Brasiliens Umweltpolitik nach dem Rücktritt Marina Silvas
Nach dem Rücktritt der Umweltministerin Marina Silva hat am 27. Mai der neue Umweltminister Carlos Minc sein Amt angetreten. Dazu erklärte Präsident Lula, die Umweltpolitik werde sich nicht ändern, schließlich habe er damit zwei Wahlen gewonnen. Aber ist das ein Versprechen oder eine Drohung?
Der bisherige Staatssekretär
im Umweltministerium João Paulo Capobianco zog zur Amtsübergabe eine
kritische Bilanz: „Teile der Regierung sehen das Umweltministerium als
einen Vergeber von Umweltlizenzen und nicht als ein strategisches
Ministerium, das Lösungen vorschlägt. Deshalb verlassen wir das
Ministerium.“ Damit trifft Capobianco den entscheidenden Punkt. Die
Richtlinien der Politik werden in anderen Ministerien entwickelt und
entschieden – den Umweltbehörden kommt die Aufgabe zu, allein die
entsprechenden Genehmigungen zu liefern.
Der neue Minister, Carlos Minc, hat sich in Rio de Janeiro den Ruf
erworben, Umweltlizenzen schnell und unbürokratisch zu vergeben. Dies
soll der entscheidende Grund sein, warum Lula auf die Ernennung Mincs
insistierte. Der Gouverneur von Rio lobt Minc in höchsten Tönen: „Das
Engagement für die Umwelt, das sein ganzes Leben begleitet, verbindet
Minc mit Pragmatismus, Objektivität und Effizienz. Er ist ein Vorbild
als Umweltmanager.“ Dieser muss sich jetzt schon gegen den Ruf wehren,
ein bloßer Absegner zu sein. Minc ist ein erfahrener Umweltpolitiker,
er war Mitbegründer der Grünen Partei Brasiliens, bis er 1980 zur
Partei Lulas wechselte. Er ist offensichtlich ein „Asphaltgrüner”, der
die Strände Rios besser kennt als Amazonien.
Das ist in der aktuellen Situation nicht gerade ein Vorteil. Denn
Amazonien ist das zur Zeit dominierende Thema. Dass zum Amtsantritt
Mincs kein Gouverneur aus Amazonien anreiste, ist ein deutliches
politisches Signal. Die Gouverneure Amazoniens wollen sich nicht durch
Umweltpolitik bremsen lassen – allen voran der Sojabaron Blairo Maggi,
der den Amazonasstaat Mato Grosso regiert und sich bereits die ersten
Wortgefechte mit Minc lieferte.
Amazonien ist in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, als im Januar
klar wurde, dass die ersten vorläufigen Zahlen der Entwaldungssaison
2007/2008 auf einen deutlichen Anstieg der Regenwaldvernichtung
hinweisen. Gouverneur Maggi kritisiert seitdem das brasilianische
Institut für Weltraumforschung (INPE), das für die Auswertung der
Satellitenbilder verantwortlich ist. Die Veröffentlichung der neuesten
Abholzungszahlen für April war zunächst verschoben worden, wohl auch um
den Amtsantritt Mincs nicht zu überschatten. Für Carlos Nobre, INPE
Forscher und brasilianisches Mitglied des Weltklimarates der Vereinten
Nationen (IPCC), hingegen war der Fall klar. „Die Entwaldung ist hoch.”
Das INPE veröffentlichte dann Anfang Juni die Auswertung der
Satellitenbilder: Allein im April wurden 1.132 Quadratkilometer
Regenwald gerodet, etwa acht Mal so viel wie im März, als rund 148
Quadratkilometer gerodet worden waren. Das Institut wies auch darauf
hin, dass möglicherweise erheblich mehr Regenwald abgeholzt wurde. Im
März waren den Angaben zufolge 78 Prozent des Regenwaldes durch Wolken
verdeckt, im April waren es 53 Prozent.
Der neue Umweltminister – ein „asphaltgrüner” Umweltmanager?
Die Entwaldungsraten sind aber nur ein Indikator für neue Entwicklungen
in Amazonien. Die Region steht heute viel mehr im Mittelpunkt der
nationalen Entwicklungspolitik als noch vor etwa zehn Jahren. Die
Landwirtschaft ist nicht mehr allein durch extensive Viehwirtschaft
geprägt, sondern auch durch ein dynamisches Agrobusiness (Soja), das
aufgrund der steigenden Weltmarktpreise einen ungeahnten Boom erlebt.
Die brasilianische Bundesregierung hat in ihrem Investitionsprogamm für
beschleunigtes Wachstum (PAC) Amazonien entdeckt und will massiv in den
Ausbau der Infrastruktur investieren. Der Energiesektor nimmt nach fast
20-jähriger Pause seine Investitionen in Großstaudämme wieder auf, etwa
am Rio Xingu und Rio Madeira (siehe LN 403). Etwa 70 Prozent des bisher
nicht genutzten Wasserenergiepotentials sollen sich in Amazonien
befinden. In einer Zeit, in der natürliche Ressourcen, Land und Wasser
immer knapper werden, erscheint Amazonien als ein neues El Dorado.
Oder anders gesagt: die Amazonaspolitik, die noch vor wenigen Jahren
etwas für Umweltpolitiker und indigene Völker schien – und deshalb auch
einer sympathischen und integren Marina überantwortet werden konnte –
ist in kürzester Zeit in den Sog von Politik und Wirtschaft gerissen
worden. Insofern war es eine strategische Entscheidung Lulas, die
Durchführung des neuen Programms „Nachhaltiges Amazonien” nicht Marina
Silva, sondern dem Minister für strategische Fragen, Mangabeira Unger,
zu übertragen. Dies war wohl der Auslöser für den Rücktritt Marinas.
„Es ist ein grundlegender Fehler zu denken, Amazonien sei nur eine
Umweltfrage oder eine Angelegenheit des Umweltministeriums. Amazonien
ist nicht nur ein Fall für Umweltschützer”, erklärte Unger. Damit gibt
er die Denkweise der Regierung wider – und hat ja durchaus recht. Aber
es steht zu befürchten, dass nicht Nachhaltigkeitsstrategien die
Amazonaspolitik strukturieren, sondern der auf Wirtschaftswachstum
fixierte politische Mainstream die Umweltpolitik mitreißt und
bedeutungslos bleiben lässt.
Auch die Militärs haben sich wieder zu Amazonien geäußert. Im Konflikt
um die Demarkierung des Gebiets Raposa Serra Do Sol haben führende
Militärs deutlich die Indigenenpolitik der Regierung kritisiert. Raposa
Serra do Sol ist das letzte große Indigenengebiet, dessen Demarkierung
nicht abgeschlossen ist. Die Militärs sehen in den indigenen Gebieten
eine potentielle Gefahr für die nationale Souveränität Brasiliens. Die
Präsenz brasilianischer Streitkräfte im grenznahen Gebiet sei
unzureichend, so führende Militärs. Dabei kritisieren sie auch das
Agieren zahlreicher ausländischer NRO im Amazonasgebiet. Sie werfen
ihnen die „Internationalisierung“ Amazoniens vor. Tatsächlich trifft
die Intensivierung der Wachstumspolitik in Amazonien zunehmend auf den
Widerstand indigener Völker (siehe Artikel in dieser Ausgabe). Hinzu
kommt, dass sich 55 Prozent des Landbesitzes von AusländerInnen in
Amazonien konzentriert. Das alles ist Wasser auf die Mühlen der
Befürchtungen der Militärs.
Damit befindet sich die künftige Umwelt- und Amazonaspolitik in einer schwierigen Lage. Der Druck kommt sowohl von den Entwicklungsprojekten, wie Straßen und Staudämmen, von den Gouverneuren, die mit den Interessen des Agrobusiness verbunden sind, als auch von den Militärs, die um die nationale Integrität des Landes fürchten. Bereits Marina hat diesem Druck immer dann wenig entgegensetzen können, wenn es zu Interessenskonflikten kam. An den Rahmenbedingungen, die zum Scheitern Marinas geführt haben, hat sich nichts geändert. Eher verschärft sich das Konfliktpotential wegen der steigenden Preise für Agrarprodukte. Der neue Umweltminister Minc bringt wohl die Flexibilität mit, um Umweltpolitik nicht zum Wachstumshindernis zu machen, und ausreichende Glaubwürdigkeit, um zumindest Zugeständnisse wie etwa Gelder für Schutzgebiete zu verhandeln. So gesehen ist die Aussage Lulas, die Umweltpolitik der Regierung werde sich nicht ändern, doch eher als Drohung zu bewerten.
Text: Thomas Fatheuer
Ausgabe: Nummer 409/410 - Juli/August 2008