Über den wandel der Sexualität
Entgegen einer weitverbreiteten Annahme ist Sexualität nichts Natürliches, sondern ein kulturelles Konstrukt des 19. Jahrhunderts, das sich weder in ahistorischer Weise universalisieren noch auf andere Epochen projizieren lässt. Um sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ernsthaft mit Sexualität zu beschäftigen, genügt es folglich nicht, zuzugestehen, dass soziale Verhältnisse den Umgang mit dem Sexuellen prägen. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass das Konzept „Sexualität“ mit all seinen Bedeutungen ein sehr spezifisches Produkt der Moderne ist. Menschen früherer Epochen und Gesellschaften mögen geschlechtliche Kontakte gehabt haben, aber sie hatten keine Sexualität im modernen Sinne. Der neuartige, erstmals zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftauchende und rasch allgemeine Verbreitung findende Begriff „Sexualität“ indiziert die Entstehung eines neuen und spezifischen (Be-) Deutungsrahmens des Geschlechtlichen, der sowohl psychische Wahrnehmungen und somatische Empfindungen als auch Körperbilder und Begehrensformen prägt. Ein zentrales Element dieses Rahmens ist die Verknüpfung von Begehren und Identität: Das Begehren wird nicht nur identitätsrelevant, sondern sagt selbst etwas über die Identität des Begehrenden aus – sage mir, was du begehrst und ich sage dir, wer du bist. Jeder Wille zum Wissen, den Michel Foucault beschrieb, ist zugleich ein Wille zur sexuellen Identitätssuche. Die Vorstellung sexueller Identität ist dem modernen Menschen schließlich so unzweifelhaft geworden, dass er Personen verständnislos gegenübersteht, die von sich behaupten, keine sexuelle Identität zu haben, ja noch nicht einmal angeben können, ob sie homo-, hetero- oder wenigstens bisexuell empfinden. Vor allem aber ist der Schluss von sexuellem Begehren und sexuellen Handlungen auf sexuelle Identität selbstverständlich geworden: Im sexuellen Handeln schlägt sich sexuelle Identität ebenso nieder, wie diese zum sexuellen Handeln drängt. Keinesfalls sind jedoch sexuelle Akte und Phantasien bedeutungslos, sondern sie verweisen auf distinkte sexuelle Identitäten: sage mir, was du begehrst…
Insbesondere drei spezifisch moderne Diskurse bringen ein ‚Wissen’ um Sexualität und sexuelle Identitäten hervor und verankern sie im modernen Subjekt: romantische Liebe, Psychiatrie und Pornographie.1 Speziell die beiden letzteren entwickelten Vorstellungen einer von sozialen Bezügen weitgehend entkoppelten Kraft triebhafter Sexualität und schufen Foren und Formen, in denen sich sexuelle Identitäten entwickeln und reflektieren konnten: Psychiatrische Fallgeschichten wie pornographische Inszenierungen wurden – ähnlich wie der Roman im Falle der romantischen Liebe – begierig aufgegriffen und breit rezipiert, weil sie eine Antwort auf die Frage ‚wer bin ich?’ versprachen und zugleich Identifikationsangebote machten, die mit Leben gefüllt werden konnten. Bemerkenswerterweise beobachten sich sexuelle Identitäten und Subkulturen noch immer mittels jenes Klassifikationssystems, das die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts entwickelte. Entscheidender als die Transformation psychiatrischer Klassifikationen in Kategorien der Selbstbeschreibung ist freilich, dass sich auf diese Weise das Konzept der sexuellen Identität tief ins sexuelle Begehren eingeschrieben hat. Zugleich bilden eben jene Identitätsformen den Rahmen, in dem sowohl coming-outs erfolgen als auch Kämpfe um Anerkennung geführt werden.
Sexuelle Revolutionen
Mit der Verankerung von Sexualität, sexuellem Begehren und sexueller Identität im Bild und im Empfinden des modernen Menschen legte das 19. Jahrhundert zugleich die Basis der folgenden sexuellen Revolutionen um 1900, um 1968 und in den 1990er Jahren. Die sexuelle Revolution um 1900 schließt unmittelbar die Etablierung der Sexualität an, schreibt ihre ‚Popularisierung’ fort und gesteht in erster Linie bürgerlichen Männern (außereheliche) sexuelle Freiheiten zu. Bürgerlichen Frauen werden ähnliche Freiheiten hingegen verweigert, sodass bürgerliche Männer auf Sexualpartnerinnen verwiesen wurden, die als Ehegattinnen nicht infrage kamen, also nichtbürgerlichen Schichten angehörten. Die folgende sexuelle Revolution der 1960er Jahre trieb die Herauslösung des Sexuellen aus traditionellen Kontexten ebenso wie die Entkopplung von Sexualität und Reproduktion voran: Sexuelle Lust wurde zum notwendigen wie hinreichenden Motiv sexuellen Handelns erhoben. Einen Teil ihrer Wucht bezog die sexuelle Revolte der 68er Bewegung in Deutschland freilich aus einem historischen Missverständnis. Da ihre Protagonisten die Prüderie ihrer Eltern auf einen Zusammenhang von Faschismus und Sexualverdrängung zurückführten konnte sich die sexuelle Revolution der 68er als zugleich sexuelle wie antifaschistische (Selbst-) Befreiung (miss-) verstehen.2 Dieses Missverständnis erklärt auch die Erwartung, eine Befreiung des Sexuellen würde die gesellschaftliche Ordnung revolutionieren. Die neue Befreiung des Sexuellen zeitigte jedoch recht ambivalente Effekte. Einerseits waren die Sexualitätsvorstellungen der (männlichen) Protagonisten der 68er Bewegung oftmals patriarchal geprägt. Sie war mithin nicht zuletzt eine Revolution von Bürgersöhnen, denen es weniger um sexuelle Gleichberechtigung (von Frauen und sexuellen Minderheiten) als um den sexuellen Zugang zu den Bürgerstöchtern ging. Andererseits spielte die 68er Revolte bei der kulturellen Durchsetzung der Umstellung von einem repressiven Spar- auf einen hedonistischen Konsumkapitalismus eine zentrale Rolle und bereitete so der Kommerzialisierung der befreiten Sexualität den Boden.3 Die 68er Revolte und die Kommerzialisierung des Sexuellen haben die alte Sexualmoral quasi ‚sturmreif’ geschossen; ihre Grundlage ist aber erst durch die Verbreitung verhandlungsmoralischer Konzepte und der Durchsetzung geschlechtlicher Gleichberechtigung erodiert. Während die alte Sexualmoral eine Moral der Akte war, bewertet die neue Konsens- bzw. Verhandlungsmoral allein das Zustandekommen sexueller Interaktionen: Jede sexuelle Handlung ist legitim, wenn alle Beteiligten ihr zustimmen respektive sie konsensuell ausgehandelt haben.4 Die Konsensmoral legt zugleich die Basis für die „neosexuelle Revolution“ der 1990er Jahre, die sexuelle Praktiken, Identitäten und Begehrensformen ans Licht der Öffentlichkeit treten lässt, die wenige Jahre zuvor noch im klinischen Sinne als ‚pervers’ gegolten hätten: Fetischisten, Sadomasochisten, Transsexuelle usw. eroberten Straßen, Talkshows und selbst das seriöse Feuilleton. „Anything goes“ – und solange konsensmoralische Standards eingehalten werden, können die Angehörigen der entsprechenden Szenen mit gesellschaftlicher Toleranz und massenmedialer Umarmung rechnen. Die moderne Gesellschaft hat es offenbar gelernt, mit sexueller Pluralität zu leben und ehemalige Perversionen als sexuelle Lebensstile zumindest zu tolerieren. In diesem Sinne ist der Kampf um sexuelle Anerkennung ebenso an ein Ende gelangt wie das Zeitalter sexueller Revolutionen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Sven Lewandowski (2012). Die Pornographie der Gesellschaft. Beobachtungen eines populärkulturellen Phänomens. im Erscheinen
2 Vgl. Dagmar Herzog (2005). Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. München: Siedler.
3 Vgl. Stefan Micheler (2000). Der Sexualitätsdiskurs in der deutschen Studentenbewegung der 1960er Jahre. Zeitschrift für Sexualforschung 12, 1-39.
4 Vgl. Anthony Giddens (1993). Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Fischer, sowie: Gunter Schmidt (1998). Sexuelle Verhältnisse. Über das Verschwinden der Sexualmoral. Reinbek: Rowohlt.