Vielleicht ein Anfang

Peter Birke* und Stefan Kerber-Clasen* über die Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst und die Inwertsetzung der öffentlichen Daseinsvorsorge

Die Arbeit in Kindertagesstätten steht wieder einmal im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Auslöser ist die Tarifrunde im Sozial- und Erziehungsdienst, die nach fünf Verhandlungsrunden gescheitert ist. In der ersten Maiwoche stimmte eine überwältigende Mehrheit der TeilnehmerInnen in Urabstimmungen für einen unbefristeten Streik, um eine bessere Eingruppierung der bei den Kommunen angestellten SozialarbeiterInnen, SozialpädagogInnen, Kita-LeiterInnen, ErzieherInnen, HeilpädagogInnen und KinderpflegerInnen  zu erreichen. Aufgerufen zur Urabstimmung waren rund 240.000 kommunale Beschäftigte, also rund ein Drittel der insgesamt im Sozial- und Erziehungsdienst beschäftigten Personen, die mehrheitlich bei großen freien Trägern wie Caritas, Diakonie oder AWO angestellt sind.

Die verbreitete Stimmung in der Öffentlichkeit ist, dass der Streik legitim sei, weil insbesondere im Kita-Bereich etwas zur Verbesserung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen getan werden müsse. Zumindest in dieser Hinsicht scheinen die Voraussetzungen für einen Erfolg der gewerkschaftlichen Kampagne zur Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste günstig zu sein.

 

       Kämpfe um Arbeitsbedingungen und Entlohnung

Obwohl Streiks in sozialen Dienstleistungsberufen noch immer nicht zum gewohnten Arbeitskampf-Bild gehören, sind sie doch auch keine Ausnahme – weder in Deutschland noch in anderen europäischen Staaten. So kämpften Kita-Beschäftigte in Schottland 2004 für höhere und landesweit verbindliche Tariflöhne. In Dänemark waren Kitas zwischen 2008 und 2010 Teil einer umfassenden Auseinandersetzung um Ausstattung sowie Arbeits- und Entlohnungsbedingungen im öffentlichen Sektor, 2010 stritten dann auch französische ErzieherInnen für bessere Arbeitsbedingungen. Seit Beginn der europäischen Krise waren Beschäftigte in Sozial- und Erziehungsdiensten unter anderem in Spanien und Portugal immer wieder an Protesten gegen Austeritätspolitiken beteiligt.

In Deutschland war der »Kita-Streik« 2009 die erste bundesweite Streikbewegung. Bei dieser streikten vor allem die Beschäftigten in Kitas, welche die mit Abstand größte Beschäftigtengruppe im Sozial- und Erziehungsdienst bilden, über mehrere Monate für gesundheitlich weniger belastende Arbeitsbedingungen und eine bessere Entlohnung. Auch in der Folge blieb es in diesem Bereich nicht ruhig: Gerade in den vergangenen beiden Jahren kam es lokal und regional zu vielfältigen Protesten – so beispielsweise gegen das hessische Kinderförderungsgesetz im Jahr 2013, das aus Gewerkschaftssicht die Qualität der Kitas deutlich verschlechtert: durch größere Gruppen für Kinder unter drei Jahre, eine Verschlechterung der ErzieherIn-Kind-Relation und die Ausweitung des Anteils von nicht ausgebildeten Kräften in den Kitas.

Im vergangenen Winter machte dann das Hamburger Kita-Netzwerk im Bürgerschaftswahlkampf unter anderem mit einer Großdemonstration auf seine Forderung eines besseren Betreuungsschlüssels aufmerksam.

Streiks und Aktionen im Sozial- und Erziehungsdienst thematisieren unterschiedliche Aspekte des Arbeitsprozesses bzw. der Dienstleistung, womit auch unterschiedliche Voraussetzungen und Zugänge für eine breite Solidarisierung ins Spiel gebracht werden: Erstens geht es um die Verbesserung der Dienstleistungen als solche – daran haben auch die NutzerInnen derselben offenkundig ein starkes Interesse, weil auch sie beispielsweise von einer Verbesserung der notorisch schlechten Personalausstattung profitieren würden. Zweitens, und im engen Zusammenhang damit, geht es um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, womit auch die gesundheitliche Belastung der Beschäftigten zum Thema wird. Gerade diese Frage war ein wichtiges mobilisierendes Moment im Kita-Streik von 2009. Drittens geht es um eine Verbesserung der Entlohnungsbedingungen. Diese Forderung hebt vor allem auf eine höhere Attraktivität des ErzieherInnen-Berufes ab, sie ist zugleich auch Teil des Kampfes für die finanzielle Anerkennung von Arbeit in Feldern, in denen noch immer überwiegend Frauen beschäftigt sind. Da ein Großteil dieser Beschäftigten in Teilzeit arbeitet, ist es auch ein Kampf für existenzsichernde Löhne.

In der aktuellen Tarifrunde steht die Entlohnung im Vordergrund: ver.di und GEW fordern, vermittelt über eine verbesserte Eingruppierung, durchschnittlich etwa zehn Prozent höhere Entgelte. Die Forderung wird damit begründet, dass sich die Tätigkeiten der Beschäftigten in den vergangenen Jahren so gravierend verändert haben, dass eine Neubestimmung der sogenannten Tätigkeitsmerkmale notwendig ist. So fordert ver.di beispielsweise, dass SozialarbeiterInnen mit staatlicher Anerkennung und entsprechender Tätigkeit zukünftig in der Entgeltgruppe S 15 statt S 11 eingruppiert werden, KinderpflegerInnen mit staatlicher Anerkennung zukünftig in S 5 statt in S 3 und ErzieherInnen ohne Leitungsfunktonen sollen zukünftig nach S 10 statt nach S 6 bezahlt werden. Reich würde dadurch dennoch niemand: ErzieherInnen würden dann bei einer Vollzeitstelle statt monatlich rund 2 800 Euro brutto zukünftig rund 3 100 Euro verdienen. Doch würden mit diesen Eingruppierungen nicht zuletzt langjährige Ausbildungen anerkannt, die im Falle von ErzieherInnen durchaus mit einem Fachhochschulstudium vergleichbar sind.

 

       Aufwertung und Anerkennung für die einen…

Vergleicht man die öffentliche Debatte um den laufenden Streik in den Sozial- und Erziehungsdiensten etwa mit jener über die Arbeitsniederlegungen bei der Bahn, so stellt man fest, dass erstens die Forderungen der Gewerkschaften – anders als im Bahnstreik – öffentlich überhaupt zur Kenntnis genommen werden, und dass ihnen zweitens mit viel Sympathie begegnet wird. Dem ver.di-Motto »Soziale Arbeit ist mehr wert« scheinen sich alle anzuschließen. Im Vordergrund steht dabei aber die Arbeit der Beschäftigten in den Kitas und nicht in Jugendämtern, in der offenen Jugendarbeit, in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen usw., die auch am Streik beteiligt sind. Angesichts leerer kommunaler Kassen setzen die in der VKA vereinigten kommunalen Arbeitgeber in den Verhandlungen daher auf eine Doppelstrategie: Einerseits stimmen sie in das Lob der Arbeitenden im Sozial- und Erziehungsdienst ein, andererseits schlagen sie eine mehr oder minder kostenneutrale Umverteilung zwischen den Beschäftigten vor. Die Vorschläge der Arbeitgeber laufen darauf hinaus, die Arbeit von SozialarbeiterInnen abzuwerten und die von Beschäftigten in Kitas aufzuwerten. Selbstverständlich kann sich keine Gewerkschaft auf solch einen Deal einlassen – dennoch ist der Spaltungsversuch bemerkenswert, denn er weist auf die Besonderheiten von Kitas in der öffentlichen Debatte hin und verweist auch darauf, dass der Begriff »Kita-Streik« nicht unproblematisch ist.

Warum soll gerade die Arbeit der Beschäftigten in Kitas aufgewertet werden? Kitas stehen wie keine andere Institution des Sozial- und Erziehungsdienstes seit Anfang der 2000er Jahren im politischen Fokus, weil sie seitdem – und damit ganz anders als zuvor – als gesellschaftlicher Problemlöser par excellence angesehen werden. Sie gelten heute als gesellschaftliche Institution, die mehr denn je prägt, wie ›unsere Kinder‹ durch frühkindliche Bildungsprozesse in ihre Rolle als StaatsbürgerInnen und ArbeitnehmerInnen von morgen sozialisiert werden. Kitas sollen zugleich ermöglichen, Erwerbsarbeit und Familienverantwortungen zu vereinbaren und die gesellschaftliche Integration zu befördern. Damit dies gelingt, werden auf Kitas öffentliche Aufmerksamkeit, politische Reformen und öffentliche Investitionen konzentriert. Für die Arbeitenden in Kitas bedeutet dies, dass von ihnen gänzlich neue Tätigkeiten in ihrem Arbeitsalltag erwartet werden. Das findet grundsätzlich hohe Akzeptanz bei Beschäftigten und Gewerkschaften, weil es zu einer Anerkennung der Profession der Kita-Fachkräfte beiträgt. Hier hat die gewerkschaftliche Forderung nach einer höheren Eingruppierung ihre Basis. Hieran knüpfen auch die kommunalen Arbeitgeber an, wenn sie vage äußern, dass trotz Schuldenbremse leichte Zugeständnisse exklusiv für die Beschäftigten in Kitas machbar wären.

Zugleich werden solche verbalen wie materiellen Zugeständnisse unmittelbar mit der arbeitsmarktpolitischen Funktion von Kitas sowie mit Kindern als »nachwachsende« Humanressourcen begründet. Im Mainstream wird also mit Aufwertung kaum etwas anderes als »Inwertsetzung« verbunden. Entsprechend wird in der Finanzierung von Kitas auch vor Ort sehr viel Wert auf Aspekte wie die sprachliche und bildungsmäßige Entwicklung der Kinder gelegt, während die alltägliche Sorgearbeit – Windeln wechseln, Trösten, Streit schlichten – weiterhin öffentlich unsichtbar und nebensächlich erscheint. Gleichzeitig ist nahezu allen BefürworterInnen einer wie auch immer gearteten Aufwertung klar, dass sich in Kitas – aber das gilt im Grunde für alle Bereiche des Sozial- und Erziehungsdienstes – die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen nicht parallel zu den veränderten Anforderungen an die Arbeitenden entwickeln. Während Forderungen nach Beobachtung, Dokumentation, Qualifizierung usw. stetig steigen, bleiben die Bedingungen meist konstant schlecht – oder sie verschlechtern sich sogar durch permanente räumliche Erweiterung, Umstrukturierung, neue Projekte. Probleme im Arbeitsalltag entstehen somit gerade durch die gegenwärtige materielle Ausgestaltung der von vielen Beschäftigten und den Gewerkschaften befürworteten Veränderungen.

Während sich also alle über die Notwendigkeit von Veränderungen einig sind, sind deren Form und Inhalt umstritten: Welche Tätigkeiten und welche Arbeitsfelder sollen »aufgewertet« werden? Welche gesellschaftlichen Ziele werden damit verknüpft bzw. zur Legitimierung herangezogen? Welche Ressourcen sind nötig, um die massiven Arbeitsveränderungen der vergangenen Jahre so zu bewältigen, dass die betreuten Kinder in Würde aufwachsen können? In der laufenden Tarifrunde geht es vordergründig um die Entlohnung der Beschäftigten, weil diese in der Tat unangemessen ist im Verhältnis zu den geforderten Tätigkeiten. Auf der Tagesordnung stehen aber zugleich zentrale gesellschaftliche Konflikte um Sorgearbeit, Kindheit, Geschlechterverhältnisse.

 

       Diskurse und Bündnisse

Solch grundlegende Fragen können kaum tarifpolitisch beantwortet werden, und wichtiger ist vielleicht, dass sie angesichts der laufenden Streiks überhaupt gestellt werden. Insofern ist der Arbeitskampf ein erster Schritt – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn schon nach 2009 wurde deutlich, dass die tarifpolitische Regulierung gesundheitlicher Belastungen ebenso wie die materielle Aufwertung des Bereichs Grenzen hat. Auch aktuell ist absehbar, dass unabhängig davon, ob eine bessere Entlohnung in der aktuellen Tarifrunde durchgesetzt werden kann oder nicht, die Probleme und Belastungen für die Beschäftigten im Arbeitsalltag nicht verschwinden. Andererseits kann gerade der Streik die öffentliche Aufmerksamkeit für weitere, in den kommenden Monaten und Jahren bevorstehende Konflikte schärfen: die Novellierung der Kita-Gesetze, Kämpfe um die Ausstattung jeder einzelnen Kita, Auseinandersetzungen bei Trägern, die sich nicht einmal an Tarifverträge halten. Der aktuelle Streik kann insofern auch als Teil einer Arbeitspolitik begriffen werden, die sich nicht auf Tarifpolitik beschränkt. Es ist eine Gelegenheit, gesellschaftlich und auch gewerkschaftlich kritisch darüber zu diskutieren, in welche Richtung sich die Organisation, die gesellschaftliche Bedeutung und die Inhalte von Sozialer Arbeit und Bildungsarbeit aktuell entwickeln und was dies gesellschaftspolitisch bedeutet. Wie sollen unsere Kinder leben und gebildet werden? Welchen Stellenwert soll Erwerbsarbeit gesellschaftlich einnehmen? Soll Bildungsarbeit besser bezahlt werden als Sorgearbeit? Wie können Soziale Arbeit und Bildungsarbeit gesellschaftlich anders organisiert werden?

Entscheidend für diese Diskussion ist dabei die gemeinsame Perspektive der NutzerInnen von und der Arbeitenden in sozialen Dienstleistungen. Die Aufwertungskampagne bietet eine Chance, die Frage der Eingruppierung mit der Forderung nach einer Verbesserung von Arbeits- und Betreuungsbedingungen zu verbinden. Wie könnte der Kita-Streik in diesem Sinne genutzt werden? Wichtig scheint uns zunächst die Kooperation von Streikenden und Eltern, nicht nur auf Verbandsebene von Landeselternbeiräten, sondern in jeder einzelnen Kita. Dabei geht es nicht nur darum, dass Streikende um Verständnis für die Ausfälle werben, sondern darüber hinaus auch darum, die nicht einfache Frage nach konkreten Formen der Solidarisierung zu stellen. Ist es beispielsweise ausreichend, Eltern über ihr Recht zu informieren, die eingezahlten Kita-Beiträge von den Kommunen zurückzufordern? Ist Ziel der Streiks, die Kommunen auch finanziell zu treffen und somit unter Druck zu setzen? Wie ist in diesem Zusammenhang »Streikbruch« zu bewerten? Oder lassen sich Solidarität und durch die Eltern gemeinschaftlich organisierte Kinderbetreuung verbinden? Wie können die Kinder selbst sinnvoll in die Streiksituation einbezogen werden, ohne sie zu instrumentalisieren?

Eine vielleicht noch schwerer zu beantwortende Frage ist die nach der Sichtbarmachung der »anderen« Bereiche. Zwar steht in der Streikbewegung der gesellschaftliche Sinn der Sozial- und Erziehungsdienste grundlegend und insgesamt zur Debatte, zumindest zurzeit sind Bereiche jenseits der Kitas im Streik selbst allerdings so gut wie gar nicht sichtbar, obwohl diese tendenziell stärker beteiligt sind als 2009. Auch hier gilt: Lokale Bündnisse zur Unterstützung des Arbeitskampfes könnten ein Anfang sein, denn Kritik an lokaler und zentralstaatlicher Austeritätspolitik braucht eine breite solidarische Perspektive. Ob der Streik, für den sich die Gewerkschaftsmitglieder entschieden haben, damit zum Erfolg wird, ist offen. Im Hintergrund lauert auch die Befürchtung, dass trotz breiter gewerkschaftlicher Mobilisierung und öffentlicher Unterstützung zwei Tarifrunden keine wirkliche Verbesserung für die Arbeitenden gebracht haben werden – und dass die Gewerkschaften im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste nach 2009 und 2015 so schnell nicht wieder eine vergleichbare Chance erhalten.

 

*  Stefan Kerber-Clasen forscht zur Entwicklung von Arbeit und Arbeitskonflikten im Kita-Bereich. Peter Birke organisiert zurzeit (mit Jürgen Kädtler) ein Lehrforschungsprojekt an der Uni Göttingen zum Kita-Streik.