Ungarns „Wende“ und die Krise Europas

Viktor Orbán regiert Ungarn seit 2010. Sein rechtskonservativer Ungarischer Bürgerbund Fidesz gewann damals 68 Prozent der Parlamentssitze. Die quasi-faschistische Oppositionspartei Jobbik erhielt zwölf Prozent der Mandate. Linksliberale Kräfte sind an den Rand gedrängt und marginalisiert. Die Fraktion der ehemals regierenden Sozialistischen Partei hat sich gespalten. Orbán hat die Zeit gut genutzt. Dank der großen Parlamentsmehrheit gelang es ihm, die Verfassung zu ändern, womit auch Rechtskontinuität zum Horthy-Regime (1920 - 1944) hergestellt und die bestehenden Grenzen zur Slowakei, zu Kroatien und Rumänien in Frage gestellt wurden. Zugleich wurden per Mediengesetz die Pressefreiheit untergraben und das Wahlrecht in einer Weise geändert, die die rechte Dominanz verstetigen kann. Die in einem demokratischen Staat übliche Gewaltenteilung ist praktisch ausgehebelt. Der Politiker Bálint Magyar schrieb dazu, dass die ungarische Politik inzwischen einem Fußballspiel gleiche, in dem der Kapitän der einen Mannschaft die Regeln ändern, die Schiedsrichter ernennen und sogar die gegnerischen Spieler vom Platz verweisen kann.
Die große Mehrheit der ungarischen Bevölkerung scheint die nationalistische Linie der Regierung dennoch zu bejahen – trotz sinkender Einkommen. Faschisten terrorisieren weiter mit ihren Aufmärschen Roma-Dörfer und Andersdenkende. All das geschieht im Europa des 21. Jahrhundert, in einem Mitgliedsland der Europäischen Union. Und Kritiken sind nach dem ersten Aufschrei wegen der Mediengesetzgebung leise geworden.
Bei spotless, dem Periodikum der edition ost, ist jetzt ein neues Bändchen mit dem Titel „Ungarns ‚Wende‛: Ein Laborversuch“ von Erhard Crome erschienen, das diese Entwicklungen akribisch untersucht und nach den Ursachen fragt. Crome verknüpft die Entwicklungen in Ungarn mit der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise, der Entwicklung von rechten Bewegungen in Europa und geht in der Geschichte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zurück. Das ist eine sehr komplexe Arbeit, die bedrohliche Szenarien aufzeigt und warnt. Sehr zu empfehlen – gerade für Linke, um am Beispiel Ungarns nachvollziehen zu können, was passiert, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit verlieren und die Bevölkerung nur noch rechte Alternativen sieht.
Crome nutzt den Begriff der Politikwissenschaft vom „autoritären Regime“, der einen dritten Typ staatlicher Verfasstheit neben Demokratie und Totalitarismus bezeichnet, wohl um Streit über Begrifflichkeiten zu vermeiden und die Aufmerksamkeit bei den Fakten zu belassen. In Ungarn war schon einmal, nach dem Ersten Weltkrieg, ein solch autoritäres Regime errichtet worden, unter Horthy 1919/1920, und damit noch der entsprechenden Entwicklung in Italien. Mussolini folgte erst 1922. Eric Hobsbawm hat die Wirkungen des Ersten Weltkrieges auf die kriegführenden Staaten untersucht. Die Länder, die geschlagen worden waren, erlebten zunächst eine soziale Revolution. „Dort feierte der Nationalismus seine Wiederauferstehung nicht als schwächerer Ersatz für eine soziale Revolution, sondern als Mobilisierung von ehemaligen Offizieren und Zivilisten der mittleren und unteren Mittelschicht für die Gegenrevolution. Nun gab er den Nährboden für den Faschismus ab.“
Das Horthy-Regime hatte 1919 die ungarische Räterepublik niedergeschlagen. Der Vertrag von Trianon als Teil des Versailler Systems ergänzte die antikommunistische Ausrichtung durch eine grenzrevisionistische. Mit diesem Vertrag verlor Ungarn über zwei Drittel seines früheren Territoriums und mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung. Die Slowakei wurde Teil der Tschechoslowakei, Siebenbürgen ging an Rumänien, Kroatien wurde Teil Jugoslawiens. Das führte Ungarn erst an die Seite Mussolinis und später an die Hitlers.
Der neue Autoritarismus in Europa tauchte nach dem Ende des Realsozialismus zunächst in Österreich (Haider), dann in Italien (Berlusconi) auf. Eine besondere Ausprägung findet er mit seiner Machtfülle wieder in Ungarn. Crome sieht Analogien zwischen den Entwicklungen nach 1918 und dem Ende des Realsozialismus zwischen 1989 und 1991. Er zitiert den Osteuropaexperten Gerhard Simon, der Anfang der 90er Jahre schrieb: „Nur mit Hilfe der nationalen Idee konnte der Widerstand gegen die sowjetische Diktatur mobilisiert werden, und nur die nationale Idee bot eine ordnungspolitische Alternative für die Zukunft: den Nationalstaat.“
Horthys Politik war nach damaligem Verständnis von staatlicher Souveränität gedeckt, aber Orbáns Vorgehen verstößt gegen Geist und Buchstaben europäischen Rechts. Crome warnt: „Wenn das ungeahndet bleibt, wird die EU eine andere sein. Auch eine, die wehrlos sein wird gegen Geert Wilders, Marie Le Pen, die ,Wahren Finnen’ und alle anderen Rechtspopulisten, die derzeit in Europa ihr Unwesen treiben.“ Orbán ist der Vorkämpfer dieser Tendenzen, weil er der derzeit Mächtigste ist. Crome sieht Ungarn in diesem Sinne als Versuchslabor dafür, wieviel Autoritarismus im Europa des 21.Jahrhunderts schon wieder möglich ist.
Es hatte auch in Ungarn nach der Wende Illusionen über einen schnellen wirtschaftlichen Aufstieg gegeben. Zwischen 1988 und 1993 sank das Bruttosozialprodukt jedoch um 20 Prozent, die Inflationsrate betrug zeitweise 35 Prozent. Die Arbeitslosenrate erreichte zwölf Prozent.1994 war der Kredit der Konservativen zunächst verspielt, wirtschaftliche und soziale Fachkompetenz wurde nun bei der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) von Gyula Horn vermutet. Um einen drohenden Staatsbankrott abzuwenden, setzte Horn auf drastische Kürzungen bei Reallöhnen und der Kaufkraft der Renten. Ab 1997 erlebte die ungarische Wirtschaft dann einen auf Kapitalseite vielgelobten Aufschwung, aber das Sparpaket war zutiefst unpopulär. Horns Regierung verstrickte sich dabei in Korruptionsaffären und eine grenzenlose Arroganz der Macht. 1998 übernahm dann Orbáns Fidesz. Aber noch kam es wieder zu einem Machtwechsel: 2002 und 2006 siegte jeweils die Sozialistische Partei, die sich aber weiter mit neoliberalem Sparkurs und der Verarmung großer Bevölkerungsteile „profilierte“. Die ungarische Wirtschaft war im Gefolge der internationalen Finanz-und Wirtschaftskrise fast zusammengebrochen und wurde mit Milliardenkrediten von IWF, Weltbank und der EU „gerettet“. Das dabei genutzte Handwerkszeug ist heute auch in Griechenland und Spanien zu besichtigen. In den Augen der Bevölkerung war die sozialistische Regierung dafür verantwortlich, und so kam es 2010 zu dem Erdrutschsieg von Viktor Orbán.
Orbán hatte sehr erfolgreich die soziale Rhetorik national aufgeladen. Er setzt in seiner Wirtschaftspolitik, die wie bei seinen Vorgängern einzig der Stärkung der wohlhabenden Ungarn dient und ebenso die Schröpfung der Mehrheit der Bürger fortsetzt, auch auf verbreitete Antipathien in der Bevölkerung gegen ausländisches Kapital. Die anhaltende Kürzungspolitik bei Löhnen, Renten und sozialen Programmen wird mit dem Versagen des europäischen Wirtschaftssystems begründet und bestärkt antieuropäische Ressentiments. Die europäische Kritik an Orbán hat sich – so Crome – denn auch lediglich auf die Teile seiner Wirtschaftspolitik konzentriert, die auf eine gewisse Begrenzung der Aktivitäten des Auslandskapitals gerichtet sind, während zu den Maßnahmen im politischen Bereich weitgehend Stillschweigen herrscht.
In der Krise wachsen Proteste, sie können sich links artikulieren – wie derzeit in Griechenland (wo es natürlich auch faschistische Gruppen gibt) – oder auch rechts wie in Ungarn. Und Crome denkt abschließend laut über die allgemeinen Interessen der Finanzgewaltigen in Europa nach: „Die Finanz- und Wirtschaftskrise kann Entwicklungen zur Folge haben, dass man autoritäre Herrschaft wieder in breiterem Sinne benötigt. Um so besser, wenn sie durch Wahlen zustande gekommen ist. Und wenn sie schon mal ausprobiert wird. Etwa in Ungarn.“

Erhard Crome: Ungarns „Wende“: ein Laborversuch, spotless im Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2012, 95 Seiten, 5,95 Euro