Für ein linkes europäisches Projekt

Im Gespräch mit Chantal Mouffe

in (11.09.2009)

Wie tief reicht die gegenwärtige Krise?

Wir sind nicht Zeugen der Krise des Kapitalismus, die sein bevorstehendes Ende anzeigen würde, sondern einer Krise innerhalb des Kapitalismus, einer bestimmten Form von Finanzkapitalismus, deren Ergebnis noch unentschieden ist. Sie könnte zu einer Neuordnung und Konsolidierung der Finanzmacht oder zu einer eher fortschrittlichen Umgestaltung der Machtbeziehungen führen. Dies wird von den Kräfteverhältnissen abhängen und davon, wie die Macht des Staates eingesetzt wird. Dies wird sich nicht allein auf nationaler Ebene entscheiden. Daher ist es ein entscheidender Moment für die Europäische Union – ein Moment wirklicher Gefahr wie großer Möglichkeiten. Wie werden die unterschiedlichen Mitgliedstaaten auf die Herausforderungen der Krise reagieren? Wird es gelingen, eine gemeinsame, fortschrittliche Strategie zu finden, um die Schwierigkeiten zu überwinden, mit denen alle, wenn auch in unterschiedlicher Weise, konfrontiert sind? Oder werden sie sich auf die verschiedenen Formen von Protektionismus zurückziehen, um individuelle Lösungen zu finden, ohne Rücksicht auf die Auswirkungen für ihre Partner? Die Zukunft der EU wird von der Antwort auf diese Fragen abhängen, und linke Parteien sollten eine entscheidende Rolle in diesem Prozess spielen. Es gibt keine Garantie, dass das erreichte Maß an Integration nicht auch zurückgenommen werden könnte.

Wie schätzen Sie die Folgen für die EU ein?

Es ist ein unglücklicher Umstand, dass, während die gegenwärtige Krise der EU die Möglichkeit bietet, ihre Nützlichkeit zu beweisen, die Ergebnisse der Europawahlen darauf hinweisen, dass sie bei den Menschen in Europa wenig Popularität genießt. Die Ablehnung des EU-Verfassungsvertrages durch Franzosen und Niederländer, das Votum der Iren gegen den Lissabonner Vertrag haben bereits gezeigt, dass, nach ihrer Meinung gefragt, die Menschen ihr Misstrauen gegenüber Europa deutlich machen. Oft stellen die negativen Stimmen zwar keine Ablehnung des europäischen Projektes als solches dar, sondern der neoliberalen Weise, in der es umgesetzt wird. In jedem Fall bestätigen die niedrige Wahlbeteiligung und das Wachstum von Anti-EU-Parteien, dass die vorherrschende Stimmung durch einen Mangel an Vertrauen gekennzeichnet ist. Dies wird wohl durch die ökonomische Rezession noch verstärkt, die bereits den Großteil der europäischen Staaten erfasst hat.

Was sind Gründe für die Krise der EU?

Vor einigen Jahrzehnten war das europäische Projekt durchaus in der Lage, Begeisterung hervorzurufen und den Wünschen und Zielen vieler Menschen Ausdruck zu verleihen. Was ist passiert? Verschiedenste Erklärungen wurden angeboten: die geopolitischen Transformationsprozessen im Zusammenhang mit dem Ende des Kalten Krieges, Widerstand gegen einen zu schnellen Erweiterungsprozess, der ohne die Mitsprache der Bevölkerungen von oben auferlegt wurde. Die häufigste Kritik ist, dass die EU über zu wenig Legitimität verfüge und unter einem Demokratiedefizit leide. Das ist ein großes Problem. Aber ich denke, der Grund für die Ablehnung ist die Abwesenheit eines Projektes, das eine starke Identifikation unter den Bürgern Europas befördern und eine Perspektive für die Mobilisierung der politischen Leidenschaften in eine demokratische Richtung geben könnte.

Wie könnte dieses Projekt aussehen?

Ich beziehe mich hier nicht auf die Autoren, denen zufolge es an einer post-nationalen europäischen Identität mangelt, die die verschiedenen nationalen Identitäten ersetzt. Ich glaube weder an die Möglichkeit noch die Wünschbarkeit einer solchen post-nationalen Identität. Man sollte sich die Zukunft der EU auch nicht in den Begriffen eines föderalistischen supranationalen Staates vorstellen. Der Reichtum Europas liegt in der Verschiedenheit seiner Menschen und ihrer Kulturen, und das Ziel einer europäischen Integration sollte nicht sein, diese Verschiedenheiten zu überwinden. Die EU muss die Vielfalt und die Verschiedenheit der kollektiven Identitäten in ihrer Mitte anerkennen, auch deren »affektive Dimension«. Ziel ist die Schaffung eines den verschiedenen Nationen gemeinsamen Bandes bei gleichzeitigem Respekt vor ihren Differenzen. Die Herausforderung besteht in der Verbindung von Einheit und Verschiedenheit, in der Institutionalisierung einer Form von Gemeinsamkeit, die Raum für Heterogenität lässt.

Ich denke, dass eine solche Gemeinsamkeit, die um ein sozial-politisches Projekt herum etabliert werden könnte, in der Lage wäre, eine Alternative zur neoliberalen Hegemonie darzustellen, die in den letzten Jahrzehnten bestand. Das neoliberale Modell ist sicherlich durch die jüngsten Ereignisse erschüttert worden, aber ein alternatives Modell ist bisher nicht in Sicht.

Warum konnte die Linke bislang kein neues Projekt formen?

Die Linke ist momentan nicht in der Lage, Vorteil aus dieser Situation zu ziehen, weil sie zu lange an der Idee festgehalten hat, dass es keine Alternative zur neoliberalen Globalisierung gebe. In vielen Ländern haben Mitte-Links-Regierungen eine wichtige Rolle im Prozess der Deregulierung und Privatisierung gespielt, was die neoliberale Hegemonie befestigt hat. Ebenso tragen die europäischen Institutionen die Mitverantwortung für die gegenwärtige Krise.

Wie könnten Konturen für ein neues Projekt der Linken aussehen?

Wenn wir anerkennen, dass die neoliberale Wende die Ursache für die geringe Zustimmung zur EU ist, wird offensichtlich, dass eine Neudefinition des europäischen Projektes unter einem fortschrittlichen Vorzeichen zur Wiederherstellung seiner Legitimität beitragen könnte. Der erste Schritt muss sein, die Distanz zum angelsächsischen Modell von Kapitalismus offen zu markieren. Das würde ermöglichen, wieder an die sozialdemokratische Tradition anzuschließen, die seit dem Zweiten Weltkrieg den Kern der europäischen Politik ausmachte. Allerdings hat sich seitdem Vieles geändert, so dass man nicht einfach zur traditionellen Sozialdemokratie zurückkehren kann. Überdies war der Erfolg des Neoliberalismus zum Teil durch Unzulänglichkeiten der Sozialdemokratie ermöglicht worden. So trug etwa die bürokratischen Umsetzung von Umverteilungsmaßnahmen dazu bei, jene Menschen der sozialdemokratischen Politik zu entfremden, die eigentlich von ihr profitierten, und sie so empfänglich für die neoliberale Rhetorik zu machen. Es geht um nicht weniger als die Ausarbeitung eines neuen Projektes, das die positiven Aspekte der Sozialdemokratie »zurückholt«, aber darüber hinausgehend jenen Punkt erreicht, an dem ökonomische mit sozialen, Umwelt- mit politischen Fragen zusammengeführt werden. Ein derartiges Projekt kann nicht allein auf nationaler, sondern nur auf europäischer Ebene formuliert werden. So könnte die EU zu einem Brennpunkt der Hoffnungen und Wünsche ihrer Menschen werden.

Wie wichtig ist die Eigentumsfrage?

Die Vorschläge zugunsten einer pluralen Ökonomie sind hier wichtig. Sie wird von drei Pfeilern getragen: Marktökonomie, öffentlichem Sektor und der »solidarischen Ökonomie«, die gekennzeichnet ist von der Entwicklung vielfältiger nicht-profitorientierter Aktivitäten, die mit den privaten und öffentlichen Ökonomien verbunden sind und durch die Zuwendung eines Bürgergeldes erhalten werden. Ziel ist, eine plurale Ökonomie anzuregen, in der der genossenschaftliche Sektor neben Markt und Staat eine wichtige Rolle spielt. Viele Aktivitäten, die großen sozialen Nutzen haben, jedoch der Logik des Marktes zum Opfer fielen, könnten durch öffentliche Finanzierung von solidarischer Ökonomie übernommen werden. Überdies wäre dieser dritte Sektor in der Lage, zur treibenden Kraft zu werden, wenn es um die Herausforderung der vorherrschenden Werte der »Konsumgesellschaft« und um Experimente mit emanzipatorischen, gesellschaftlichen Beziehungen geht. Ein solches plurales Modell, eine »post-sozialdemokratische« Alternative zum Neoliberalismus, könnte wichtige Leitlinien einer Antwort auf die gegenwärtige Krise bereitstellen, die über die Reparatur des Systems oder eine Rückkehr zu keynesianischen Politiken hinausginge. Auch Projekte in anderen Ländern können nützliche Einsichten beitragen. Es ist wünschenswert, dass es zu einer breiten Debatte über diese Fragen unter den verschiedenen linken Gruppen in unterschiedlichen Teilen Europas kommt.

Ich möchte vorschlagen, dass alle, die für eine Erneuerung der Linken kämpfen, ihre Energie nicht auf die Dämonisierung der EU verschwenden, die sie allzu oft mit ihrer gegenwärtigen neoliberalen Version in eins setzen, sondern diese Kräfte auf die Ausarbeitung eines linken europäischen Projektes richten. Man sollte nicht vor den europäischen Institutionen fliehen, sondern in ihnen den Kampf voran bringen. Er sollte verstanden werden als gegenhegemonialer Kampf um die Transformation der europäischen Institutionen von »innen«, als »Stellungskrieg«. Sein Ziel ist eine radikaldemokratische EU, die eine entscheidende Rolle in der rasant entstehenden multipolaren Welt spielen könnte. Dies ist, wie ich glaube, ein politisches Projekt, das Leidenschaften mobilisieren und ein gemeinsames Band schaffen könnte, das die verschiedenen Europäerinnen und Europäer über ihre Differenzen hinweg vereinigt.

Aus dem Englischen von Janek Niggemann

Erschienen in Luxemberg 1/2009