Darwins Bedeutung für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften steht außer Frage. Aufgrund der sozialdarwinistischen Interpretation seiner Werke wird er jedoch in linken Zusammenhängen oft kritisch beäugt. Ian Angus wagt anlässlich des diesjährigen Darwin-Jubiläums eine Wiederannäherung an seine materialistische Naturgeschichte und widmet sich den (politischen) Auseinandersetzungen in den Wissenschaften seiner Zeit.
2009 ist in zweifacher Hinsicht ein Jubiläum für
Charles Darwin: Am 12. Februar würde er seinen zweihundertster Geburtstag
feiern und am 24. November jährt sich die Veröffentlichung seines Hauptwerks,
eines Buchs, das bis zum heutigen Tag kontrovers diskutiert wird. Obwohl
Darwins politische Ansichten wenig radikal waren, beförderten seine
Erkenntnisse die Durchsetzung materialistischer Wissenschaften, die als
Grundlage eines sozialistischen Weltverständnisses begriffen werden können und
trugen damit zur Entwicklung marxistischer Theorien bei.
„Die Grundlage für unsere Ansicht“
Die erste Auflage von Über die Entstehung der Arten (On the Origin
of Species) bestand aus nur 1.250 Exemplaren und war bereits am ersten Tag
ausverkauft. Eines dieser Exemplare erwarb Friedrich Engels, der damals in
Manchester lebte. Drei Tage später schrieb er in einem Brief an Karl Marx:
„Übrigens ist der Darwin, den ich jetzt gerade lese, ganz famos. Die Teleologie
war nach einer Seite hin noch nicht kaputt gemacht, das ist jetzt geschehn.
Dazu ist bisher noch nie ein so großartiger Versuch gemacht worden, historische
Entwicklung in der Natur nachzuweisen, und am wenigsten mit solchem Glück.“1
Marx las Über die Entstehung der Arten ein Jahr später und war genauso
enthusiastisch. Er nannte es, „das Buch, das die naturhistorische Grundlage für
unsere Ansicht enthält.“2 In einem Brief an den deutschen Sozialisten
Ferdinand Lassalle schrieb er: „Sehr bedeutend ist Darwins Schrift und passt
mir als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen
Klassenkampfes…Trotz allem Mangelhaften ist hier zuerst der ‚Teleologie‘ in der
Naturwissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, sondern der rationelle Sinn
derselben empirisch auseinandergelegt.“3
Marx legte 1862 großen Wert darauf, einen öffentlichen Vortrag über Evolution
von Thomas Huxley, einem engen Mitarbeiter Darwins, zu besuchen und forderte
seine politischen Mitstreiter auf, ihn zu begleiten. Wilhelm Liebknecht, ein
Freund und Genosse, der Marx’ Familie oft in London besuchte, erinnerte sich
später: „[A]ls Darwin die Konsequenzen seiner Forschung zog und sie der
Öffentlichkeit vorlegte, da war bei uns monatelang von nichts anderem die Rede
als von Darwin und der umwälzenden Gewalt seiner wissenschaftlichen
Eroberungen”.4
Obwohl Marx und Engels verschiedene Aspekte seiner „plumpen englischen Methode“
(MEW 29, 524) kritisierten, zeigten sie lebenslang höchsten Respekt für Darwins
wissenschaftliche Arbeit.5 Im Kapital beschrieb Marx Über
die Entstehung der Arten als „epochemachendes Werk“.6 1872 sandte Marx Darwin eine
Kapital-Ausgabe, unterschrieben „von einem aufrichtigen Verehrer, Karl Marx“.7
Schließlich verglich Engels die Werke in Marx‘ Grabrede 1883: „Wie Darwin das
Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das
Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte“.8
Im Lichte Darwins sonnen
Einst als gefährlicher Atheist verdammt, ist Charles Darwin heute nicht nur
Gegenstand großer Verehrung, sondern auch Gegenstand einer akademischen und
kommerziellen „Darwin-Industrie“ mit unzähligen neuen Büchern und Artikeln über
jeden möglichen Aspekt seines Lebens und Werks.
Nachdem sich Marx und Engels nicht dieser Popularität erfreuen, ist es nicht
verwunderlich, dass einige ProtagonistInnen der Darwin-Industrie vehement gegen
eine Verbindung zwischen Darwinismus und Marxismus argumentieren. Marx und
Engels, so das Argument, versuchten sich ungerechtfertigterweise im Lichte
Darwins zu sonnen. So etwa:
Allan Megill argumentiert, dass „Marx und Engels sich zu Propagandazwecken auf
Darwin beriefen“. Aber jeder Eindruck, dass Darwinsche Evolution und Marxismus
ähnlich seien, sei „vollkommen falsch.“9
Naomi Beck behauptet, dass „Darwin’s Theorie“ für Marx und Engels „nur als
Vorwand fungierte und in Wirklichkeit nicht mit ihren Ansichten verbunden war.“
Engels Vergleich zwischen Marx und Darwin war ein opportunistischer Versuch,
„Marx’ unabhängigen wissenschaftlichen Status als ebenbürtig zu Darwin zu
etablieren.“10
D.A. Stack sieht Engels Bemerkungen an Marx’ Grab als Teil einer
„provinziellen, propagandistischen Kampagne […] sich im Lichte Darwins zu
sonnen[…]Der Begriff darwinistisch wurde als Ehrentitel gebraucht, nichts
weiter.“ Engels versuchte eifrig, „Marxismus im Schein des Darwinismus glänzen
zu lassen.“11
Hier ist schwer festzustellen, was schlimmer ist: der Zynismus, Engels zu unterstellen,
er hätte das Begräbnis seines lebenslangen Freundes als Anlass genommen, einen
läppischen politischen Vorteil herauszuschlagen, oder die Ignoranz, die diese
AutorInnen den revolutionären Implikationen des Darwinismus und der Bedeutung
der Naturwissenschaften für marxistische Theorie gegenüber an den Tag legen.
JedeR, der/die sich ernsthaft mit den Arbeiten von Marx, Engels und Darwin
auseinandersetzt, kann erkennen, dass auch wenn er/sie letzerem nicht
vorbehaltlos zustimmt, Marx aus dessen Theorien wichtige Einsichten gewinnt und
in ehrlicher Bewunderung über sein Hauptwerk schrieb, sie enthalte „die
naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht“. Um den diesbezüglichen
Marx´schen Ansatz zu verstehen, ist eine kontextualisierte Beschäftigung mit
Darwins Schriften nötig, die den radikalen Bruch mit den dominanten Ideen
seiner Zeit verdeutlicht.
Ein unwahrscheinlicher Revolutionär
Dass Charles Robert Darwin als Revoltionär in die Geschichte eingehen sollte,
war gelinde gesagt unwahrscheinlich. Sein Vater war ein bekannter Physiker und
reicher Investor; sein Großvater war Josiah Wedgwood, Gründer einer der größten
Manufakturen Europas. Er hatte also keine finanziellen Sorgen in seinem Leben
zu erwarten. 1825 schickte ihn sein Vater zum Medizinstudium an die Universität
Edinburgh, aber Darwin war mehr daran interessiert die Natur zu studieren, ein
Fach, das an keiner englischen Universität gelehrt wurde. Nach zwei Jahren
verließ er die Universität Edinburgh und wechselte nach Cambridge, um
anglikanischer Priester zu werden – ein respektabler Beruf, der ausreichend
Freizeit ließ um Käfer zu sammeln, Vögel auszustopfen oder nach Fossilien zu
suchen. (Das klingt ungewöhnlicher, als es damals war. Die meisten
Naturforscher der damaligen Zeit, die an Oxford oder Cambridge lehrten, waren
anglikanische Priester. Der Klerus studierte die Natur nicht als Selbstzweck
sondern als Beitrag zur „Naturtheologie“ – dem Verständnis Gottes durch das
Studium seines Werkes.)
Darwin scheint ein kompetenter Theologiestudent gewesen zu sein, aber besonders
beeindruckte er die Lehrenden der Wissenschaften. Nach seinem Abschluss 1831
nahm ihn ein Professor auf eine dreiwöchige geologische Expedition in den
Norden von Wales mit. Später empfahl ihn sein Botanikprofessor Robert Fitzroy,
einem Kapitän der Royal Navy, der auf der Suche nach einem ehrenwerten
Wissenschaftler, a gentleman naturalist, als unbezahlte Begleitung für
eine Erkundungsreise nach Südamerika und den Südpazifik war.12
So fing alles an. Am 27.Dezember 1831 bestieg Charles Darwin das britische
Erkundungsschiff HMS Beagle. Er reiste viel komfortabler als die
Besatzung: aß mit dem Kapitän, wurde von einem Diener begleitet und hatte
ausreichend Geldmittel (von seinem Vater), um an Land komfortabel zu wohnen.
Trotzdem war es keine Erholungsreise; er führte aufwendige und detaillierte
geologische Studien durch, schrieb tausende Seiten wissenschaftlicher
Beobachtungen und sammelte fossile und lebende Exemplare von mehr als 1.500
Arten.
Ketzerei
Als er England verließ scheint Darwin ein konventioneller Christ gewesen zu
sein, einer Meinung mit der „großen Mehrzahl der Naturforscher,[die] glaubten,
die Arten seien unveränderlich und jede einzelne sei für sich erschaffen
worden.“13 Deisten und fundamental Bibeltreue waren
sich einig, dass die Arten durch das göttliche Gesetz bestimmt waren. Hunde
mögen sich in ihrer Erscheinung unterscheiden, aber Hunde verwandeln sich nicht
in Schweine oder gebären Katzen.
Nach fünf Jahren wissenschaftlicher Forschung auf der Beagle und zwei
weiteren Studienjahren daheim kam Darwin zu der ketzerischen Schlussfolgerung:
Die Arten sind nicht unveränderlich. Alle Tiere stammen von gemeinsamen
Vorfahren ab und unterschiedliche Arten sind Ergebnis von graduellen
Veränderungen über Millionen von Jahren. Gott hatte damit nichts zu tun.
Es ist heute schwer nachvollziehbar, wie erschreckend diese Idee für die
Mittel- und Oberklasse zu Darwins Zeiten gewesen sein muss. Religion war nicht
nur das „Opium des Volkes“ – es gab den Reichen auch eine moralische
Rechtfertigung für ihr privilegiertes Leben in einer Welt des fortwährenden
Wandels und der grassierender Ungleichheit.
Eine der beliebtesten Hymnen des viktorianischen Zeitalters drückt die
Verbindung zwischen Gott dem Erschaffer allen Lebens und Gott, dem Bewahrer von
gesellschaftlicher Ordnung und Stabilität klar aus:
All things bright and beautiful,
All creatures great and small,
All things wise and wonderful,
The Lord God made them all.
Each little flower
that opens,
Each little bird that sings,
He made their glowing colors,
He made their tiny wings.
The rich man in his castle,
The poor man at his gate,
God made them, high or lowly,
And order’d their estate.
All things bright and beautiful wurde 1848 veröffentlicht, kurz nachdem eine Hungersnot mehr als eine Million Menschen in Irland hingerafft hatte und während eine Welle revolutionärer Aufstände Europa erfasste. Angesichts solcher sozialen Krisen lehrten Hymnen wie diese und dazugehörige Gebete den Reichen wie den Armen, dass der Status Quo vorherbestimmt ist. JedeR, der/die Gottes Wort anzweifelte, bedrohte daher die zerbrechliche gesellschaftliche Ordnung.
Das „Geheimnis aller Geheimnisse“
Nichtsdestotrotz wussten die meisten gebildete Menschen, so auch Darwin,
bereits in den 1830er Jahren, dass die Schöpfungsgeschichte nicht wortwörtlich
stimmte. Die Expansion des Kapitalismus im 18. Jahrhundert hatte zur Ausweitung
von Bergbauund Kanalbauten geführt; diese Arbeiten legten geologische Schichten
und alte Fossilien frei, die bewiesen, dass die Erde mehrere Millionen Jahre
alt war – nicht die sechstausend Jahre, die ihr die Bibel zugestand. Darüber
hinaus zeigten fossilen Funde, dass heute unbekannte Tiere früher verbreitet
waren, während heute lebende Tiere erst relativ spät auftauchten. Dies
widersprach der Behauptung der gleichzeitigen göttlichen Erschaffung aller
Arten. Gleichzeitig beförderte der Imperialismus weltweite Expeditionen und die
Entdeckung einer Pflanzen- und Tierwelt, vielfältiger als sie sich irgendeinE
EuropäerIn je vorgestellt hätte – viel mehr als in Eden gelebt oder auf Noahs
Arche Platz finden hätten können. In den 1830ern stimmten Wissenschaftler
überein, dass es nur zwei mögliche Erklärungen für die gesammelten Funde gäbe.
Der einflussreiche Cambridge Professor William Whewell fasst die Möglichkeiten
zusammen:
Entweder müssen wir die Doktrin der Umwandlung der Arten akzeptieren und
annehmen, dass die Arten einer geologischen Epoche in die einer anderen Epoche
durch die lange, kontinuierliche Wirkung natürlicher Ursachen umgewandelt
wurden; oder wir glauben an sukzessive Schöpfungs- und Extinktionshandlungen,
außerhalb des gewöhnlichen Gangs der Natur; Handlungen, die wir daher
richtigerweise als Wunder bezeichnen können.14
Whewell, wie jeder andere respektierte Wissenschaftler dieser Zeit, zweifelte
nicht an der Antwort: Tiere wie Pflanzen mögen in Reaktion auf externe Umstände
variieren, aber „die äußerste Grenze der Variation ist meist in kurzer Zeit
erreicht: D.h., Arten haben eine reale Existenz in der Natur, und eine Veränderung
von einer in die andere existiert nicht.“15
Wenn die Arten sich nicht mit der Zeit verändern können, können die
Fossilberichte nur durch Wunder erklärt werden. Aber wie hat Gott das gemacht?
Wie sieht der Prozess der göttlichen Schöpfung auf Erden eigentlich aus? „Der
Austausch ausgestorbener zu anderen Arten“ war, so schrieb der Astronom John
Herschell, „das Geheimnis aller Geheimnisse.“16
Während einige Wissenschaftler und Theologen darauf bestanden, dass Gott
persönlich jedes Mal, wenn eine neu Spezies benötigt wurde, eingreifen muss,
waren andere überzeugt, dass der Schöpfer das Universum so konzipiert hat, dass
neue Arten durch „sekundäre Ursachen“, wie z.B. natürliche Umstände, erschaffen
werden, wann immer sie gebraucht würden.
Besonders bemerkenswert ist heute die Tatsache, dass „von Gott geschaffen“
nicht nur eine akzeptable Antwort auf schwierige Fragen darstellte, sondern
dass dieser Ansatz als Standard wissenschaftlicher Methode angesehen war.
Selbst Wissenschaftler, die glaubten die Natur könne vollständig durch
natürliche Gesetze erklärt werden, glaubten daran, dass Gott diese Gesetze einsetzte,
um den Fortlauf der Schöpfung nach seinem Willen sicherzustellen.
Evolution vor Darwin
Dass es das wissenschaftliche Establishment für notwendig befand, die
„Umwandlung von Arten“ heftig zu bestreiten, zeigt dass nicht alle damit
übereinstimmten, dass sich Arten nicht verändern können.
Ein nennenswertes Beispiel ist Charles Darwins Großvater Erasmus Darwin. Er
beschrieb sowohl in seinem Buch „Zoönomia“ 1794 als auch 1803 in dem buchlangen
Gedicht ‚The Temple of Nature‘ etwas Ähnliches wie Evolution. Seine Vorstellung
von Evolutions scheinen keinen Einfluss auf irgendjemand gehabt zu haben –
Charles Darwin führt dies später auf „[ein] Übermaß an Spekulation im
Verhältnis zu den gegebenen Fakten“ zurück.17 Andere stellten ähnliche Spekulationen an,
doch vor Darwin schlugen nur zwei Autoren ausgearbeitete Theorien zum
Artenwandel über die Zeit vor: Jean-Baptiste Lamarck und Robert Chambers.
Lamarck wurde in den 1790ern zum Vorstand des Instituts für
Wirbellosenforschung des Muséum National d’Histoire Naturelle in Paris
ernannt, als Frankreichs revolutionäre Regierung die wissenschaftlichen
Institutionen des Landes umorganisierte. Im frühen 19.Jahrhundert argumentierte
er, dass heute lebende Tiere Nachfahren von weniger komplexen Vorfahren seien.
Anders als Darwin ging Lamarck nicht von gemeinsamen Vorfahren aus. Er
entwickelte ein komplexes Modell, in dem jeder Organismustyp einen eigenen
evolutionären Prozess durchmachte. Die Natur erschaffe andauernd und spontan
neue evolutionäre Linien, angefangen mit einzelligen Tieren, die einen
inhärenten Trieb besitzen, über die Zeit komplexer oder perfekter zu werden.
Schlussendlich erreichen sie, wenn der Aufstieg nicht unterbrochen wird, die
Spitze der Perfektion als menschliche Wesen.
Aber der Aufstieg wird oft von Umweltveränderung en unterbrochen, auf welche
die Spezies reagieren müssen. Giraffen entwickeln lange Hälse, um hohe Blätter
zu erreichen, während Fische, die in Höhlen leben, blind werden, weil sie ihre
Augen nicht benutzen. Diese Veränderungen werden an die Nachfahren
weitergegeben. Laut Lamarck stellt dies einen sekundären Prozess dar, aber der
Begriff „Lamarckismus“ wurde seitdem mit „Vererbung erworbener Eigenschaften“
gleichgesetzt.
Die Ansicht Lamarcks erhielt in Frankreich wenig Unterstützung von anderen
WissenschaftlerInnen. In England entstand eine kleine aber bedeutende
lamarckistische Untergrund-Strömung, getragen von radikalen DemokratInnen,
SozialistInnen und Säkularen zwischen 1820 und 1850. Viele nutzten
lamarckistische Argumente, um den undemokratischen englischen Staat und die
anglikanische Kirche zu kritisieren.
Versatzstücke von Lamarcks Evolutionstheorie – die ein Modell eines
rücksichtslosen, „von unten“ angetriebenen Aufstiegs lieferten – tauchten in
der Presse auf. Lamarcks Ansicht, dass sich Tiere aus eigener Anstrengung in
etwas Höheres verwandeln und diese Errungenschaften weitergeben können – alles
ohne göttliche Hilfe – gefiel den aufständischen ArbeiterInnenklassen. Seine
Ideen wurden in illegalen Boulevardblättern verbreitet, wo sie mit Forderungen
nach Demokratie und Angriffen auf den Klerus vermischt wurden.18
Viel einflussreicher auf die breite öffentliche Meinung in England war das
Erscheinen des Buchs Vestiges of the Natural History of Creation, das 1844
von Robert Chambers, einem Zeitschriftenherausgeber und Amateurgeologen aus
Edinburgh, anonym veröffentlicht wurde. Er führte die gesamte Geschichte
des Universums auf ein von Gott bestimmtes „Gesetz der Entwicklung“ zurück, das
Sterne, Planeten und schließlich das Leben hervorbrachte. Nachdem das erste
Leben auf Erden spontan auftauchte, stiegen Tiere und Pflanzen die Lebensleiter
hinauf. „Es gefiel der Vorsehung, es so zu arrangieren, dass eine Art eine
andere gebar, bis die zweithöchste den Mensch gebar, der die allerhöchste ist“.19
Chambers meinte „gebären“ wörtlich. Aufbauend auf der Theorie, dass Embryos
Stadien durchlaufen, die ähnlich den adulten Stadien primitiverer Tiere sind,
schloss er, dass, sobald es Zeit für eine neue Art war, weibliche Tiere ihre
Schwangerschaftszeit verlängern konnten. Dadurch käme der Nachwuchs als neue
Spezies auf einer höheren Stufe zur Welt.
Im Allgemeinen vom wissenschaftlichen Establishment verurteilt und heute fast
vergessen, war Vestiges dennoch ein sensationeller Bestseller. Vor Über
die Entstehung der Arten war Vestiges das einzige Buch zur Evolution, das
wohl die meisten BritInnen gelesen hatten.20
Essentialismus und Teleologie
Wie gezeigt werden konnte, provozierten die wissenschaftlichen Entdeckungen des
späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts weitläufige
Spekulationen über Herschells „Geheimnis aller Geheimnisse.“ Viele
WissenschaftlerInnen und Laien präsentierten ihre Ansichten darüber, wie das
augenscheinliche Aussterben und Auftauchen neuer Arten erklärt oder wegerklärt
werden konnte. Während sich die Erklärungsmodelle unterschieden, fußten sie
doch alle auf einer gemeinsamen Ideologie: das Zwillingskonzept von
Essentialismus und Teleologie.
Essentialismus basiert auf dem ersten Gesetz der formalen Logik
(Identitätssatz): ein Ding ist immer gleich seiner selbst, A ist immer A. Das
ist eine nützliche, ja oftmals notwendige Annahme, aber sie vernachlässigt die
tatsächliche Veränderung – dass über die Zeit alle Dinge verfallen, sich
umformen oder zusammenfallen, so dass A sich in etwas verändert, das nicht mehr
A ist. In der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts nahmen EssentialistInnen
an, dass die Definition oder Idee einer Spezies wichtiger, sogar realer ist,
als der spezifische Organismus, den wir tatsächlich untersuchen können. Eine
Spezies ist ein konstanter, unveränderlicher Typ – die in der Natur
beobachteten Variationen sind zufällig und vergänglich.
Wie erwähnt glaubte William Whewell fest daran, dass „Spezies eine wahre
Existenz in der Natur besitzen, und ein Übergang von einer in die andere nicht
existiert.“ Charles Lyell, ein führende Geologe seiner Zeit, widmete einige
Kapitel seines wichtigsten Buchs Principles of Geology einer Kritik an
Lamarcks Ideen des Artenwandels. Wie Stephan Jay Gould zeigt, basiert Lyells
Argument nicht auf einer tatsächlichen
Untersuchung der Natur, sondern auf seiner essentialistischen Philosophie:
„Lyells Gegenargument zu einem Modell der Evolution als unmerklichem Übergang
zwischen Arten basiert auf der Betrachtungsweise von Spezies als Entitäten,
nicht Tendenzen; Dingen, nicht beliebigen Elementen eines fließenden Übergangs.
Arten tauchen zu bestimmten Zeiten in bestimmten Regionen auf. Sie sind, wenn
man so will, Elemente mit einem spezifischen Ursprung, haben während der
gesamten Dauer ihrer Existenz einen unveränderlichen Charakter und schließlich
einen definierten Moment ihrer Auslöschung.“21
Es ist offensichtlich, dass diejenigen, die Evolution ablehnten,
essentialistische Ansichten hatten. Aber auch Modelle wie das von Chambers, in
dem ein Organismus einer Art eine andere Art auf die Welt bringt, waren ebenso
essentialistisch. In ihrer Sicht von Evolution veränderten sich Arten nicht,
sondern eine natürliche Art wurde vollständig durch eine neue ersetzt.
Teleologie ist der Glaube, dass alle Dinge für ein bestimmtes
Endergebnis gestaltet oder inhärent darauf ausgerichtet sind. Vögeln wurden
Flügel gegeben, damit sie fliegen können, Giraffen hatten lange Hälse, um hohe
Blätter erreichen zu können und die Erde wurde als Ort erschaffen, an dem
Menschen leben können. Die Idee, dass die Erde und alle Lebewesen von Gott
geplant wurden, um seine göttlichen Ziele zu erreichen, war allgemein von den
führenden Philosophen und Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts akzeptiert.
Anerkannte Denker behaupteten, dass Kohlevorkommen in England niedergelegt
wurden, um später von der Industrie verwendet werden zu können oder dass die
Tatsache, dass der Lebenszyklus der meisten Pflanzen der Dauer einer
Sonnenumkreisung gleicht, ganz offensichtlich auf einen göttlichen Plan
hinweist. Selbst Lamarck, der Gott nicht in seine Theorien integrierte,
behauptete, dass es eine geheimnisvolle Kraft gab, die alle Organismen zu
höherer Perfektion trieb, bis sie die Perfektion des Menschen erreichten.
Natürliche Selektion
In Über die Entstehung der Arten argumentierte Darwin, dass drei
Faktoren bei der Entstehung neuer Arten zusammenwirken: Populationsdruck,
Variation und Vererbung, und natürliche Selektion.
Populationsdruck: Alle Organismen tendieren dazu, mehr Nachkommen zu zeugen
als in der lokalen Umwelt überleben können. Viele Individuen sind nicht in der
Lage, zu überleben oder sich fortzupflanzen.
Variation und Vererbung: Es gibt viele Variationen zwischen den Mitgliedern
einer bestimmten Population: keine zwei Individuen sind exakt gleich. Die
meisten dieser Variationen sind vererblich – d.h. sie werden an die Nachkommen
der jeweiligen Individuen weitergegeben. Während viele dieser Variationen nicht
entscheidend sind (z.B. Augenfarbe), werden manche die Überlebens- und
Reproduktionschancen eines Individuums erhöhen oder vermindern.
Natürliche Selektion: Individuen mit vorteilhaften Merkmalsvariationen
tendieren dazu, mehr Nachkommen als der Durchschnitt zu haben; diejenigen mit
unvorteilhaften Variationen tendieren zu weniger Nachkommen. Im Ergebnis werden
unvorteilhafte Variationen über lange Zeitperioden dazu tendieren, sich zu
verringern, während vorteilhafte Variationen häufiger werden.
Diese Thesen implizieren eine vollkommen andere Erklärung der langen
Giraffenhälse. Im Gegensatz zu Lamarck ging Darwin davon aus, dass die
Vorfahren von Giraffen unterschiedlich lange Hälse hatten. Diejenigen mit
längeren
Hälsen konnten mehr Blätter erreichen als diejenigen mit kürzeren. Besser
genährt wurden sie stärker, tendierten dazu, länger zu leben und hatten mehr
Nachkommen – über die Zeit nahm die durchschnittliche Halslänge in der gesamten
Population zu. Anders als Lamarck und Chambers spekulierte Darwin nicht
einfach. Seine „Theorie einer Abstammung mit Modifikationen durch Abänderung
und natürliche Zuchtwahl“22 wurde in Jahren sorgfältiger Studien und
Experimente entwickelt und verfeinert. In seinem Haus imländlichen Kent südlich
von London untersuchte er unterschiedlichste Arten von Tieren, züchtete Tauben
und experimentierte mit Pflanzenkeimen und Samenverbreitung. Darüber hinaus
diskutierte er mit und lernte von Menschen mit Praxiswissen – Wildhütern,
Taubenbesitzern, Schaf- und Viehzüchtern, Gärtnern und Zoowärtern.
Diese materialistischen Methoden brachten ihn zu einer durchwegs materialistischen
Theorie – zu einer Zeit, als Materialismus in respektablen Kreisen nicht
einfach unbeliebt war, sondern als subversiv und politisch gefährlich
betrachtet wurde. Als er zwischen 1838 und 1848 erstmals seine Ideen
ausarbeitete, wurde England von einer ungekannten Welle von Massenaktionen,
politischen Protesten und Streiks erfasste. Radikale Ideen – materialistische,
atheistische Ideen – wurden von vielen innerhalb der ArbeiterInnenklasse
diskutiert und das Bevorstehen eines revolutionären Wandels wurde erwartet
(oder gefürchtet). Darwin war selbst nie aktiv in Politik involviert. Er war
aber aus der privilegierten, reichen Mittelklasse und diese Klasse war unter
Beschuss. Wie John Bellamy Foster schreibt: „Darwin glaubte fest an die
bürgerliche Ordnung. Seine Wissenschaft war revolutionär, aber Darwin als
Mensch war es nicht.“23
Darwin wollte nicht mit den Radikalen identifiziert und möglicherweise von
seinen wissenschaftlichen Kollegen geächtet werden; deshalb schrieb er 1844
eine 270-seitige Darstellung seiner Theorie, fügte einen Brief hinzu in dem er
seine Frau bat, sie zu veröffentlichen, falls er sterben sollte, und erzählte
ansonsten niemandem davon. Zwischen 1844 und 1854 verfasste er statttdessen
Reiseberichte, wissenschaftliche Bücher über Korallenriffs und Vulkaninseln und
einen ausführlichen vierbändigen Bericht über Rankenfußkrebse. Erst Mitte der
1850er, als seine wissenschaftliche Reputation gesichert war und die
gesellschaftlichen Unruhen der 1840er vorbei zu sein schienen, widmete er sich
wieder dem Thema, für das er heute bekannt ist.
Selbst zu diesem Zeitpunkt hätte er die Veröffentlichung wahrscheinlich noch
weiter verschoben, hätte ihm nicht ein junger Naturalist namens Alfred Russel
Wallace ein Essay mit ähnlichen Ideen wie den seinen geschickt. Auf Druck von
Freunden legte Darwin das „große Buch über die Arten“ zur Seite, an dem er
arbeitete, und bereitete vor, was er ein Abstract nannte. Über die
Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der
begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein erschien im November 1859.
Gegen die Wissenschaften seiner Zeit
Darwin wälzte die fundamentalen Konzepte der Wissenschaften des 19.Jahrhunderts
um. Er verwarf den Essentialismus: „Ich [halte] die Bezeichnung ‚Art’ für
willkürlich, gewissermaßen aus Bequemlichkeit auf eine Reihe von
Individualitäten angewendet, die einander sehr ähnlich sind.“24
Eine Art ist kein Ding und Veränderung bedeutet nicht die Umwandlung oder den
Austausch dieses Dings. Eine Art ist eine Population realer, konkreter
Individuen. Variationen sind keine Ausnahmen oder Abweichungen von der Essenz
einer Art – Variation ist die konkrete Realität der Natur. „Die Wahrheit ist
immer konkret“, würde einE MarxistIn sagen. Arten sind nicht fixe,
unveränderliche Dinge: sie haben eine reale Geschichte und können nur richtig
verstanden werden, wenn untersucht wird wie sie sich in der Zeit verändern.
Und er überwand die Teleologie: „Weit davon entfernt zu glauben, dass Katzen
existieren, um gut Mäuse zu fangen,“ schreibt Darwin seinem Kollegen Thomas
Huxley, „nimmt Darwinismus an, dass Katzen existieren, weil sie Mäuse gut
fangen können – Mäusefangen ist nicht das Ziel, sondern die Bedingung ihrer
Existenz.“25
Lebendige Organismen haben sich verändert und verändern sich weiter als
Ergebnis natürlicher Prozesse, die kein Ziel und keinen Grund haben. Eine
Giraffe ist in keinem Sinn „weiter entwickelt“ oder „perfekter“ als ihre
kleineren Vorfahren – sie ist einfach besser an ihre Umgebung angepasst. Als
Darwin 1882 starb, galt Evolution von den meisten WissenschaftlerInnen als
akzeptiert – aber es dauert um vieles länger bis der materialistischer Kern
Darwins Arbeit anerkannt war: dass Variation und natürliche Selektion die
Prozesse sind, die Artenwandel antreiben. Selbst unter Darwins engsten
Mitstreitern und Unterstützern gab es viele, die sich an die essentialistische
Idee klammerten, dass Arten durch plötzliches Ersetzen entstehen, oder an die
teleologische Idee, dass evolutionäre Prozesse geleitet oder vorherbestimmt sind
durch Gott.
Evolution und Marxismus
Darwin tat für das Verständnis von Natur, was Marx und Engels für menschliche
Gesellschaften taten – er überwand Teleologie und Essentialismus und etablierte
eine materialistische Grundlage für ein Verständnis davon, wie Organismen sich
über die Zeit verändern. Genau das war gemeint, als Marx Über die
Entstehung der Arten als „die Grundlage“ bezeichnete.
Marx war 1844, während Darwin im Geheimen seine erste vollständige Darstellung
der natürlichen Selektion schrieb, in Paris und entwickelte seine Kritik am
zeitgenössischen politischen und philosophischen Denken. Ein Jahr später
schrieben Marx und Engels Die deutsche Ideologie, den ersten
ausgereiften Teil dessen was später als historischer Materialismus bekannt
wurde. Ursprünglich beinhaltete es folgende Passage:
Wir kennen nur
eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann
von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte
der Menschen aufgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen;
solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur
und Geschichte
der Menschen gegenseitig.26
Sie entschieden
sich den Absatz aus der endgültigen Version zu streichen, um kein Thema
anzuschneiden, das sie aus Zeitgründen weder sorgfältig untersuchen noch
ordentlich diskutieren konnten. Diese Passagen zeigen aber, warum Marx und
Engels so begeistert von Darwins Arbeit waren. Fünfzehn Jahre vor dem
Erscheinen von Über die Entstehung der Arten waren sie zuversichtlich, dass
Natur mit denselben nicht-teleologischen und nicht-essentialistischen, d. h.
historischen, materialistischen Prinzipien erklärt werden könne, die ihrer
eigenen Analyse menschlicher Gesellschaft zugrunde liegen. Indem es eine
sorgfältig recherchierte und aussagekräftige Bestätigung dieser Annahme
lieferte, ergänzte Darwins Buch den historischen Materialismus. Dies war die
materialistische Erklärung des historischen Charakters der Natur, von deren
Notwendigkeit sie überzeugt waren. Engels schreibt in Die Entwicklung des
Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, dass es: „in der Natur, in letzter
Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht,… sie sich nicht im ewigen
Einerlei eines stets wiederholten Kreises bewegt, sondern eine wirkliche
Geschichte durchmacht. Hier ist vor allen Darwin zu nennen, der der
metaphysischen Naturauffassung den gewaltigsten Stoß versetzt hat durch seinen
Nachweis, daß die ganze heutige organische Natur, Pflanzen und Tiere und damit
auch der Mensch, das Produkt eines durch Millionen Jahre fortgesetzten
Entwicklungsprozesses ist.“27
Natur und Gesellschaft
Ein
Schlüsselelement von D.A. Stacks Behauptung, Engels versuche sich „im Lichte
Darwins zu sonnen“, ohne sich dabei wirklich dem Darwinismus verpflichtet zu
fühlen, war die Aussage, dass Engels keinen „sinnvollen oder erfolgreichen
Versuch unternommen hatte, marxistische Politik und darwinistische Wissenschaft
zu vereinen“28
Wenn wir, wie
Stack dies zu tun scheint, eine sehr enge Definition von Politik akzeptieren,
dann ist diese Anschuldigung vollkommen richtig. Engels hat es nicht einfach
nur nicht geschafft, ein marxistisches Programm auf der Grundlage Darwins
Wissenschaft vorzuschlagen – er hat so ein Programm sogar ausdrücklich
abgelehnt.29
Eine solche
Konzeption wurde z. B. vom englischen libertären Philosophen Herbert Spencer
vorgeschlagen. Er ging von der Idee aus, dass die Theorie der natürlichen
Selektion eine angemessene Grundlage für das Verständnis und zur Regulierung
menschlicher Gesellschaften sei und prägte die Phrase „survival of the
fittest“. Er argumentierte, dass natürliche Selektion schlussendlich zu einer
perfekten Gesellschaft führen würde, aber nur wenn sie frei walten und die „unfitten“
Individuen eliminieren könne. Deshalb war er gegen öffentliche Bildung,
verpflichtende Impfprogramme, öffentliche Bibliotheken, Gesetze zu Sicherheit
am Arbeitsplatz und selbst gegen Spenden für die „unwürdigen Armen.“
Solche
Ansichten, die später „Sozialdarwinismus“ genannt wurden, wurden freudig von
den VerteidigerInnen des reinen Kapitalismus aufgenommen. So formulierte John
D. Rockefeller in einer Sonntagsschule in New York City: „Das Wachstum von
großen Unternehmen entspricht nur dem Überleben des Stärkeren… Die ‚American
Beauty Rose’ kann ihre ganze Pracht und den Duft, der ihre Betrachter erfreut,
nur dann hervorbringen, wenn die frühen Knospen um sie herum geopfert werden.
Das ist keine böse Absicht der Unternehmen. Das ist das Gesetz der Natur und
das Gesetz Gottes.30
Engels Kritik an
Versuchen, biologische Gesetze auf Gesellschaften anzuwenden war vernichtend.
In einem Brief an den Sozialisten Pyotr Lavrov von 1875,zeigte er, dass
„bürgerliche Darwinisten“ – eine politische Strömung in Deutschland, die
behaupteten Darwins Ansichten anzuwenden – zuerst das politische Konzept des
„Überleben des Stärkeren“ auf die Natur anwandten und dann den Prozess einfach
umdrehten: „Die ganze Darwinsche Lehre vom Kampf ums Überleben ist einfach die
Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der
bürgerlich-ökonomischen Theorie der Konkurrenz, nebst der Malthusschen
Bevölkerungstheorie in die belebte Natur. Hat man dieses Kunststück
fertiggebracht…so rücküberträgt man dieselbe Theorie aus der organischen Natur
wieder in die Geschichte und behauptet nun, man habe ihre Gültigkeit
nachgewiesen. Die Dummheit dieser Vorgehensweise ist offensichtlich und es brauchen
keine Worte dafür verschwendet werden.“
Diese
politischen Darwinisten sind nach Engels erstens schlechte Ökonomen und
zweitens schlechte Naturwissenschafter und Philosophen.
Marx und Engels
hatten 1845 in der Deutschen Ideologie argumentiert, dass die Fähigkeit, die
notwendigen Lebensmittel zu produzieren, Menschen von Tieren unterscheidet:
„Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man
sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den
Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren,
ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die
Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr
materielles Leben selbst.“31
Engels
wiederholte und erweiterte dieses Argument in den späten 1870ern in seinem
nicht vollendeten Werk Dialektik der Natur: „Akzeptieren wir die Phrase: Kampf
ums Dasein, für einen Moment, for argument’s sake |zwecks Analyse des
Beweises|. Das Tier bringt’s höchstens zum Sammeln, der Mensch produziert, er
stellt Lebensmittel im weitesten Sinn des Worts dar, die die Natur ohne ihn
nicht produziert hätte. Damit jede Übertragung von Lebensgesetzen der
tierischen Gesellschaften so ohne weiteres auf menschliche unmöglich gemacht.“32
Engels bestärkte
ein grundlegendes Element der marxistischen Sicht der Natur – dass
unterschiedliche Formen und Komplexitäten von Materie unterschiedlichen
wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Die Gesetze, die die Bewegung
von Atomen und Molekülen steuern, sind nicht dieselben Gesetze, die die
Bewegung von Billardkugeln leiten. Und die Bewegungen von Galaxien, wenn man
neuesten Entdeckungen in Astrophysik Glauben schenkt (z.B. die hypothetische
Existenz von schwarzer Materie und schwarzer Energie) folgen wiederum ganz
anderen Gesetzen.
Die Gesetze,
denen anorganische Materie folgt, bestimmen auch lebende Materie – aber sie
sind verstärkt und in vielerlei Hinsicht ersetzt durch biologische
Gesetzmäßigkeiten, die nicht auf Newtonsche Physik reduziert oder davon
deduziert werden können. Menschen sind ebenso physische und biologische
Objekte, Gegenstand derselben physikalischen und biologischen Gesetze wie
andere Tiere, aber wir sind zugleich soziale Wesen, die ihre eigenen
Existenzmittel produzieren. Unsere Leben und unsere Geschichte kann also nicht
hinreichend durch Physik und Biologie erklärt werden.
Wie Engels
schrieb: „Schon die Auffassung der Geschichte als einer Reihe von
Klassenkämpfen [ist] viel inhaltsvoller und tiefer als die bloße Reduktion auf
schwach verschiedne Phasen ums Dasein.“33
Darwins Errungenschaften
Die Durchsetzung
des Materialismus in den Wissenschaften ist eine der größten Errungenschaften
der Menschheit. Allein aus diesem Grund – seinem Zögern, seinen Aufschüben und
seinen bourgeoisen Vorurteilen zum Trotz – verdient es Charles Darwin von
jedem/jeder, der/die das Ende von Aberglaube und Ignoranz in allen Aspekten des
Lebens befürwortet, in Erinnerung zu bleiben und geachtet zu werden. Darwin war
kein politischer Radikaler: abgesehen von seiner lebenslangen Ablehnung der
Sklaverei und seinem Engagement in den politischen Angelegenheiten seiner
kleinen Heimatstadt, scheint er wenig Interesse an politischer Aktivität oder
Theorie gehabt zu haben. Trotzdem hat er, wie der Evolutionsbiologe Ernst Mayr
schrieb, „in seinen wissenschaftlichen Arbeiten Stück für Stück die
grundlegenden philosophischen Konzepte seiner Zeit zerstört und durch
revolutionär neue Konzepte ersetzt.“34
Dadurch hat
Darwin unbeabsichtigt zur Entwicklung der revolutionärsten sozialen Theorien
beigetragen und sie gestärkt: die Ideen, die heute als Marxismus bekannt sind.
Es ist offensichtlich möglich, wie Paul Heyer bemerkt, ein Darwinist in der
Biologie zu sein und den Marxismus abzulehnen. Es ist aber umgekehrt nicht
möglich ein konsistenter Marxist zu sein und Darwins Theorie abzulehnen. Der
Grund ist klar. Zentral für Marx’ Ansichten war die Annahme, dass Natur und
Geschichte zusammen eine Totalität bilden. Da der Mensch Teil der Natur und
weiterhin auf sie angewiesen ist und sie umwandelt, ist Geschichte als
Wissenschaft unvollständig, bis diese Grundlage vollständig verstanden ist.
Niemand hat so viel zu diesem Verständnis beigetragen wie Darwin.
Die Idee, dass
die Natur eine Geschichte besitzt, dass Arten auf Grund natürlicher Prozesse
auftauchen, sich verändern und wieder verschwinden ist genauso revolutionär und
wichtig für sozialistisches Denken, wie die Ansicht, dass Kapitalismus nicht in
alle Ewigkeit besteht, sondern zu einer bestimmten Zeit auftauchte und eines
Tages wieder verschwinden wird.
Ian Angus ist Betreiber des Internet-Blogs Climate and Capitalism und Gründungsmitglied des Ecosocialist International Network. Teile dieses Artikels wurden zuvor in Socialist Voice und Socialist Resistance veröffentlicht. Der ganze Artikel ist im englischen Original in International Socialist Review 65, May-June 2009 erschienen.
Anmerkungen
1 MEW 29, S. 524
2 MEW 30, S. 131
3 MEW 30, S. 578.
4 Liebknecht, Wilhelm:
Reminiscences of Marx, in: Marx and Engels through the eyes of their
contemporaries, Moskau 1978, S.106
5 Mit einer Ausnahme: 1866
schrieb Marx an Engels, dass ein Buch von Pierre Tremaux über Evolution einen
„entscheidenden Vorteil gegenüber Darwin“ besitze. Engels, der
wissenschaftliche Entwicklungen genauer verfolgte, antwortete, dass Tremauxs
Buch „absolut wertlos“ sei und Schlussfolgerungen zog, die „vollkommen falsch
oder unglaublich einseitig und übertrieben waren.“ Marx ließ das Thema fallen.
6
MEW 23, S. 361
7
Foster, John Bellamy: Marx’s ecology, New York 2000, S. 207. Darwin antwortete mit
einer höflichen Dankeskarte, las das Buch aber nicht.
8 MEW 19, S. 335
9
Megill, Allan: Karl Marx: The Burden of Reason. Lanham MD 2002, S. 54
10 Beck, Naomi: The Origin
and Political Thought; in: Ruse, Michael und Richards, Robert J. (Hg.): The
Cambridge Companion to the Origin of Species. Cambridge 2000, S. 313, 310
11 Stack, D. A.: The First
Darwinian Left: Radical and Socialist Responses to Darwin, 1859–1914, In:
History of Political Thought 21:4 (2000), S. 683–4. Stack wiederholt die meisten
seiner Kommentare Wort für Wort in: ders.: The First Darwinian Left: Socialism
and Darwinism, 1859–1914. Cheltenham 2003, S. 4
12 Die starren
Klassenhierarchien auf Marineschiffen bedeutete, dass der Kapitän nicht mit
anderen Offizieren oder der Crew verkehren konnte. Die Marine erlaubte es aber
angemessene Passagiere auf eigene Kosten mitzunehmen. Vgl. Gould, Stephan J.:
Ever since Darwin, New York 1992, S. 28-33
13 Darwin, Charles:
Geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Ansichten von der Entstehung
der Arten, in: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Hamburg
2004, S. 11
14 Whewell, William: History
of the Inductive Sciences, Vol. 2, London 1837, S. 563–65
15 Ebd.
16 Herschells Brief an
Charles Lyell wurde 1837 veröffentlicht in: Babbage, Charles: The Ninth
Bridgewater Treatise, London 1838, S. 225–36. Darwin zitiert ihn im ersten Abschnitt
von On the Origin of Species.
17 Darwin, Charles:
Autobiography.
http://www.stephenjaygould.org/library/darwin_autobiography.html.
18 Desmond, Adrian: The
Politics of Evolution: Morphology, Medicine and Reform in Radical London,
Chicago 1989, S. 4
19 Chambers, Robert: Vestiges of
the Natural History of Creation and Other Evolutionary Writings, Chicago 1994
[1844], S. 234
19
Secord, James A.: Victorian Sensation: The Extraordinary Publication,
Reception, and Secret Authorship of Vestiges of the Natural History of
Creation,
Chicago 2000, S.
526.
21 Gould, Stephen Jay: Time’s
Arrow, Time’s Cycle: Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time,
Cambridge 1987, S. 146–47
22 Darwin, a.a.O. S. 638. Darwin verwendete das Wort
„Evolution“ an keiner Stelle in Die Entstehung. Zu diesem Zeitpunkt implizierte
das Wort die Entwicklung von Eigenschaften, die bereits im Organismus präsent
waren – die Evolution eines Embryos zum Beispiel. Das Konzept war Darwins Theorie fremd.
23 Foster, a.a.O, S. 179
24 Darwin, a.a.O., S. 89
25 Huxley, Thomas:
Criticisms of On the Origin Of Species (1864), in: ders.: Lay Sermons,
Addresses and Reviews, London 1888, S. 303
26 MEW 3, S. 18
27 MEW 19, S. 205
28 Stack, a.a.O., S. 684
29 Stack
diskutiert das in seinem Essay. Eine Tatsache, die seine zynischen
Bemerkungen bezüglich Engels Worten am Grab von Marx schwer verständlich
machen.
30 Zit. in: Hofstadter,
Richard: Social Darwinism in American Thought, Boston 1993 (1944), S. 45.
31 MEW 3, S. 21
32 MEW 20, 565
33 Ebd., S. 566
34 Mayr, Ernst: One Long
Argument: Charles Darwin and the Genesis of Modern Evolutionary Thought,
Cambridge, MA 1991, S. 50