Eine Bilanz zum Ende der achtjährigen Amtszeit des brasilianischen Regierungschefs
Soviel steht fest: Der nächste Präsident Brasiliens wird nicht mehr Luiz Inácio Lula da Silva heißen. Aber wohl nur, weil die Verfassung eine erneute Wiederwahl verbietet. Auch zum Ende seiner zweiten Amtszeit ist die Zustimmung der BrasilianerInnen zu Präsident Lula enorm hoch. Somit spricht vieles dafür, dass die achtjährige Regierungszeit Lulas das Fundament für einen neuen politischen Konsens in Brasilien gelegt hat und dass das „System Lula“ die Wahlen im Oktober überstehen wird.
Den meisten BrasilianerInnen geht es zum Ende der Amtszeit Lulas wirtschaftlich besser als vor acht Jahren – dies dürfte die entscheidende Grundlage für den Erfolg Lulas sein. Zwischen 2003 und 2008 wurden zehneinhalb Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen; die Arbeitslosenquote sank von 12,3 auf etwa acht Prozent; 24 Millionen BrasilianerInnen haben die statistische Armutszone verlassen; die extreme Armut wird durch das Programm „bolsa família“ und eine kleine allgemeine Mindestrente effektiv gelindert. Die Regierung wird nicht müde diese und weitere Erfolgszahlen anzuführen.
Aber worauf beruht dieser Erfolg? Für die Opposition ist entscheidend,
dass Lula die stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik seines
Vorgängers, Fernando Henrique Cardoso, einfach fortgesetzt hat. Richtig
daran ist, dass die Regierung Lula gerade in ihrer ersten Phase nach
dem Amtsantritt des Präsidenten die makroökonomische Kontinuität
betonte und die restriktive Geldpolitik der Zentralbank unterstützte.
Das Primat der Inflationsbekämpfung durch Hochzinspolitik wurde zwar
zeitweise gelockert, aber prinzipiell beibehalten.
Tatsächlich erklärt sich der Erfolg der Regierung nicht aus der
einfachen Fortsetzung des Status Quo, sondern aus einer Kombination von
orthodoxer Kontinuität mit neuen Elementen. Sie markieren für die
TheoretikerInnen der Regierung einen grundlegenden Wechsel. Denn
etliche Elemente charakterisieren die ökonomischen Komponenten des
„Systems Lula“ besonders: So beendete die Regierung die Welle der
Privatisierungen. Die größtenteils staatliche Erdölfirma Petrobras und
die im Staatsbesitz befindlichen Banken wie Banco do Brasil und Caixa
Economica werden zu wichtigen Akteuren der Regierung. Hinzu kommt eine
explizit aktive Rolle des Staates mittels großer Investitionsprogramme.
Die Entwicklungsbank BNDES wurde massiv mit Kapital ausgestattet und
ist inzwischen die größte Entwicklungsbank des Kontinents. Dabei
versuchte die Regierung darauf zu achten, dass der Zugang zu Krediten
gerade für Geringerverdienende erleichtert wurde. Die Infrastruktur
wurde auch durch Sonderprogramme zur Elektrifizierung ausgeweitet, und
die Wohnungsbauprogramme erregen öffentlichkeitswirksam erhebliche
Sympathien in der Bevölkerung. Nicht zu unterschätzen sind die
Dimensionen, die die systematische Anhebung des staatlich festgesetzten
Mindestlohnes für breite Bevölkerungsschichten hat.
Während zu Beginn der Regierungszeit Lulas die Wahrung der Stabilität
Vorrang hatte, steht nun die Beschleunigung des Wachstums mit Hilfe
eines aktiven Staates im Mittelpunkt. In der von Lula zu seiner
möglichen Nachfolgerin aufgebauten Präsidentschaftskandidatin Dilma
Rousseff, ist das Wachstumsparadigma personifiziert: Dilma wurde als
Managerin des „Programms zur Beschleunigung des Wachstums“ (PAC)
populär.
Ihre Feuertaufe hat die neue Wirtschaftspolitik Lulas in der Krise seit
2008 erlebt. Brasilien hat die Wirtschaftskrise viel besser überstanden
als viele andere G-20-Länder, mit relativ geringen Kosten für
antizyklische Programme. Für 2010 wird ein Wachstum von etwa fünf
Prozent erwartet – ein für Brasilien und die Regierung optimaler Wert.
Aber es wäre verkürzt, Lulas Popularität nur durch die ökonomische
Bilanz zu erklären. Entscheidende Bedingung für die Regierungsfähigkeit
Lulas war ein strategisches Bündnis mit wichtigen Gruppen der
traditionellen politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes. Die
Notwendigkeit eines solchen Bündnisses zeigte sich vor allem in der
Korruptionskrise, die im Jahre 2004 die Regierung erschütterte. Erst
die langfristige politische Allianz mit der PMDB, der Großpartei
regionaler Eliten, sicherte die politische Stabilität der Regierung
Lula. Das heißt aber auch, dass die Macht mit den traditionellen Eliten
geteilt werden muss. Beispielhaft dafür ist die zentrale Rolle, die der
Ex-Präsident José Sarney übernommen hat. Im Gegenzug musste Lula ihn
trotz schwerer Korruptionsanschuldigungen stützen. Dieser Skandal hat
die Glaubwürdigkeit der Arbeiterpartei PT zutiefst erschüttert. Für
viele ist die PT nun zu einer weiteren Partei des traditionellen
Systems geworden.
Bedeutend ist das Bündnis mit dem Agrobusiness, das sich zu einer
wichtigen Stütze des System Lula entwickelte. Auch hier lässt sich eine
beispielhafte Figur benennen: der „Sojakönig“ Blairo Maggi, der als
Gouverneur des Bundesstaates Mato Grosso zu einem zuverlässigen
Verbündeten Lulas wurde. Einbezogen in das System Lula wurden auch die
Gewerkschaften. Die wichtigsten Dachverbände sind mit Regierungsämtern
bedacht und mittels milliardenschwerer Förderungsprogramme eingebunden
worden. Widerstand ist daher von größeren Gewerkschaften kaum zu
erwarten. Die zentrale Leistung des Systems Lula ist die Einbeziehung
unterschiedlichster ökonomischer und politischer Akteure in ein
wachstumsorientiertes Entwicklungsmodell.
Gilt also: Tudo dominando – alles unter Kontrolle? Fast. Die
bürgerliche Opposition, angeführt von der rechts-sozialdemokratischen
Partei PSDB und ihrem Präsidentschaftskandidaten José Serra hat große
Schwierigkeiten, die Regierung anzugreifen und Alternativen
vorzuschlagen. Sie verspricht Ähnliches, bei größerer Kompetenz im
Management. Dies hat sich bisher nicht als Erfolgsrezept bewiesen. Die
linke Abspaltung der PT, die Partei für Sozialismus und Freiheit
(PSOL), errang zwar Achtungserfolge in den politischen Debatten, bleibt
aber doch am Rande der Bedeutungslosigkeit. Im politischen Spektrum hat
sich 2010 die ehemalige Umweltministerin Marina Silva, Kandidatin der
Grünen Partei (PV), als dritte Kraft (mit Umfrageergebnissen von etwa 8
Prozent) etabliert.
Es ist kein Zufall, dass der Widerspruch zum System Lula am ehesten in
der ökologischen Frage aufbricht. Das wachstumsorientierte
Entwicklungsmodell Brasiliens sieht in „Umweltfragen“ lediglich ein
Hindernis, das es zu überwinden gelte. Des öfteren hat sich Lula
aggressiv und abfällig über UmweltschützerInnen beschwert, denen Kröten
und Fischche wichtiger seien als der Fortschritt des Landes.
Tatsächlich ist die Entwicklungsstrategie an einem Punkt angelangt, an
dem ein einfaches Weitermachen zu schwersten Umweltkonflikten führt.
Die brasilianische Energieerzeugung beruht auf Wasserkraft, und das
Ausbaupotential dieser Energiequelle liegt in Amazonien. Die jüngste
Entscheidung, einen der größten Staudämme der Welt, Belo Monte, mitten
im Amazonasgebiet zu bauen, hat lokalen und globalen Widerstand
provoziert (s. LN 429).
Damit nicht genug: Als Ergänzung zum Strom aus Wasserkraft will
Brasilien sein Atomprogramm wiederaufleben lassen und – neben dem
bereits gestarteten Bau des Atomkraftwerks Angra 3 bei Rio de Janeiro
(s. LN 411/412) – drei neue Atommeiler im Nordosten bauen. Dies sind
Grundsatzentscheidungen gegen ein dezentrales Energiemodell. In
durchaus altlinker Tradition setzt das brasilianische
Entwicklungsmodell auf die strategische Partnerschaft mit den großen
Baukonzernen, die zu einer wichtigen Finanzierungsquelle des
Wahlkampfes des Regierungslagers geworden sind.
Auch die strategische Allianz mit dem Agrobusiness hat weitreichende
Konsequenzen. Das brasilianische Exportmodell beruht immer stärker auf
dem Export von Rohstoffen oder nur schwach verarbeiteten Produkten.
Brasilien ist ein großer Exporteur von Soja, Fleisch, Zucker,
Zellulose, Aluminium und Eisenerz – alles Produkte, die durch eine
intensive Ausbeutung natürlicher Ressourcen gewonnen werden. Verschärft
wird diese Tendenz noch durch den rasanten Ausbau des Anbaus von
Zuckerrohr für die Produktion von Ethanol, zunächst primär für den
internen Markt. Brasilien definiert sich damit zusehends als Agrar- und
Rohstoffgroßmacht – mit allen Konsequenzen, die das für die Ökosysteme
des Landes hat. Die „Ökologiefrage“ hat also nichts mit Naturschutz zu
tun, sondern steht im Kern der Konflikte, die das brasilianische
Entwicklungsprojekt provoziert.
Der Zugriff auf die erhaltenen Ökosysteme und der Ausbau der
exportorientierten Monokulturen provoziert wachsenden Widerstand, etwa
gegen neue Großstaudämme. Aber die öffentliche Wahrnehmung dieser
unzähligen lokalen Konflikte ist unzureichend und bruchstückhaft – so
konstituieren sie keinen nationalen Gegenpol zum System Lula. Dazu
wären nur die größeren sozialen Bewegungen der Vía Campesina fähig: die
Landlosenbewegung MST und die Bewegung der Staudammopfer MAB. Beide
bewegen sich aber auf einem schmalen Grad zwischen Widerstand und
Unterstützung der PT und der Regierung. So erklärte João Pedro Stedile
vom MST offen seine Unterstützung für Dilma Roussef: „In diesem
Szenario glauben wir, dass Dilma ein besseres Kräfteverhältnis
ermöglicht, um soziale Errungenschaften weiterzutragen.“
Die extreme Rohstoffabhängigkeit wirft aber nicht nur die Frage nach
dem Konfliktpotential, sondern auch nach der Zukunftsfähigkeit auf. Ist
die brasilianische Entwicklung der letzten Jahre nicht auch eine
Ressourcenblase, die dann zerplatzt, wenn die natürlichen Grenzen des
Wachstums spürbarer werden? Statt einen neuen Entwicklungsweg zu
denken, setzt die Regierung wohl eher auf eine neue Rohstoffrunde. Die
große Hoffnung sind nun die riesigen Offshore-Ölfelder, die unter einer
dicken Salzschicht vor Brasiliens Küste liegen (s. LN 426). Die neuen
Perspektiven auf Ölförderung haben die ökologische Kritik nicht
erleichtert – zu groß ist nun die Hoffnung auf baldigen Reichtum. Neuer
Brennstoff, um ein altes Entwicklungsmodell weiterzuführen. Und wohl
auch eine gute Energiebasis für eine Weiterführung des „System Lula“ –
ohne ihn als Präsidenten.
Text: // Thomas Fatheuer
Ausgabe: Nummer 435/436 - September/Oktober 2010