Es zeigten sich keine. Die Revolution, die seit dem 10. November stillgelegen hatte, war wieder ausgebrochen. Scheinbar beherrschte sie in dieser Nacht Berlin« (Haffner 2008, 157).

Die USPD- und KPD-Führung entschlossen sich nun dazu, die Besetzer zu unterstützen. Aus ihrem Kreis bildete sich am Abend ein »Revolutionsausschuss«, dem siebzig Revolutionäre Obleute, zehn Mitglieder des USPD-Vorstands, zwei Soldaten- und ein Matrosenvertreter, Liebknecht und Pieck als KPD-Abgesandte und Eichhorn selbst angehörten. Heinrich Dorrenbach, einer der Führer der Volksmarinedivision, die in der siegreichen Weihnachtsschlacht das Stadtschloss eingenommen und zu ihrem Hauptquartier gemacht hatte, erklärte unter dem euphorisierenden Eindruck der Massenaktion fälschlicherweise: »Nicht nur die Volksmarinedivision, auch alle Berliner Regimenter stehen hinter den Revolutionären Obleuten und sind bereit, mit Waffengewalt die Regierung Ebert-Scheidemann zu stürzen« (zit. nach Jones 2017, 162), woraufhin Liebknecht erklärte, dass angesichts dieser Konstellation der Sturz der Regierung möglich und notwendig sei. Mit 80 zu 6 Stimmen beschloss man, »den Kampf gegen die Regierung aufzunehmen und bis zu ihrem Sturz durchzuführen« (zit. nach Haffner 2008, 156f). Noch in der Nacht zum 6. Januar erging der Aufruf:

»Arbeiter! Soldaten! Genossen! Mit überwältigender Wucht habt ihr am Sonntag euren Willen kundgetan, daß der letzte bösartige Anschlag der blutbefleckten Ebert-Regierung zuschanden gemacht werde. Um Größeres handelt es sich nunmehr. Es muß allen gegenrevolutionären Machenschaften ein Riegel vorgeschoben werden! Erscheint in Massen heute elf Uhr vormittags in der Siegesallee! Es gilt, die Revolution zu befestigen und durchzuführen. Auf zum Kampfe für den Sozialismus! Auf zum Kampfe für die Macht des revolutionären Proletariats! Nieder mit der Regierung Ebert-Scheidemann!« (Ebd., 157)

Am frühen Morgen des 6. Januar wurde gedruckt: »Kameraden, Arbeiter! Die Regierung Ebert-Scheidemann hat sich unmöglich gemacht. Sie ist von dem unterzeichneten Revolutionsausschuss, der Vertretung der revolutionären Arbeiter und Soldaten (USP und KPD), für abgesetzt erklärt. Der unterzeichnete Revolutionsausschuss hat die Regierungsgeschäfte vorläufig übernommen. Schließt euch den Maßnahmen des Revolutionsausschusses an« Außerdem ging vom Revolutionsausschuss ein Aufruf zum Generalstreik für den 7. Januar aus. Diesem folgten in einer massiven Machtdemonstration 500 000 Berliner Arbeiter*innen. Döblin (1948, 359) zitiert einen Augenzeugen:

»Was sich an diesen Tagen in Berlin zeigte, war vielleicht die größte proletarische Masse, die die Geschichte je gesehen hat. Wir glauben nicht, daß in Rußland Massendemonstrationen dieses Umfangs stattgefunden haben. Vom ‚Roland‘ bis zur ‚Viktoria‘ standen die Proletarier Kopf bei Kopf. Bis weit in den Tiergarten standen sie. Sie hatten ihre Waffen mitgebracht. Sie ließen ihre roten Banner wehen. Sie waren bereit, alles zu tun, alles zu geben, selbst das Leben. Es war eine Armee, eine neue Armee in Berlin, eine Armee […], wie sie kein Ludendorff gesehen hatte. Sie stand und wartete. Sie wartete auf das Signal«.

Die KPD und USPD waren von dieser Dynamik vollkommen überrascht. Im Revolutionsausschuss hatten sie schließlich eine sehr kleine Minderheit gebildet. Haffner (2008, 164) schreibt:

»War es eine ›spartakistische‹, also kommunistische Revolution? Das ist von Anfang an die Sprachregelung der Sieger gewesen, und sie hat sich bis zum heutigen Tage gehalten […]. Die Wahrheit ist es nicht. Die KPD hatte den Januaraufstand weder vorhergesehen noch gewollt, weder geplant noch gelenkt. Sie war über das planlose, führungslose Vorpreschen der Massen sogar entsetzt. Ein solcher Massenaufstand, ehe die Partei überhaupt noch richtig stand, verstieß ja gegen alle Regeln! […] Aber auch der klägliche ‚Revolutionsausschuss‘ – in dem nicht die zwei beteiligten Kommunisten, Liebknecht und Pieck, sondern die 70 Revolutionären Obleute tonangebend waren, hatte den Januaraufstand weder geplant noch gemacht, noch geführt. Dieser Aufstand war ganz ausschließlich das spontane Werk der Berliner Arbeitermassen […]; diese Massen waren zum allergrößten Teil Sozialdemokraten, nicht Spartakisten oder Kommunisten […]“ (Haffner 2008: 164). Und so, schreibt Alfred Döblin in seiner Novemberrevolutionstrilogie, „sitzt man in der Schicklerstraße [in der USPD-Zentrale; Anmerkung d. Autors] und stellt fest: Niemand hat den Aufstand gewollt“ (Döblin 2013, 361).

Die KPD und USPD waren nun also eher Getriebene der Massen als deren treibende Kraft. Und aus diesem Grund befürwortete auch Liebknecht – gegen den Rat von Luxemburg im Parteivorstand („Karl ist das unser Programm?“ oder „Karl, wo bleibt unser Programm?“) – den Versuch, den Rat der Volksbeauftragten mit Waffengewalt zu stürmen; andernfalls, so seine Einschätzung, würde sich die KPD zu sehr von den revolutionären Arbeitern entfernen. Döblin lässt Liebknecht sagen: „Macht doch nur die Fenster auf. Hört doch bloß die Leute singen. Geht auf die Straße. Kommt mit nach der Siegesallee und seht euch die Massen an. Was soll denn eure Beratung. Die Massen haben schon entschieden“ (Döblin 2013, 362). Und Tucholsky dichtete nun:

Jahrelang – bängliches Zögern und Drehen./ Jahrelang – wir werden ja sehen!/ Jahrelang – Krupp und Tirpitz sollen leben!/ Jahrelang – rin in die Schützengräben!/ Jahrelang – Reklamiertenschiß./ Kompromiß… und Kompromiß…/ Jahrelang – Ausverkäufte an Sieg…/ Sozialisierung? Krieg ist Krieg./ Und nun ist auf einmal Friede auf Erden./ Und nun soll das alles anders werden./ Wir hassen den bauchigen Kassenschrein./ Wir wollen alle glücklich sein!/ Man kann sich über das Tempo zanken./ Nicht so bei uns an der blauen Panken./ Wenn die Regierung einen wie Liebknecht hätt!/ Die Regierung aber sitzt auf dem Klosett […]“ (GW2: 39f).

Die Liebknechtsche Einschätzung, die Haffner zum Schluss bringt, er sei im Gegensatz zu Rosa Luxemburg nicht unbedingt „[e]in guter Politiker“, aber doch „einer der mutigsten Männer, die Deutschland je hervorgebracht hat“ (Haffner 2008, 170), kam jedoch zugleich einem Votum gegen die Durchführung der für den 19. Januar geplanten Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung gleich. Sie beruhte zudem auf Fehleinschätzungen der Revolutionären Obleute. Verhandlungen zwischen Revolutionsausschuss und Ebert-Regierung am 6. und 7. Januar verliefen im Sand. Der SPD-Reichswehrminister Gustav Noske erhielt von Ebert den Oberbefehl über die Armee und ließ die präfaschistischen Freikorps zusammenrufen, auf die die Regierung – dies hatte die Niederlage der Regierungstruppen in den Weihnachtskämpfen gezeigt – angewiesen war. Noske hatte dabei betont, dass er gerne den „Bluthund“ der Gegenrevolution geben würde (Lange 1987, 176). Eberts Rat der Volksbeauftragten drohte am 8. Januar in einem Flugblatt »Die Stunde der Abrechnung naht!«; einen Tag später reagierten die Revolutionären Obleute, die Berliner USPD und die KPD mit einem gemeinsamen Aufruf für den Kampf gegen »die Judasse in der Regierung.« (zit. nach Jones 2017, 176). Die Ebert-Regierung konnte sich auf die Berliner Soldaten nicht verlassen. Selbst die, die nicht überliefen, weigerten sich, für sie loszuschlagen. Die einzige kampffähige antirevolutionäre Truppe in Berlin waren das rechtsextreme Freikorps des späteren SS-Obergruppenführers und Nazigenerals Wilhelm Reinhard, das sich aus ehemaligen, im Krieg brutalisierten Soldaten zusammensetzte. Tucholsky schrieb später im Gedicht „Unser Militär!“: „Und heute? Ach heute! Die Herren oben/ tun ihren Pater Noske loben/ und brauchen als Stütze für ihr Prinzip/ den alten, trostlosen Leutnantstyp“ (GW 2, 106). Auf Befehl der SPD-Regierung überfiel die Brigade Reinhard am 10. Januar das Hauptquartier der Spartakisten in Spandau. Einen Tag später befahl Noske, mit schwerem Kriegsgerät gegen die ausrüstungstechnisch unterlegenen „Vorwärts“-Besetzer vorzugehen. Die Freikorps-Soldaten, von denen einige bereits mit Hakenkreuzsymbolen gesehen worden sein sollen, gingen gegen die revolutionären Arbeiter mit Maschinengewehren, Flammenwerfern, Mörsern und Artilleriegeschützen vor. Am 11. Januar ermordeten sie sieben Besetzer, allesamt junge Arbeiter. Als Parlamentäre hatten diese das Gebäude verlassen, um über eine Kapitulation zu verhandeln. Stattdessen wurden sie festgenommen und in der Dragonerkaserne am heutigen Halleschen Tor in Kreuzberg von den Regierungstruppen ermordet (vgl. Müller 1925, 320). Im Namen der Regierung eroberten die Freikorps am 12. Januar das Zeitungsviertel insgesamt zurück, und »die letzte Schlacht entbrannte um den Schlesischen Bahnhof«, dem heutigen Ostbahnhof (Radetz 1981, 28). Und dennoch: Obwohl die Arbeiter sich dort und am Potsdamer Bahnhof zurückzogen, Verhandlungen anboten und angesichts der militärischen Aussichtslosigkeit freiwillig ergaben, verübten die rechtsextremen Freikorps regelrechte Massaker. Am Alexanderplatz, einem der letzten Kampfschauplätze, wo revolutionäre Arbeiter das Polizeipräsidium auf dem heutigen Alexa-Areal besetzt gehalten hatten, wurde einem 16-jährigen Gefangenen, der »Hoch lebe Liebknecht!« gerufen hatte, von einem Noske-Söldner »mit dem Gewehrkolben der Schädel« gespalten (Lange 1987, 183). Es waren diese Ereignisse, die den Schlosser Richard Schulz, später Redakteur der Roten Fahne, dazu brachten, das „Büxenstein-Lied“ zu dichten, in dem es heißt:

„Und donnernd dröhnt die Artill’rie/ Spartakus hat nur Infant’rie/ Granaten schlagen bei ihm ein/ Die Noskehunde stürmen Büxenstein […]./ Und wofür kämpft der Spartakist?/ Damit ihr ‘s alle, alle wisst:/ Er kämpft für Freiheit und für Recht/ nicht länger sei der Arbeitsmann ein Knecht./ Dass alle Menschen, groß und klein/ auf Erden sollen Brüder sein./ Dass niemand leidet ferner Not/ und jeder hat genügend täglich Brot […]./ O Spree-Athen, o Spree-Athen/ Viel Blut, viel Blut hast du gesehn./ In deinem Friedrichshaine ruht/ so manches tapfere Spartakusblut.“

Dies war die »Ursünde der SPD« in der Weimarperiode, dass sich ihre Regierung nur mithilfe der verrohten, präfaschistischen Freikorps an der Macht halten konnte. Ihre politischen Morde an revolutionären Linken (Liebknecht/Luxemburg, Kurt Eisner, Gustav Landauer, Hugo Haase) und an anderen »Vaterlandsverrätern« (Matthias Erzberger und Walther Rathenau), so das Unisono-Urteil von Döblin, Haffner und Mark Jones, waren die eigentlichen Vorboten des Nazifaschismus, der das politische Morden zur allgemeinen Staatsräson erhob. In Berlin wie auch in anderen deutschen Städten begrüßten die Zeitungen die Aktionen indes als Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung. Schon seit Dezember hatte die »Antibolschewistische Liga« zur Denunziation, Verhaftung und Überstellung der Führer der revolutionären Arbeiterbewegung an die Armee aufgerufen. Diese rechtsextreme Gruppierung, aus der etliche spätere Führer und Vordenker der NSDAP wie Moeller van den Bruck hervorgingen, hatte sich mit dem Startkapital der Deutschen Bank und von Friedrich Naumann höchstpersönlich gegründet und in der Lützowstraße 107 ein »Generalsekretariat zum Studium und zur Bekämpfung des Bolschewismus« eingerichtet. Am 10. Januar trafen sich dort rund 50 Spitzenvertreter von Industrie, Handel und Banken mit Liga-Initiator Eduard Stadtler und gründeten den »Antibolschewistenfonds der deutschen Unternehmerschaft«. Das Treffen war von Paul Mankiewitz von der Deutschen Bank organisiert worden und auf sein Betreiben waren der Industrieverbandchef Hugo Stinnes, Felix Deutsch von der AEG, Arthur Salomonsohn von der Disconto-Gesellschaft, Otto Henrich von Siemens und Ernst von Borsig gekommen. Mit 500 Millionen Mark vonseiten des deutschen Kapitals ausgestattet, finanzierte Stadtler jetzt antikommunistische Organisationen, darunter höchstwahrscheinlich auch Hitlers NSDAP. In den nächsten Wochen und Monaten pflasterte die Liga ganz Berlin mit Hassplakaten zu, was Tucholsky notieren ließ:

»Da schleichen schauerliche Gespenster mit Affenarmen einher, im Maul halten sie zwei Säbel und eine kleine Kanone, mit dem linken Hinterfuß ermorden sie eine fünfköpfige Beamtenfamilie, mit dem rechten zertreten sie zwei Regierungsbezirke, dass die Flammen nur so herausschlagen… Da sitzen Kinder auf Särgen herum, weil kein Stuhl da ist; wilde Tatarenfratzen sehen dich böse an, weil du morgen abend um acht Uhr nicht in einen Vortrag gehen willst, und grauenhaft geschwungene Mordmesser sind noch das mindeste […]. Die Liga zur Abwehr des Bolschewismus und andere zu lobpreisende Organisationen bekleben seit Wochen die Mauern Berlins mit diesen scheußlichen Zetteln, aber ich glaube nicht, dass das irgendeinen Sinn und Verstand hat. Der Bolschewismus ist kein Bürgerbubu, den man an die Wand malt, um den kleinen Kindern Angst zu machen. Diese unselige Stimmungsmache stammt noch aus der Zeit der Kriegsanleihen; ich denke […], dass man mit der Methode den Deutschen für ein kleines Kind zu halten nicht weit kommt […]« (Berliner Tageblatt, 29.3.1919).

Ähnlich hatte zuvor auch der linkssozialdemokratische, grundsätzlich antibolschewistische Publizist und frühere Minister Heinrich Ströbel in der „Weltbühne“ betont:

»Die blödsinnigen Plakate gegen den Bolschewismus, mit denen man – im Zeichen der Papiernot – alle Mauern verunziert, machen der östlichen Heilsbotschaft keine Seele abspenstig, sondern wecken ihr bei den ob solchen Unfugs empörten und angeekelten Massen nur Sympathien. Aber wenn man den Arbeitern nüchtern die Frage vorlegt, warum denn die bolschewistische Diktatur der einzige oder auch rascheste und sicherste Weg zum Sozialismus sein sollte, wird man ihre Wundergläubigkeit am ehesten erschüttern« (Ströbel 1978: 277).

Wenige Wochen zuvor hatte auch Rosa Luxemburg sich zu dieser finsteren Mordspropaganda, die sie mit dem Leben bezahlen würde, zu Wort gemeldet. In der „Roten Fahne“ vom 18. November 1918 schrieb sie:

»Liebknecht hat in Spandau 200 Offiziere ermordet. Liebknecht ist in Spandau ermordet worden. Die Spartakusleute haben den Marstall gestürmt. Die Spartakusleute haben in das Berliner Tageblatt mit Maschinengewehren eindringen wollen. Liebknecht plündert die Läden. Liebknecht verteilt Geld unter die Soldaten, um sie zur Gegenrevolution aufzustacheln. […]. Hinter all diesen schwirrenden Gerüchten, lächerlichen Phantasien, wahnwitzigen Räubergeschichten und schamlosen Lügen steckt ein sehr ernster Vorgang: Es liegt System darin. Die Hetze wird planmäßig betrieben. Die Gerüchte werden zielbewusst fabriziert und ins Publikum lanciert: Es gilt, durch diese Schwindelmärchen die Philister in panikartige Stimmung zu versetzen, die öffentliche Meinung zu verwirren, die Arbeiter und Soldaten einzuschüchtern und irrezuleiten, um eine Pogromatmosphäre zu schaffen und die Spartakusrichtung politisch zu meucheln, ehe sie noch die Möglichkeit hatte, die breitesten Massen mit ihrer Politik und ihren Zielen bekannt zu machen […]. Wir kennen die Weise, wir kennen den Text und auch die Verfasser. Es sind die Kreise der abhängigen Sozialdemokraten, […] die zielbewusst die öffentliche Meinung mit schamlosen Lügen vergiften und das Volk gegen uns aufhetzen, weil sie unsere Kritik fürchten und sie zu fürchten allen Grund haben. – Diese Leute, die noch eine Woche vor Ausbruch der Revolution jeden Gedanken an Revolution in Deutschland als Verbrechen, ‚Putschismus‘, Abenteuer denunzierten, die erklärten, in Deutschland sei die Demokratie schon verwirklicht, weil Prinz Max Reichskanzler war und Scheidemann und [Matthias] Erzberger in Ministerfracks herumliefen, diese Leute wollen heute dem Volk einreden, die Revolution sei schon gemacht, die Hauptziele seien schon erreicht. Sie wollen den weiteren Fortgang der Revolution aufhalten, sie wollen das bürgerliche Eigentum, die kapitalistische Ausbeutung retten! Dies ist die ‚Ordnung‘ und die ‚Ruhe‘, die man vor uns behütet […]« (GW 4, 401–403).

Mit dem Geld des „Antibolschewistenfonds der deutschen Unternehmerschaft“ druckte die Stadtlers „Antibolschewistische Liga“ in diesen frühen Januartagen nun Hunderttausende Plakate und Flugblätter, die nach dem 12. Januar berlinweit zur Ermordung von Luxemburg und Liebknecht aufriefen: »Das Vaterland ist dem Untergang nahe. Rettet es! Es wird nicht von außen bedroht, sondern von innen: Von der Spartakusgruppe. Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht! Dann werdet ihr Frieden, Arbeit und Brot haben. Die Frontsoldaten.« (Zit. nach Jones 2017, 220)

Gleichzeitig traf sich Stadtler im Hotel Eden am Kurfürstendamm mit Waldemar Pabst, dem Kommandeur der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, die eine der letzten intakten Reichswehr-Einheiten war, die nach Berlin beordert worden war, und überzeugte ihn von der »Notwendigkeit«, Liebknecht, Luxemburg und Karl Radek, der im Auftrag Lenins in Berlin weilte, zu ermorden. Am Abend des 15. Januars wurden Liebknecht und Luxemburg in ihrem Versteck bei Doktor Markussohn in Berlin-Wilmersdorf von einer lokalen Bürgerwehr, »brave(n) Einwohner(n) einer westlichen berliner Gemeinde, die am übelsten und reaktionärsten von allen regiert wird« und die »zur Aufrechterhaltung gottgewollter Abhängigkeiten« einen »kleinen Feuerwehrverein« gegründet hatten, so Tucholsky (GW 2, 96), aufgespürt und mithilfe eines Trupps Soldaten zusammen mit Pieck »verhaftet«. Vermutlich half bei der Aufspürung und Verhaftung auch die von Noske angeordnete permanente Überwachung von Liebknecht, deren Daten sofort Pabst mitzuteilen seien (Haffner 2008, 176). Von hier aus wurden die beiden ins zweieinhalb Kilometer entfernte Eden-Hotel verbracht, wo Pabst und seine Division schon auf sie warteten und die Gefangenen nun mehrere Stunden misshandelten. Pabst schrieb dann einen umfassenden Bericht, der am nächsten Tag in allen Zeitungen veröffentlicht wurde, dem zufolge Liebknecht »auf dem Transport ins Untersuchungsgefängnis Moabit bei einem Fluchtversuch erschossen worden« (ebd., 178) sei, während Luxemburg in eine wütende Menschenmenge geraten, den Soldaten entrissen und dann an einen unbekannten Ort verschleppt worden sei. Indes führten Pabsts Soldaten Luxemburg und Liebknecht durch einen Seitenausgang aus dem Hotel in eine abgesperrte Seitenstraße, wo der »Jäger« Otto Runge auf sie wartete und ihnen mit einem Gewehrkolben betäubende Schläge versetzte. Danach verschleppten Pabsts Soldaten zuerst Liebknecht mit einem Automobil zum Neuen See im Tiergarten. Hier wurde er, um den Mord als Erschießung bei einem Fluchtversuch vertuschen zu können, aufgefordert auszusteigen, und dann durch einen Schuss in den Hinterkopf ermordet. Einige Minuten später folgte ein weiteres Auto mit Luxemburg. Schon kurz nach der Abfahrt schossen die Soldaten Luxemburg in die Schläfe und warfen sie anschließend von der Lichtensteinbrücke im Tiergarten in den Landwehrkanal. Die Leiche von Luxemburg wurde erst am 31. Mai angeschwemmt, diejenige von Liebknecht von seinen Mördern als »unbekannte Leiche« in einem Leichenschauhaus abgegeben.

Am Tag ihrer Ermordung waren in der Roten Fahne Luxemburgs und Liebknechts letzte Artikel erschienen, den Tod offensichtlich vor Augen. Unter der Überschrift »Die Ordnung herrscht in Berlin« (vgl. Nachdruck in diesem Heft) waren Luxemburgs allerletzte Worte:

»Ihr stumpfen Schergen! Eure ›Ordnung‹ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon ›rasselnd wieder in die Höh’ richten‹ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!«

Und Liebknechts Artikel »Trotz alledem« schloss:

»Die Geschlagenen von heute werden die Sieger von morgen sein … Und ob wir dann noch leben werden, wenn es erreicht wird – leben wird unser Programm: es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen: Trotz alledem!«.

Luxemburgs und Liebknechts letzte Worte wurden anschließend millionenfach verbreitet; und Bertolt Brecht würde Liebknechts Worte zwölf Jahre später in seinem Revolutionsstück »Die Mutter« nach Maxim Gorki als »Lob der Dialektik« aufgreifen.

Luxemburgs und Liebknechts Mörder erhielten für ihre Tat nun hohe Belohnungen, die vermutlich auch aus dem „Antibolschewistenfonds der deutschen Unternehmerschaft“ stammten. Der Gerichtsprozess zur Aufklärung der Morde geriet zur Farce. Untersuchungen wurden nicht eingeleitet. Erst die Anstrengungen von Luxemburgs Lebensgefährten Leo Jogiches und der KPD, die die Täter ausfindig und ihre Aufenthaltsorte öffentlich machten, führten zur Einleitung eines Prozesses. Jogiches selbst, der nach der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg zum Parteivorsitzenden der KPD gewählt worden war, wurde am 10. März, inmitten des Generalstreik, von rechtsextremen Freikorps im Auftrag von Noske in seinem Versteck in einer Wohnung in der Schwarzastraße 9 am S-Bahnhof Sonnenallee in Neukölln aufgespürt, ins Kriminalgefängnis in Berlin-Moabit verfrachtet und noch am selben Tag durch einen Schuss in den Hinterkopf ermordet. Der von Jogiches angeschobene Prozess zur Ermordung fand indes nicht vor einem Zivil-, sondern vor einem Militärgericht statt. Der anklagende Kriegsgerichtsrat Jorns vertuschte im Untersuchungsverfahren die Morde; und die Hauptverhandlung brachte lediglich geringe Haftstrafen für Otto Runge und Horst von Pflugk-Harttung. Gegen Pabst hatte man nicht einmal ermittelt. Aber auch die beiden anderen mussten ihre Haftstrafen nicht antreten. In einer Berufungsverhandlung wurden sie freigesprochen. Unterzeichnet war das Urteil von Noske höchstpersönlich, der auch für die Einstellung des Revisionsverfahrens sorgte. Die Nazis wiederum zahlten den Tätern später Haftentschädigung. Kurt Tucholsky, der als Beobachter dem Prozess beiwohnte, schrieb einen langen, wütenden Essay hierüber und schlussfolgerte:

»Ich bin des trocknen Tones nun satt, und es soll einmal gesagt werden, was zu sagen bitter nottut: Wir pfeifen auf ein solches Verfahren […]. Es sind zwei Welten, die da zusammenstoßen, und es gibt keine Brücke. Hüben wir. Drüben die Offiziere alten und ältesten Stils – kein Klang der aufgeregten Zeit drang je in diese Einsamkeit. Von Liebknecht wird nur als ‚Feind‘ gesprochen […]; sie leben wie in einer Glaskugel […]. Die Luft, die im Gerichtssaal wehte, war für sie und gegen Liebknecht. Und käme heute wieder solche Gelegenheit – sie täten es noch einmal: sie würden schießen und ertränken und verheimlichen und stünden da als Retter des Vaterlandes. Ihres Vaterlandes, denn unsres ist das nicht. Ist das nur ein Einzelfall? Nein, es ist keiner. Der Militarismus ist nicht tot, er ist nur verhindert. Die kümmerlichen Reste verkriechen sich in die Noskegarde, die deshalb so unendlich schädlich sind, weil da unter der neuen Flagge die alten Ideale hochgehalten werden […]. Sind es nicht alles nette und ordentliche Menschen? War der Verhandlungsführer nicht sauber? Sind es nicht alle brave, ehrenhafte Männer? Es sind nicht einmal Männer, diese Offiziere, die eine wehrlose Frau und einen verwundeten Mann in maiorem patriae gloriam beseitigen. Ich glaube nicht, daß das unter die Rubrik ‚Tapferkeit‘ fällt […]. Blut kann durch Blut nicht gesühnt werden, das ist ein Wahn. Was wir aber können und was wir tun werden, ist dieses: Wir wollen bis zum letzten Atemzuge dafür kämpfen, daß diese Brut nicht wieder hochkommt […]« (GW 2, 97–99). Und später dichtete er: »Liebknecht ist tot, Vogel heidi./ Solche Mörder straft Deutschland nie« (ebd., 107).

Historisch nicht mehr zu rekonstruieren ist, ob die Soldaten nur unter Duldung oder auch im direkten Auftrag Noskes handelten. In jedem Fall war zwei Tage vor der Mordaktion im SPD „Vorwärts“ indirekt zur Tötung von Liebknecht, Luxemburg und Radek aufgerufen worden – und zwar in einem Gedicht, das mit den Zeilen endete:

»Vielhundert Tote in einer Reih’ –/ Proletarier! – Karl, Rosa, Radek und Kumpanei –/ es ist keiner dabei, es ist keiner dabei!/ Proletarier!« (zit. nach Lange 1987, 184).

In den späteren Prozessen gegen die Mörder wurde von mehreren Personen ausgesagt, ein »Helferdienst der SPD« um Scheidemann selbst habe zusammen mit Georg Sklarz, »einem mit Scheidemann eng befreundeten neureichen Kriegsmillionär« (Haffner 2008, 175), eine Kopfprämie von 50 000 Mark für die Ergreifung von Luxemburg und Liebknecht ausgelobt. Außerdem gibt es eine Aussage von Wilhelm Pieck, dem Tischler und späteren ersten Präsidenten der DDR, der mitverhaftet und während der Misshandlungen anwesend war. Ihm zufolge wurde eines der von ihm mitgehörten Telefongespräche mit der Reichskanzlei geführt.

Nach dem Tod von Waldemar Pabst 1970 – er hatte sich als Waffenhändler in Düsseldorf niedergelassen und war für seine Verdienste beim Mord an Luxemburg und Liebknecht von Bundeswehroffizieren gefördert worden – fand man in seinem Nachlass die Abschrift eines 1969 verfassten Briefes. Darin heißt es:

»Dass ich die Aktion ohne Zustimmung Noskes gar nicht durchführen konnte – mit Ebert im Hintergrund – und auch meine Offiziere schützen musste, ist klar. Aber nur ganz wenige Menschen haben begriffen, warum ich nie vernommen oder unter Anklage gestellt worden bin. Ich habe als Kavalier das Verhalten der damaligen SPD damit quittiert, dass ich 50 Jahre lang das Maul gehalten habe über unsere Zusammenarbeit.« (Zit. nach Gietinger 2008)

Die Ermordung der KPD-Führung durch die SPD-Regierung rief die fatale historische Spaltung der Arbeiterbewegung hervor. Aber wie konnte es dazu kommen? Tucholsky bemerkte zur Noske-Frage: »Es ist völlig uninteressant, zu wissen, ob Noske im guten Glauben handelt oder im schlechten. Er ist ein Schädling, denn schlimmer als die exploitierenden Reichen sind ihre Handlanger, schlimmer als der Großbauer ist der Hund.« (GW 2, 99). Haffner (2008, 240) schob ein halbes Jahrhundert hinterher:

»Es macht Ebert und Noske nicht sympathischer, dass sie keine Schurken großen Formats waren, sondern Biedermänner. Das Monströse ihrer historischen Tat findet keine Entsprechung in ihrem privaten Charakter. Wenn man nach ihren Motiven sucht, findet man nichts Dämonisches oder Satanisch-Großartiges, nur Banales: Ordnungsliebe und kleinbürgerliches Strebertum. Dass sie die Unordnung, die nun einmal mit jeder Revolution verbunden ist, ehrlich verabscheuten und mit beinahe panischer Angst fürchteten, kann man ihnen ohne weiteres glauben, auch wenn sie merkwürdigerweise keine solche Furcht vor der ebenso großen – und blutigeren – Unordnung der Gegenrevolution hatten. Tiefer aber noch als die Ordnungspanik saß wohl in ihnen der Stolz des Kleinbürgers, der sich plötzlich zur großen Welt zugelassen – mehr noch, von der großen Welt zur Hilfe gerufen – sieht. Dass bürgerliche Parlamentskollegen die ‚vaterlandslosen Gesellen‘ von einst plötzlich mit Respekt behandelten, dass Männer wie Groener und Prinz Max ihnen eine schmeichelhafte Vertraulichkeit, dass gar der Kaiser und Hindenburg eine gnädige Herablassung bezeigten, dass alle diese einst Gefürchteten und Beneideten in ihrer Not jetzt Ebert und die Seinen als ihren letzten Rettungsanker anerkannten – das erzeugte in den so Geehrten eine warme Woge zutraulicher und stolzer Loyalität, der sie jedes Opfer brachten, auch tausendfache Menschenopfer […]«

Für die Linke war die Luxemburg/Liebknecht-Ermordung ein Schock; und sie zeichnete die Geschichte Deutschlands bis 1933 vor. Haffner schreibt, der Mord habe »am Ablauf der politischen Ereignisse zunächst so gut wie gar nichts« geändert;

»im Gesamtverlauf der Dinge […] schien dieses Verbrechen damals nicht mehr als eine grelle Episode zu sein. – Heute sieht man mit Schrecken, dass diese Episode das eigentliche geschichtsträchtige Ereignis des deutschen Revolutionsdramas gewesen ist […]. Der Mord vom 15. Januar 1919 war ein Auftakt – der Auftakt zu den tausendfachen Morden in den folgenden Monaten der Noske-Zeit, zu den millionenfachen Morden in den folgenden Jahrzehnten der Hitler-Zeit« (ebd.: 169 u. 182).

Schon kurz nach den Mordtaten widmete Tucholsky sein Gedicht »Zwei Erschlagene« voller Hass »Der Garde-Kavallerie-Schützen-Division zu Berlin in Liebe und Verehrung«. Darin heißt es:

»Märtyrer…? Nein. Aber Pöbelsbeute./ Sie wagten‘s. Wie selten ist das heute./ Sie packten zu, und sie setzten sich ein:/ sie wollten nicht nur Theoretiker sein./ Er: ein Wirrkopf von mittleren Maßen,/ er suchte das Menschenheil in den Straßen./ Armer Kerl: es liegt nicht da./ Er tat das Seine, wie er es sah./ Er wollte die Unterdrückten heben,/ er wollte für sie ein menschliches Leben./ Sie haben den Idealisten betrogen,/ den Meergott verschlangen die eigenen Wogen./ Sie knackten die Kassen, der Aufruhr tollt –/ Armer Kerl, hast du das gewollt?/ Sie: der Mann von den zwei beiden./ Ein Leben voll Hatz und Gefängnisleiden./ Hohn und Spott und schwarz-weiße Schikane/ und dennoch treu der Fahne, der Fahne!/ Und immer wieder: Haft und Gefängnis/ und Spitzeljagd und Landratsbedrängnis./ Und immer wieder: Gefängnis und Haft –/ Sie hatte die stärkste Manneskraft./ Die Parze des Rinnsteins zerschnitt die Fäden./ Da liegen die beiden am Hotel Eden./ Bestellte Arbeit? Die Bourgeoisie?/ So tatkräftig war die gute doch nie…/ Wehrlos wurden zwei Menschen erschlagen./ Und es kreischen Geier die Totenklagen:/ Gott sei Dank! Vorbei ist die Not!/ ‚Man schlug‘, schreibt einer, ‚die Galizierin tot.‘/ Wir atmen auf! Hurra Bourgeoisie!/ Jetzt spiele deine Spielchen ohne die!/ Nicht ohne! Man kann die Körper zerschneiden./ Aber das eine bleibt von den beiden:/ Wie man sich selber die Treue hält,/ wie man gegen eine feindliche Welt/ mit reinem Schilde streiten kann,/ das vergißt den beiden kein ehrlicher Mann!/ Wir sind, weiß Gott, keine Spartakiden./ Ehre zwei Kämpfern! Sie ruhen in Frieden!« (GW 2, 41f).

Tucholskys Hass auf die „verratene Revolution“ (Haffner), auf eine, wie es ihm schien, Regierung der Revolutionsverräter, auf die extreme Rechte und auf das »deutsche Bürgertum«, das Tucholsky für »ganz und gar antidemokratisch« hielt (ebd., 52) kochte in ihm bis zu seinem Freitod angesichts des Sieges des Faschismus. In zahlreichen Gedichten schrieb der linke Sozialdemokrat nun gegen die Sozialdemokratie an: Sein Hass war jedoch geboren aus einer Liebe zu den Ausgebeuteten und Unterdrückten. So schrieb er 1919: »Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe […]. Wir kämpfen […] mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den Menschen den Gedanken an die Menschheit« (GW 2, 57). Kaum anders hätte es wohl Rosa Luxemburg ausgedrückt.

Erschienen in: "Ich werde sein" - Luxemburg 3/2018

 

Literatur

Döblin, Alfred, 1948: November 1918: Eine deutsche Revolution, Frankfurt a. M. [2013]

Gietinger, Klaus, 2008: Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs, Hamburg

Haffner, Sebastian, 2008: Die deutsche Revolution 1918/19, Köln

Jones, Mark, 2017: Am Anfang war Gewalt. Deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin

Kordon, Klaus, 2018: Die roten Matrosen, Weinheim

Lange, Annemarie, 1987: Berlin in der Weimarer Republik, Berlin

Luxemburg, Rosa, 1918: Das alte Spiel, in: GW 4, Berlin, 401-403

Müller, Richard, 1925: Eine Geschichte der Novemberrevolution, Berlin [2011]

Petersen, Andreas, 2012: Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren: Ein Jahrhundertdiktat, Wiesbaden

Radetz, Werner, 1981: Der Stärkere. Ein Buch über Werner Seelenbinder, Berlin

Ströbel, Heinrich 1919: Moskau gegen Weimar, in: Die Weltbühne 15/1–2, 273–279 [1978]

Tucholsky, Kurt, 1975: Gesammelte Werke in zehn Bänden, Reinbek bei Hamburg

Ulrich, Volker, 2009: Die Revolution von 1918/19, München

 

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