Unsichtbar sein

Anna Sams Buch „Die Leiden einer jungen Kassiererin“ wurde in Frankreich in kürzester Zeit zum Bestseller, die nun vorliegende deutsche Übersetzung macht ebenfalls bereits Furore.

Die Literaturwissenschaftlerin Sam hat mehrere Jahre an der Supermarktkasse gearbeitet, gelitten hat sie dort vor allem unter den KundInnen.

 

an.schläge: Nur ein Kapitel Ihres Buches widmen Sie den unterschiedlichen Vorgesetzten, unter denen Sie gearbeitet haben. Darin schreiben Sie z.B. von Schikanen bei der Dienstplanerstellung und den möglichen Folgen, wenn man zu lange mit dem Betriebsratsvorsitzenden spricht. Man hört auch von weit drastischeren arbeitsrechtlichen Vergehen, davon, dass Betriebsratsgründungen verhindert werden etc. Haben Sie so etwas nicht erlebt?

Anna Sam: Wie Sie wissen, ist mein Buch kein Pamphlet gegen die Supermärkte, deshalb will ich nicht über interne Probleme sprechen, die es bei der Arbeit geben kann. Und es gibt außerdem so viele Unterschiede zwischen den einzelnen Filialen … Und ich will nicht über die Läden sprechen, in denen ich gearbeitet habe.

Insgesamt liegt der Fokus Ihres Buches weniger auf den Zumutungen durch den Arbeitgeber als vielmehr auf jenen der KundInnen. Waren die für Sie tatsächlich das größere Problem?

Ja und nein … Die Kunden benehmen sich einfach tatsächlich wie „Könige“ und machen sich häufig keine Gedanken darüber, dass die Angestellten Anerkennung für ihre Arbeit brauchen. Bei der Arbeit hat man sehr oft das Gefühl, unsichtbar für sie zu sein. Der große Unterschied bei den Vorgesetzten ist, dass du auch hier das Gefühl hast, im Grunde nur eine Nummer für den Chef zu sein, also letztlich austauschbar zu sein und für das Unternehmen keine Bedeutung zu haben. Aber gleichzeitig wiederholt dein Vorgesetzter wieder und wieder: DU bist wichtig, du bist diejenige, die den Kontakt mit den KundInnen hat …

Was waren schlimme Erlebnisse mit KundInnen? Sie schreiben u.a. von Müttern, die Sie ihren Kindern als abschreckendes Beispiel vorhalten –in Ihrer Gegenwart …

Die Arbeit an der Kasse ist eine sehr harte Arbeit. Du arbeitest die ganze Zeit über mit Menschen, du hilfst ihnen – es ist eine sehr soziale Arbeit. Aber die Leute sehen das nicht. Sie glauben nicht, dass es ein anstrengender Job ist, sondern betrachten es als Scheißarbeit, die diejenigen machen, die sonst nichts können. Die Frau, die zu ihrem Kind gesagt hat: „Wenn du dich in der Schule nicht anstrengst, wirst du genau wie diese Frau hier irgendwann an der Kasse landen“, spricht also nur aus, was die meisten Menschen insgeheim sowieso denken. Sie vergessen, dass die ArbeiterInnen einen verdammt stressigen Job machen und anderen helfen, und dass die KundInnen niemals mit ihnen tauschen wollten – weil er zu hart ist.

Sie thematisieren auch die Diskriminierung von Frauen, die nach wie vor weit häufiger hinter der Kasse sitzen als Männer und auch im Supermarkt immer die undankbareren Aufgaben übernehmen müssen

Vielleicht neunzig Prozent der Angestellten hinter der Kasse sind Frauen. Wie man weiß, bevorzugen die KundInnen, wenn etwas schief läuft, weibliche Angestellte. Die kann man leichter niedermachen … Einmal hat mich ein Mann, der sich weigerte, für eine Einkaufstüte zu bezahlen (in unserem Supermarkt gab es keine Gratistüten), angebrüllt und wüst beschimpft, er benutzte schlimme Ausdrücke … Er beleidigte mich, bis ich weinen musste. Für den Kunden war es nur ein Spiel, für mich eine sehr harte Bewährungsprobe, die ich erdulden musste.

Im Pausenraum wird der Aufstand geprobt, schreiben Sie. Allerdings immer nur für die paar Minuten der kurzen Pause. Wie haben Sie die Solidarität unter den Arbeitnehmerinnen erlebt? Und wie schätzen Sie das Potenzial ein, dass sich hier Widerstand regt?

In den wenigen Pausenminuten spricht man mit den anderen Angestellten und hofft, dem Arbeitsalltag kurz entfliehen zu können. Es ist sehr ermutigend zu sehen, dass die anderen dieselben Probleme haben, und dabei auch mal über das geteilte Leid lachen zu können. Und natürlich erzählen wir uns unsere Geschichten …

Sie haben mit einem Internet-Blog begonnen, der so erfolgreich wurde, dass Sie sich dazu entschlossen haben, das Buch zu schreiben. Wurde Ihre Homepage vor allem von anderen Supermarkt-Arbeiterinnen besucht? Und auch zur Vernetzung bzw. Mobilisierung genutzt?

Ich denke, dass etwa die Hälfte der Leserinnen Kassiererinnen sind. Ich weiß auch, dass die von mir dort veröffentlichten Geschichten ausgedruckt und an den Wänden der Pausenräume aufgehängt werden. Nur zur Erheiterung, und das ist wunderbar! Ob auch zur Mobilisierung und Vernetzung – ich weiß nicht …

Was fordern Sie von den KonsumentInnen? Einerseits, was den Umgang mit den Kassiererinnen betrifft, andererseits auch hinsichtlich ihrer Einflussmöglichkeiten auf die Politik der Unternehmen?

Ich habe eine Forderung an die KundInnen: Vergesst nicht, „Hallo“ zu den Angestellten zu sagen. Das kostet euch nichts, ist aber sehr wichtig für die Person, die ihr vor euch habt. Um die Politik der Lebensmittelketten zu beeinflussen, ist es vielleicht hilfreich, wenn die Chefs und Direktoren merken, dass die KonsumentInnen Angestellte bevorzugen, denen es gut in ihrem Job geht. Ich hoffe, dass das auch das interne Management beeinflussen würde.           

 

Anna Sam: Die Leiden einer jungen Kassiererin. Riemann 2009, 12.50 Euro (D)

http://caissierenofutur.over-blog.com

 

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,  www.anschlaege.at