„Der Mensch ist sein ganzes Leben lang, besonders aber im Augenblick seiner Geburt, einer Kette von Zufälligkeiten unterworfen, über die er nicht die geringste Gewalt hat und die zu seiner Selbstverwirklichung beitragen, indem sie ihm materiell im Wege stehen“. Mit diesem Zitat von Jean Morolleau beginnt der Medizinethiker Giovanni Maio sein bemerkenswertes Buch „Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebenheiten des Lebens und medizin-technischer Gestaltbarkeit“. Das Buch ist nach einer Tagung entstanden, auf der sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Gebiete mit der Frage nach dem historischen und heutigem Verständnis von Schicksal und dem Einfluss dieses Verständnisses auf unser Menschenbild und die Erwartungen an die Medizin gestellt haben. Übereinstimmend stellten sie fest, dass Schicksal heute überwiegend als etwas interpretiert wird, das es zu überwinden gilt, das man nicht einfach so hinnehmen darf, dem man sich nicht ausliefern dürfe. Der moderne Mensch lebe in einer Welt, die davon ausgeht, dass er Selbstgestalter seines Schicksals und Schöpfer seiner selbst sei. Diese These beunruhigt – insbesondere wenn frau sich auch selbst bei Denkfigur ertappt. Eine unsystematische Prüfung sowohl bei Weiterbildungsveranstaltungen von Lehrerinnen und Lehrern als auch im Ethik-Unterricht ergibt meist, dass tatsächlich fast alle Beteiligten bei der Aufforderung einen Satz zum Stichwort „Schicksal“ zu schreiben, Dinge wie „das darf man nicht einfach so hinnehmen“, „damit muss man sich auseinandersetzen“, „dagegen muss man ankämpfen“ formulieren. Schicksal wird also heute überwiegend als etwas betrachtet, was nicht sein darf.
Welche Bedeutung hat nun ein solches Verständnis von Schicksal für die Medizin beziehungsweise unsere Erwartungen an sie? Das Fazit der Autorinnen und Autoren oben genannten Buches zu dieser Frage ist, dass die heutige Medizin Patientinnen und Patienten meist darin bestärke, etwas abzuwehren beziehungsweise zu verändern (das große Spektrum der sogenannten wunscherfüllenden Medizin) anstatt ihm auch dazu zu verhelfen, etwas anzunehmen, damit zu leben. Diese Entwicklung entspricht zunächst durchaus dem Ziel von Medizin und Weiterentwicklung von heilkundlichem Wissen und Können. Sie führt hat aber auch zu einer „Ära des exzessiven Machbarkeitsstrebens“ der modernen Medizin geführt. Deshalb so Maio, müsse der modernen Medizin neu zu Bewusstsein kommen, dass Hilfe in der Medizin auch bedeuten könne, dem Patienten zur Annahme des Notwendigen, also des Schicksals, zu verhelfen. Eine Gesellschaft ohne Schicksal sei eine Gesellschaft ohne Gnade; eine Medizin, die kein Schicksal zulassen würde und alles planbar machen möchte, habe als Ideal nicht das menschliche Leben im Blick, sondern die perfekt einstellbare Maschine. Dies gelte insbesondere für Beschaffenheit der Nachkommen.
Bereits jetzt hat sich durch diese Entwicklung unser Verständnis von verantwortlicher Elternschaft verändert. Verantwortung wird überwiegend als Nutzung aller vorhandenen technischen Möglichkeiten verstanden – im hier diskutierten Zusammenhang dann auch noch als Verhinderung/“Verwerfen“ genetisch vorbelasteter befruchteter Eizellen. So unterscheiden Thomas Lemke und Regine Kollek in Heft 1/2012 der impulse für die Gesundheitsförderung in einem Artikel zum Thema „Prädikative Gentests und ihre Folgen“, drei Dimensionen von „genetischer Verantwortung“: Reproduktionsverantwortung, Informationsverantwortung und Eigenverantwortung. Erstere interpretieren sie als „Verhinderung der Weitergabe genetischer Risiken“. Weiter heißt es: „Mit der Redefinition von Gesunden als genetische Risikopersonen wachsen die Anforderungen an die Einzelnen, ein umfassendes Risikomanagement zu betreiben“. Studien in verschiedenen Ländern hätten den Nachweis erbracht, dass dieses zunehmende genetische Wissen zu neuen Formen von Ausgrenzung, Benachteiligung und Stigmatisierung führt – im Arbeitsleben, bei Versicherungsverträgen bis hin zu Schwierigkeiten bei Adoptionsagenturen. Dies ins Stammbuch derer, die in Deutschland in dieser Debatte permanent und pauschal wiederholen, dass die These zur zunehmenden Diskriminierung durch die empirische Sozialforschung widerlegt und die Akzeptanz und Fürsorge gegenüber behinderten Menschen gestiegen sei. In der Stellungnahme des deutschen Ethikrates zur Pränataldiagnostik aus dem Jahre 2011 heißt es in einem speziellen Abschnitt „Zum Einwand der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung“: „Auch zeigen Meinungsumfragen überwiegend eine wachsende Zustimmung zur Integration von Menschen mit Behinderung. Eingeräumt wird aber auch von Vertretern dieser Argumentation, dass daraus keine Rückschlüsse auf Veränderungen in der persönlichen Akzeptanz und Wertschätzung der Einzelnen gezogen werden können“.
Diese mangelnde Akzeptanz findet sich unter anderem im Ethik-Unterricht. Berufsschülerinnen und -schüler äußern unumwunden, dass sie nicht bereit seien, in einer solidarischen Krankenversicherung auch für die Behandlung behinderter Menschen mit zu bezahlen. Deutschland möge doch endlich das private Versicherungsmodell durchsetzen, wo jeder nur noch für sich selbst verantwortlich sei.
Friedrich Dürrenmatt schreibt in seinen „Phyikern“: „Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer trifft sie der Zufall“. Welche Rolle spielt heute noch der Zufall in unserem Leben? Längst sprechen wir von Familienplanung – und es wird zu Recht als Freiheitsgewinn der Frau interpretiert, dass sie Zeitpunkt, Anzahl und Geburtsort, die Hilfe durch Arzt oder Hebamme selbst bestimmen kann. Gleichzeitig wird in der feministischen Bewegung auch thematisiert, ob diese ganzen neuen Reproduktionstechnologien tatsächlich einen Freiheitsgewinn für die Frauen darstellen.
Freiheit wird jedoch hier sehr häufig nur als Freiheit „von“ etwas begriffen, nicht auch als Freiheit „zu“. Von Bernard Williams stammt der Satz, dass die Tatsache, dass man nicht alles weiß, eine Bedingung für das eigene Leben ist. Folgendes Gedankenexperiment kann dies veranschaulichen: Stellen Sie sich als Leser oder Leser vor, Sie wüssten bereits jetzt, in welchen Stau Sie heute noch geraten, mit welchen Worten Sie zu Hause empfangen werden, wohin Sie in fünf Jahren in den Urlaub fahren, welche Menschen Sie in zehn Jahren kennen lernen... Ist eine solche Vorstellung nicht nur verstörend, sondern geradezu ein Horrorszenario? Mit Michael Wunder hat die Autorin (sicher nicht zufällig in Altrehse) diskutiert: Gibt es nicht ein Menschenrecht auf Zufall? Auch bei der Geburt beziehungsweise in meinem So-Sein?
Wenn man dies verneint, stellt sich die Frage, was es für das Bewusstsein eines Menschen bedeuten würde zu wissen, dass seine Eltern fest entschlossen waren, ihn zu verwerfen, wenn er einen Gendefekt gehabt hätte? Meines Erachtens führt es zu einem Grundgefühl der lediglich bedingten Annahme und zu dem Gedanken, dass man seinen Eltern möglicherweise nicht mehr genügt, wenn man krank wird...
Damit stellt sich die Frage nach weiterreichenden gesellschaftlichen Folgen bei Einführung dieser Technologie „mit Erlaubnisvorbehalt“. Es geht hier eben keinesfalls im 200 Paare – sondern es gehört eben zu den Dilemmas bei sexuellen und reproduktiven Rechten, dass diese einerseits individuelle Angelegenheit darstellen und es anderseits schon immer gesellschaftliche Regelungsversuche gegeben hat und geben wird. Zweifellos ist der Wunsch nach einem eigenen Kind, das gesund sein möge, menschlich verständlich und berechtigt. Individuell ist es daher sicher vielfach eine Tragödie, wenn dieser Wunsch nicht in Erfüllung geht. Ein Staat kann und wird jedoch niemals jedes individuelle Problem seiner Bürgerinnen und Bürger lösen können. Die subjektive Not einzelner Paare muss stets mit den Folgen solcher Entscheidungen für die gesamte Gesellschaft abgewogen werden: Welche Folgen hätte die „Gestaltung von Menschen nach Maß“ für die Zukunft, für unser Menschenbild, für unsere Wertmaßstäbe gegenüber behinderten Menschen beziehungsweise Eltern, die sich bewusst für ein behindertes Kind entscheiden? Ja für die Anstrengungen und Regelungen zur Unterstützung dieser Menschen durch die Gesellschaft?
Im Sinne der Aufklärung formulierte G. Maio in einem anderen Text folgende vier Fragen: „Kann ich vernünftigerweise wollen, dass diese Praxis zur allgemeinen Regel, zum allgemeinen Gesetz werden könnte? Kann ich mir widerspruchsfrei ein Gesetz denken, das die bewusste Erzeugung von Embryonen an eine ‚Prüfbehörde’ erlaubt mit mitgelieferter Genehmigung zur Aussortierung der nicht gewünschten Embryonen? Kann ich ohne logischen Widerspruch haben wollen, dass menschliches Leben auf Vorrat gezeugt und dass nur ein Bruchteil dieser Embryonen für erhaltenswert gehalten wird? Kann ich als lebender Mensch überhaupt ein Gesetz denken, wonach jeder Mensch unverfügbar ist, und gleichzeitig die PID denken, die dieses unverfügbare Leben der totalen Verfügbarkeit zuführt?“
Er hat diesen Text in der universitas überschrieben:„’Ein Akt der Humanität’? Die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik als politische und ethische Resignation“. Diese Fragen bedürfen dringend der weiteren Diskussion und nicht der Resignation!