Die deutsche Energiepolitik im Kontext postfordistischer Naturverhältnisse
Deutschland feiert sich selbst als weltweiten Vorreiter in der Klimapolitik. Aller Voraussicht nach wird es als eines von wenigen Ländern das im Kyoto-Protokoll festgehaltene Ziel, die Treibhausgasemissionen in der ersten Verpflichtungsperiode um 21 Prozent zu reduzieren, erreichen.
Ein genauerer Blick auf die gegenwärtige Klimapolitik zeigt jedoch, dass etwa 80 Prozent der Reduktionen von Treibhausgasemissionen auf die Abwicklung der alten DDR-Ökonomie zurückzuführen sind. Ferner ist Deutschland mit seinen absoluten wie seinen Pro-Kopf-Emissionen immer noch einer der Hauptemittenten von Treibhausgasen weltweit. Die Thesen von Christoph Görg helfen, dieses widersprüchliche Bild aus den zu Grunde liegenden Konflikten um den Charakter der Naturverhältnisse im Postfordismus zu erklären.
Gesellschaftliche Naturverhältnisse
Christoph Görg bezeichnet die gesellschaftlichen Naturverhältnisse als „die Gesamtheit der Formen …, in denen Gesellschaften ihre Verhältnisse zur Natur symbolisch gestalten und praktisch regulieren“. Die heute hegemonialen Naturverhältnisse folgen dem Prinzip der Naturbeherrschung, in den kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen wurzelt und die Umwelt der vermeintlich natur-unabhängigen Gesellschaft unterwirft.
Im Postfordismus werden die auftretenden sozial-ökologischen Probleme durchaus anerkannt und politisch bearbeitet. Allerdings sind ökologische Politiken von der prekären Voraussetzung abhängig, dass die Umweltpolitik der Wettbewerbsfähigkeit nicht hinderlich ist oder ihr sogar nutzt. Obwohl die konventionelle Form der Naturbeherrschung weiterhin von Bedeutung ist, liegt das charakteristische Merkmal der neuen Naturverhältnisse darin, dass das Management der sozial-ökologischen Risiken dazu genutzt wird, die Akkumulationsbedingungen ökologisch zu modernisieren. In den postfordistischen Naturverhältnissen kristallisiert sich folglich die Form einer reflexiven Naturbeherrschung heraus.
Krise der Naturverhältnisse
Dieser theoretische Ansatz begreift den Klimawandel nicht in erster Linie als naturwissenschaftlich zu beherrschendes Problem, sondern als Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Diesen Zusammenhang hat insbesondere Elmar Altvater in seinem Buch „Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen“ treffend beschrieben. Die kapitalistische Produktionsweise fand erst in der Ausbeutung fossiler Energieträger die Voraussetzung für ihre Entfaltung. Verbunden mit einem Fortschrittsoptimismus und den wachsenden Konsumansprüchen der westlichen Bevölkerungen steigerte diese Konstellation das industrielle Wachstum soweit, dass der menschliche Eingriff in die Natur erstmals die stoffliche Zusammensetzung der Atmosphäre stark veränderte. Die vom kapitalistischen Akkumulationszwang implizierte Naturbeherrschung schlägt sich als Naturzerstörung und Klimawandel nieder.
Es hängt jedoch von den Konflikten um die Deutung des Problems ab, wie die Gesellschaft mit dem Klimawandel umgeht, ob er als Risiko konstruiert wird, das mit den Mitteln kapitalistischer Regulation beherrschbar gemacht werden kann, oder ob er als Krise der Naturverhältnisse verstanden wird, die aus dem widersprüchlichen Verhältnis von kapitalistischer Gesellschaft und ausgebeuteter Natur resultiert. Der hegemoniale Diskurs deutet ihn als kollektives Weltproblem. Damit verschleiert er, dass soziale Ungleichheiten, politische Partizipationsmöglichkeiten und Konflikte um unmittelbare Naturverhältnisse darüber entscheiden, in welchem Maße soziale Gruppen zum Klimawandel beitragen und sich an klimatische Veränderungen anpassen können.
Energiepolitik in Deutschland
Über die ökologische Wirksamkeit deutscher Klimapolitik entscheiden vor allem die Entwicklungen in der Energiewirtschaft, die für einen bedeutenden Teil der Emissionen verantwortlich ist. So beginnt zurzeit ein neuer Investitionszyklus in der Stromwirtschaft, in dessen Folge bis 2020 40.000 Megawatt an Kraftwerksleistung ersetzt werden müssen. Das entspricht circa einem Drittel des deutschen Kraftwerksparks. Daher streiten die konkurrierenden energiewirtschaftlichen Kapitalfraktionen aktuell darüber, durch welche Energieformen der Ersatzbedarf gedeckt wird. In den öffentlichen Konflikten um Kohle, Uran und die Erneuerbaren Energien wetteifern sie um die jeweils besonderen Vorteile ihrer Energieträger in Bezug auf niedrige Preise, Versorgungssicherheit, Klimaschutz, sowie Wohlstand und Beschäftigung.
Fossilistische Stromriesen ...
Die unzweifelhaft mächtigste Kapitalfraktion sind die großen Energieversorgungsunternehmen (EVU) E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall. Diese international agierenden Stromriesen sind im Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. organisiert und kontrollieren neben den wichtigen überregionalen Übertragungsnetzen mehr als 80 Prozent der Stromversorgung. Ihre Kraftwerksstrukturen beruhen nach wie vor wesentlich auf Kohle und Uran. Für die nächsten Jahre haben sie sich deshalb ein umfangreiches Modernisierungs- und Neubauprogramm für Kohlekraftwerke vorgenommen. Mit dem Versprechen, schon bald die (äußerst fragwürdige) Carbon Dioxide Capture and Storage-Technologie (CCS) einsetzen zu können, versuchen sie solche „emissionsfreien“ Kraftwerke als Beitrag zum Klimaschutz zu verkaufen. Diese Technik soll es ermöglichen, das CO2 im Verbrennungsprozess abzutrennen und dauerhaft in tiefen geologischen Formationen zu speichern. Einige der geplanten Kraftwerksprojekte konnten in jüngster Zeit nicht zuletzt durch den Kampf von lokalen Bürgerinitiativen gekippt werden.
Außerdem drängen die EVU auf eine Verlängerung der Laufzeiten für die bestehenden Atomkraftwerke, weil gerade die alten Schrottmeiler abgeschrieben und damit für die Konzerne Gelddruckmaschinen sind. Darüber hinaus können sie mit den milliardengroßen, steuerfreien Entsorgungsrückstellungen ihre Vormachtstellung auf den Energiemärkten ausbauen. In hocheffiziente Gaskraftwerke und Erneuerbare Energien investieren sie bisher nur zögerlich, da der Markt für Erneuerbare Energien bisher relativ fest in der Hand mittelständischer Unternehmen ist.
Auch politisch sind die großen Stromkonzerne gut aufgestellt. Die grundlegende Loyalität der vom BDI repräsentierten Kapitalfraktion der energieintensiven Industrie sichern sie sich bisher noch durch Sonderstromtarife. Die Industriegewerkschaft Bergbau Chemie Energie (IGBCE), die die Beschäftigten dieser Konzerne organisiert, tritt immer wieder vehement für ihre Unternehmen ein. Insbesondere das Wirtschaftsministerium, einer der mächtigsten Staatsapparate, setzt seine politischen Interessen wirksam durch. Ein sinnfälliger Ausdruck dafür ist, dass zumindest die letzten drei Wirtschaftsminister Werner Müller, Wolfgang Clement und Michael Glos vor und/oder nach ihrer Amtszeit zentrale Positionen bei den EVU bekleideten bzw. noch bekleiden.
... und expandierende Öko-Unternehmen
Hingegen fungiert der Bundesverband Erneuerbare Energien e.V. (BEE) als Lobbyorganisation der Erneuerbarenbranche. Aus ihrer Stellung in der Energiewirtschaft heraus fordert die Branche, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) weiterhin in der gleichen Qualität erhalten bleibt, da es ihnen über die garantierten Mindestvergütungen für ihren Strom ein rasantes Wachstum beschert. Auf dem ersten Energiegipfel am 3. April 2006 verkündete die Branche allein bis 2012 19.000 Megawatt neue Kraftwerksleistung aufstellen zu wollen. Die großen Stromversorger bauen im selben Zeitraum zum Vergleich netto nur 12.500 Megawatt neu.
Obwohl die aufstrebende Kapitalfraktion sich auch in Zukunft auf einen wachsenden Heimatmarkt verlässt, realisiert sie inzwischen 60 Prozent ihrer Profite im Ausland. Deutschland gilt mit einem Marktanteil von 16,4 Prozent als Vorreiter auf dem globalen Markt für Umwelttechnologien, der sein heutiges Volumen von 40 Milliarden Euro bis 2050 mehr als verzehnfachen könnte. Politisch wird die Kapitalfraktion deshalb massiv gefördert, um die „first mover advantages“ auf diesem Zukunftsmarkt auszunutzen und sich im internationalen Konkurrenzkampf gegen die anderen Standorte zu behaupten. Vor allem das Umweltministerium ist der Staatsapparat, der die Interessen des BEE gegen andere Fraktionen und Apparate verteidigt.
Mit der Mitgliedschaft im Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) bekräftigt der BEE seinen mittelständischen Charakter. Unmissverständlich formuliert er auf seiner Homepage ein zentrales Ziel der ökologisch orientierten Firmenpolitik: „Während die Wertschöpfungsketten von Kohle, Gas, Kernenergie und Erdöl fast ausschließlich in den Händen von Großkonzernen liegen, bieten die Erneuerbaren Energien dem Mittelstand endlich den Einstieg in den Energiemarkt“. Neben Verbraucherverbänden und IG Metall sind es vor allem die Umweltverbände, die der Branche immer wieder Schützenhilfe liefern. So stellt der BUND auf seiner Website emphatisch fest: „Deutschland hat einen Ökostrom-Anteil von schon elf Prozent, deutsche Solarfirmen expandieren rasant. Nirgendwo stehen so viele Windräder wie in Deutschland. Wir sind Weltmeister“.
Energiepolitik als reflexive Naturbeherrschung
Diese Konstellation in der deutschen Energiepolitik ist zu verstehen als Konflikt zwischen zwei Kapitalfraktionen und ihren jeweiligen Akteursnetzwerken um verschiedene Ansätze zur Regulation der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Weil die Stromproduktion der EVU wesentlich auf konventionellen Energieträgern basiert, müssten sie bei einem ernsthaften Klimaschutz schwere Störungen ihrer Akkumulationsbedingungen befürchten. Aus diesem Grund versuchen sie mit ihren Verbündeten die hergebrachten energiewirtschaftlichen Strukturen zu konservieren und stabilisieren so weitgehend die konventionelle Form der Naturbeherrschung. Der BEE strebt dagegen mithilfe seiner Bündnispartner eine ökologische Modernisierung an, um aus dem Management der sozial-ökologischen Krise selbst Profit zu schlagen. Er repräsentiert deshalb die reflexive Form der Naturbeherrschung. Das Kräfteverhältnis zwischen diesen konkurrierenden Interessen materialisiert sich in Staatsapparaten, die dementsprechend um die staatliche Energiepolitik streiten. Welches Bündnis und damit welche Variante der Regulation der Naturverhältnisse sich in Zukunft als hegemonial durchsetzt, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Ein tatsächlicher Klimaschutz bleibt aber unwahrscheinlich, weil beide Varianten nicht mit den postfordistischen Naturverhältnissen brechen, die auf die kapitalistische Naturbeherrschung verweisen.
Emanzipatorische Alternativen
Die Rolle emanzipatorischer Bewegungen sollte es deshalb sein, auf dem Wege eines radikalen Reformismus zwar für progressive Klimaschutzmaßnahmen einzutreten, aber zugleich deutlich zu machen, dass der Klimawandel als Krise der Naturverhältnisse mit einer ökologischen Modernisierung des Kapitalismus nicht zu verhindern ist. Vielmehr müssen die der Krise zu Grunde liegenden kapitalistischen Strukturprinzipien selbst verändert werden. Daher dürfen wir die Energieversorgung weder der staatlichen Kontrolle, noch den Kapitalinteressen überlassen. Denn erst wenn die unmittelbar Betroffenen selbst über Gewinnung, Verteilung und Nutzung der Energie gemeinsam reflektieren und entscheiden, wächst die Chance zu einem klimafreundlichen, sozial gerechten und basisdemokratischen Energieversorgungssystem, das mit der Naturbeherrschung bricht.
Die derzeit sichtbarsten Ansätze von BewegungsakteurInnen, sich dieser Herausforderung zu stellen, sind die Attac-Kampagne gegen die großen Stromkonzerne und der Klimacamp-Prozess in Deutschland. Auch linke Theoriekreise wie die BUKO und lokale Zusammenhänge diskutieren inzwischen intensiv das Thema. Unter dem Motto Power to the People setzt sich Attac für demokratisch kontrollierte Stadtwerke und die Überführung der Übertragungsnetze in öffentliche Hand ein, um die Vergesellschaftung der Energiewirtschaft im öffentlichen Diskurs als reale Möglichkeit zu etablieren. Die OrganisatorInnen des deutschen Klimacamps versuchen nach dem Vorbild der englischen Camps for Climate Action an den „Geist von Reddelich“ anzuknüpfen und die klimapolitische Leerstelle des G8-Protestes zu füllen. Mit direkten Aktionen gegen die Infrastruktur der deutschen Energiewirtschaft, wie gegen Baustellen neuer Kohlekraftwerke, wollen sie die herrschende Klimapolitik erschüttern. Dabei sollten wir eine offene Bündnisarbeit eingehen mit allen progressiven NGOs, GewerkschafterInnen und religiösen Gruppen, die zentrale Grundprinzipien einer emanzipatorischen Kritik an der herrschenden Klimapolitik unterstützen. Nur auf diese Weise eröffnet sich die Möglichkeit, wirkungsvoll in die Konflikte um die Gestaltung der Naturverhältnisse zu intervenieren.
Hendrik Sander hat seine Magisterarbeit über Klimapolitik und gesellschaftliche Naturverhältnisse geschrieben und ist bei der Stromkonzernkampagne von Attac aktiv.
Zum Weiterlesen
Christoph Görg: Regulation der Naturverhältnisse: Zu einer kritischen Theorie der ökologischen Krise. Münster 2003
Elmar Altvater: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen: Eine radikale Kapitalismuskritik. Münster 2006