Luciano Canforas Demokratieverständnis

Es passiert nicht alle Tage, dass ein politisch-historisches Sachbuch solch hohe und kontroverse Wellen schlägt wie Luciano Canforas "Eine Kurze Geschichte der Demokratie".

In der politischen Kommunikation zählt, was verschwiegen wird, oft weitaus mehr.
Luciano Canfora

I. Ein neuer Historikerstreit?

Es passiert nicht alle Tage, dass ein politisch-historisches Sachbuch solch hohe und kontroverse Wellen schlägt wie Luciano Canforas Eine Kurze Geschichte der Demokratie. Als die geplante Veröffentlichung des Werkes vom ursprünglichen Verleger, dem renommierten Münchner C.H.Beck-Verlag, abgesagt wurde, erntete Beck im deutschsprachigen Feuilleton weitgehendes Verständnis. Beck sah im Werk des italienischen Altphilologen und bekennenden Kommunisten eine Verharmlosung des Stalinismus und eine Ignoranz bürgerlich-demokratischer Errungenschaften und berief sich dabei u.a. auf ein Gutachten des streitbaren deutschen Historiker Hans-Ulrich Wehler, der bei Canfora historische Fehler, Verdrehungen und schlicht Dummheit ausgemacht und apodiktisch festgestellt hatte, dass es sich hier "nicht nur um eine extrem dogmatische Darstellung" handele, "sondern um eine so dumme, dass sie an keiner Stelle den Ansprüchen der westlichen Geschichtswissenschaft genügen kann".

Canforas Urteile seien "wirklich fragwürdig", schrieb auch Johan Schloemann in der Süddeutschen Zeitung (16.11.05) - um nur einen von vielen vergleichbaren Artikeln aus dem November 2005 zu zitieren - und der Beck-Verlag verdiene "jede Unterstützung", wenn er sich das Urteil gebildet habe, das Buch des "Salonkommunist(en)" "verharmlose den stalinistischen Terror in unerträglicher Weise". Dirk Schümer konnte dem Buch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21.11. zwar auch positive Seiten abgewinnen - "Auf einem Auge blind", nehme Canfora "mit dem anderen historische Sachverhalte besonders scharf wahr, über die wir uns meist angewöhnt haben, hinwegzusehen" -, doch auch er fand Becks Entscheidung schließlich "schade, aber verständlich", weil der "schnoddrig(e) ... hegelianische Vereinfacher" mit seinem "Schönreden der kommunistischen Massaker" "über komplexe Vorgänge hinweggehe, die immerhin das Leben und Sterben von Millionen Menschen beeinflussten".

So einhellig die Kritik des etablierten Feuilletons, so einhellig war daraufhin auch die Verteidigung durch das linke Feuilleton. Otto Köhler nahm sich im Freitag vom 6.1.06 die vom Beck-Verlag intern verbreitete Fehlerliste Canforas vor und ließ an derselben kein gutes Haar. Einzig angebracht sei der Vorwurf, "dass der ehemalige Euro-Kommunist Luciano Canfora Stalin nicht in dem hierzulande seit je als angemessen erachteten Ausmaß verabscheut, ja ihn auch als 'Realpolitiker' betrachtet". Und Georg Fülberth verglich Canfora in der Januarausgabe von Konkret sogar mit Eric Hobsbawm, sprach von dem "gelehrten" und "soliden Kommunisten" und Wissenschaftler, nannte das Buch "ein tolles Stück" und dessen Gegner "Claqueure". Auch Jürgen Harrer, der Verlagsleiter des kleinen linken PapyRossa-Verlags - der nun statt Beck die Veröffentlichung des Buches vorbereitete -, sprach Canfora sofort vom Stalinismusverdacht frei: "Der Stalinismus-Vorwurf ... greift deutlich daneben" sagte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (16.12.05). Und Canfora selbst konterte seinem nun ehemaligen deutschen Verleger mit Zensurvorwürfen und mutmaßte über reaktionäre Motive bei Beck, die vielleicht in der Verlagsvergangenheit im Dritten Reich lägen.

Begierig stürzte sich nach diesen Vorgaben das linke Feuilleton auf die Affäre. Die westdeutschen Blätter für deutsche und internationale Politik veröffentlichten bereits in ihrer Februarausgabe einen Vorabdruck des umstrittenen Werks. Die ostdeutsche Tageszeitung Junge Welt folgte am 13. und 18.April und brachte am 23. und 30.Mai, pünktlich zum Erscheinen des umstrittenen Werks bei PapyRossa, einen umfangreichen zweiteiligen Beitrag von Otto Köhler, in dem dieser den "Fall von Verlagszensur" ("ein Glanzstück bundesdeutscher Geschichtspolitik") ausführlich rekapitulierte und die vermeintliche Nähe Becks zum Faschismus zu entlarven versuchte. Im Juni erschien in der Hamburger Konkret GmbH & Co. KG, dem Buchableger der Zeitschrift Konkret, Canforas kleine Streit- und Verteidigungsschrift "Das Auge des Zeus", in dem sich dieser ausführlicher mit der bis heute unveröffentlicht gebliebenen Fehlerliste des Beck-Verlags auseinandersetzt und aufzuzeigen versucht, dass die Argumente seiner Gegner auf einer falschen (und von PapyRossa mittlerweile korrigierten) Rohübersetzung beruhen. Die Zeitschrift Konkret schließlich druckte in ihrer Juni-Ausgabe Georg Fülberths Vorwort zu Canforas Verteidigungsschrift nach, gab in der Augustnummer dem Beck-Cheflektor Detlef Felken Raum zur Verteidigung und Fülberth die Möglichkeit einer unmittelbaren Antwort.

Zu Recht machten Canfora und seine Verteidiger zahllose Fehler in der Beck'schen Rohübersetzung geltend - so hatte die Rohübersetzung bspw. aus dem "aufhaltsamen Aufstieg" Adolf Hitlers den "unaufhaltsamen Aufstieg" gemacht u.v.a.m. - und verteidigten den wissenschaftlichen Charakter des Buches - gegen Becks Behauptung, dass Canforas Darstellung des Reichstagsbrands als eines von den Nazis gesteuerten falsch sei führten sie neuere Literatur an, die eine solche Meinung mindestens glaub- und diskussionswürdig erscheinen lässt. Ansonsten sei es doch selbstverständlich, dass sich bei einem solch enzyklopädischen Werk der eine oder andere Detailfehler einschleiche. Anstatt dies als Argument gegen den Autor zu benutzen, würde jeder normale Verlag solche Fehler stillschweigend und im Einvernehmen mit dem Autor verbessern.

Wenn aber also kein Stalinismus vorlag, wenn auch von einer fehlenden Wissenschaftlichkeit nicht ernsthaft gesprochen werden könne und es sich bei den inkriminierten Stellen vor allem um Übersetzungsfehler handelte, wie erklären sich Canfora und seine Verteidiger dann den ganzen Vorgang?

Spätestens hier nahm die Auseinandersetzung groteske Züge an, denn wo der FAZ-Korrespondent Schümer treffend die neudeutsche Konsenshistoriografie zum Spaßverderber erklärte, hatten Canfora und seine Verteidiger eine etwas andere Erklärung. Beck habe aus einem Antikommunismus spezifisch deutscher Art heraus gehandelt und damit ein neues Kapitel im ewigen Kampf um eine (west-)deutsche Relativierung des Hitler-Faschismus aufgeschlagen.

Was sie zur Begründung anführten, ist kurios. Canfora interpretierte Felkens Hinweis darauf, dass die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte (in seinen Augen bestimmt vom "Geist des Revanchismus, wenn nicht des unverhüllten Nazismus", S.288) kaum ausreichend mit dem Verweis auf den Ex-Nazi Globke als Adenauers Staatssekretär zu charakterisieren sei, mit der schon reichlich unverschämten Unterstellung, Felken hätte damit sagen wollen, dass Globke ein ausgewiesener Antifaschist und die Nachkriegsentwicklung der BRD damit problemlos gewesen sei (Das Auge des Zeus, S.81f.). Und Otto Köhler ging in seinem Zweiteiler in der Jungen Welt Ende Mai sogar soweit, als einzigen Beleg für seine weitreichende These - dass der liberale Beck-Verlag das Werk "ausdrücklich deshalb ab(ge)lehnt" habe, weil er sich an einer spezifisch deutschen Revision der Geschichtsbetrachtung beteilige, die darauf hinaus laufe, den deutschen Faschismus als normale, gerechtfertigte Reaktion auf den sowjetrussischen Bolschewismus zu beschönigen -, falsch aus einem Brief Felkens an Canfora zu zitieren. Felken hatte in einem auf Englisch geschriebenen Brief an Canfora Hitler als "a serious option", also als eine ernsthafte, ernstzunehmende Option bezeichnet, und damit argumentiert, dass Hitler, anders als es Canfora darstellt, auch Anfang 1933 noch immer eine reale, auch parlamentarische Gefahr dargestellt habe. Köhler nun übersetzte einfach die "serious option" zur "seriösen Option" und hatte das von ihm gewünschte, aber vollkommen sinnentstellte Ergebnis. Er war sich, als ihn ein aufmerksamer Leser der Jungen Welt auf dieses Malheur hinwies, nicht einmal zu schade, nachzusetzen und in derselben Ausgabe, unmittelbar im Anschluss an den Leserbrief (schon dies ein bemerkenswerter Vorgang, der einiges über die redaktionelle Rückendeckung Köhlers aussagt), zu behaupten, dass der Leser zwar philologisch Recht habe. Da jedoch der Beck-Lektor sein Englisch "mutmaßlich bei Heinrich Lübke gelernt" habe, sei serious "für ihn seriös". Basta.

Köhlers entlarvender Fauxpas ging jedoch vollkommen unter in der sich ideologisch immer stärker aufladenden Auseinandersetzung. Georg Fülberth hatte in Konkret 8/06, für die ausführlich vorgetragenen Argumente Felkens nur Hohn und Spott übrig. Und Susanna Böhme-Kuby vermerkte in Ossietzky (Nr.13/06), dass Canforas Selbstverteidigung "fast zuviel der Liebesmüh (ist), denn es helfen keine Argumente, wo der antikommunistische Grundkonsens bereits feststeht". Immer stärker wurde Canfora nun überhöht: Sein Werk sei "ein kompetentes politologisches Lehrbuch", ein "Standardwerk zur Geschichte der Demokratie, sehr geeignet für anspruchsvollere Schulbibliotheken", schreibt Fülberth im Vorwort zum Auge des Zeus und in Konkret (Nr.8/06) behauptet er sogar, das Demokratie-Buch sei "die historische Grundlegung einer Theorie der Demokratie und ihrer Verhinderung in allen bisherigen Ungleichheitsgesellschaften". Als schließlich Tilman Vogt Ende August die erste Canfora-Kritik von links vorlegte und in Analyse & Kritik (Nr.508, 18.8.2006) aufzuzeigen versuchte, das Canforas Demokratie-Buch einer kritisch-linken Geschichte der Demokratie nicht genüge, erntete er dafür umgehend - in seinem, wenn ich richtig gezählt habe, fünften, aber nicht letzten Text zur Debatte: einer Besprechung der beiden Canfora-Bücher in den Marxistischen Blättern (Nr.5/06) - einen schulmeisterlichen Rüffel von Fülberth. Nachdem die bürgerlichen Canfora-Kritiker (fast) allesamt zu Kryptofaschisten erklärt waren, wurde nun auch jede Form linke Kritik unter Generalverdacht gestellt. Denn Fülberth meint gegen Vogt feststellen zu müssen, dass es auch auf der Linken wohl "noch Klärungsbedarf zu geben (scheint)": "Nachdem die Liberalen sich an Canforas Buch die Zähne ausgebissen haben, müssen also die Linken aufpassen, dass ihnen nicht auch so etwas passiert."

Nehmen wir also diesen Fülbertschen Fehdehandschuh auf und lesen selbst. Wie sieht Canfora die Geschichte der Demokratie und welche Rolle spielen darin Liberalismus und Faschismus, Sozialismus und Stalinismus?

II. Canforas Demokratieverständnis: Die Dialektik von Form und Inhalt

Das erste ins Auge springende Problem von Canforas Geschichte der Demokratie ist sein - auch von anderen festgestellter - impressionistischer Stil. Canforas Buch lässt allzu häufig klare Aussagen und Definitionen vermissen und nicht selten andere Autoren sprechen, bei deren Urteilen nicht genau auszumachen ist, inwieweit er sich mit ihnen identifiziert. Das macht sein Buch zu einem interpretationsbedürftigen und dürfte auch wesentlich zu den so unterschiedlichen Lesarten beigetragen haben.

Das beginnt bereits, ganz elementar, bei der Frage nach dem, was genau Canfora eigentlich unter Demokratie versteht. Man muss schon bis zum Ende des Buches warten, bis man zu Definitionsversuchen gelangt und die sind reichlich vage. Die Demokratie sei "eine instabile Größe: Sie ist die (zeitweilige) Vorherrschaft der besitzlosen Klassen in einem unablässigen Kampf um Gleichheit - ein Begriff, der sich seinerseits historisch erweitert und stets neue und hart umkämpfte 'Rechte' beinhaltet." (S.325.) 1 Und "Tatsache ist: Weil die 'Demokratie' eben keine Regierungsform, kein Verfassungstyp ist, kann sie in den unterschiedlichsten politisch-konstitutionellen Formen herrschen, teilweise herrschen, gar nicht herrschen oder sich wieder zur Geltung bringen." (S.355f.) Eine seiner Schlussweisheiten ist deswegen auch, "dass 'absolute' und letzten Endes hohle Worthülsen wie Freiheit und Demokratie die Form und den Inhalt angenommen haben, die heute üblich sind" (S.331).

Man muss nur innehalten und überlegen, was dies eigentlich genau heißen soll, und schon beginnen die Nachfragen: Ja, Demokratie existiert in den verschiedensten Formen, kann mal mehr, mal weniger "herrschen". Aber heißt dies wirklich, dass sie "keine Regierungsform, kein Verfassungstyp ist"? Ist dies wirklich eine "Tatsache"? Oder sollte es nicht vielmehr heißen, dass die Demokratie nicht nur eine Regierungsform, nicht nur ein Verfassungstyp ist und dass sie historisch und politisch auch andere, damit sich beißende Inhalte bezeichnen kann? Was genau wird gemeint, wenn von "letzten Endes hohlen Worthülsen" gesprochen wird? Ist der Kampf um Demokratie wirklich ein Kampf um Gleichheit oder vielleicht auch einer um Freiheit? Und wie vermitteln sich diese beiden zentralen Begriffe zueinander und zu jenem berühmten dritten der Brüderlichkeit/Solidarität? Und was hat diese Trias eigentlich mit dem berühmt-berüchtigten und auch von Canfora bemühten Kampf der Klassen zu tun? Eine theoretisch fundierte Grundlegung des Demokratiebegriffs, die Antworten auf solche Fragen geben könnte, bleibt jedoch die Leerstelle seines Werkes - eine Leerstelle gleichermaßen mit Ursachen wie Folgen.

Wer mit der Geschichte der Demokratietheorien einigermaßen vertraut ist, weiß, in welcher Denktradition Luciano Canforas Demokratieverständnis steht. Es steht in jener hehren Tradition sozialistischen Denkens, die die Demokratie nicht wie das liberale Bürgertum konstitutionell, als formalen Verfassungstyp, versteht, sondern als eine sozialgeschichtliche, politische Bewegung. "Die Demokratie als ein Ding an sich, als eine formale Abstraktion", schreibt bspw. Arthur Rosenberg in seiner klassischen, erstmals 1938 veröffentlichten Studie über Demokratie und Sozialismus, "existiert im geschichtlichen Leben nicht, sondern die Demokratie ist immer eine bestimmte politische Bewegung, getragen von bestimmten gesellschaftlichen Kräften und Klassen, die um bestimmte Ziele kämpfen. Ein demokratischer Staat ist demgemäß ein Staat, in dem die demokratische Bewegung die Herrschaft hat. Die Demokratie zerfällt in die sozialistische und in die bürgerliche Demokratie. Die sozialistische Demokratie erstrebt die Selbstregierung der Massen, wobei die gesellschaftlich wichtigen Produktionsmittel in der Hand der Allgemeinheit sein sollen ... Die bürgerliche Demokratie erstrebt gleichfalls die Selbstregierung der Volksmassen, aber unter Aufrechterhaltung des Prinzips des Privateigentums." 2

Ein solches Demokratieverständnis ist jedoch alles andere als frei von Unschärfen, Spannungen und latenten Widersprüchen. Die Fallstricke dieses klassischen Ansatzes liegen dabei in dem, was man die komplizierte Dialektik von Form und Inhalt nennen kann. Auf der einen Seite führt die (marxistische) Analyse der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft als einer Gesellschaft, die vom antagonistischen Klassenkampf von Lohnarbeit und Kapital strukturell durchdrungen ist, zu der Einsicht, dass mit der Überwindung dieser antagonistischen Struktur auch die strukturelle Fassung dieser Demokratieform - die Verdoppelung der bürgerlichen Gesellschaft in Staat und Gesellschaft, ihre immanente Trennung von Ökonomie und Politik sowie die klassengesellschaftliche Deformation bürgerlicher Freiheit und Gleichheit - überwunden werden wird. Der Inhalt des Klassenkampfs, die Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft hat in der revolutionär-sozialistischen Tradition Priorität vor der Erhaltung ihrer demokratischen Formen. Auf der anderen Seite darf hier keine falsche Dichotomie aufgemacht werden, denn die Geschichte dieser Klassenkämpfe ist natürlich und nicht zuletzt auch eine Geschichte des Kampfes um konstitutionelle Formen, die in der Lage sind, alltäglichen Angriffen des Kapitals Widerstand zu leisten und Klassenbewusstsein zu entfachen und zu entfalten; um organisatorische Formen, die in der Lage sind, ökonomische und politische Klassenkämpfe nicht nur zu führen, sondern auch weiter zu treiben, um die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse schließlich grundlegend umzuwälzen.

Und hier setzte die sozialistische Arbeiterbewegung von Beginn an vor allem auf zweierlei. Zum einen setzte sie auf gerade jene bürgerlichen Freiheiten und demokratischen Formen und Errungenschaften, die die Verfassung der bürgerlichen Demokratie ihr nicht nur bot, die sie dem Bürgertum vielmehr in harten Kämpfen zuallererst abringen musste. Demokratie und Freiheit waren von Beginn an nicht nur formale, beliebig zu benutzende Mittel, sie waren mehr noch der Weg zum Ziel, ein Wert an sich und entsprechend Ausdruck eines kollektiven Bedürfnisses. Zum anderen jedoch verstand die sozialistische Arbeiterbewegung ihre eigenen Organisationsformen (Gewerkschaften, Sport- und Kulturvereine, Konsumgenossenschaften, Parteien) als Organe einer sozialistischen Demokratie, die die Interessen und Bedürfnisse der Klasse als ganzer artikulieren und organisieren sollten, und entsprechend, als Institutionen einer demokratischen Gegenmacht, den zumeist elitären Organen der Herrschenden entgegengestellt waren. Demokratie war also mehrschichtig. Demokratie als (nicht zuletzt ausgesprochen dehnbare) Verfassungskonstitution und Demokratie als politische Klassenbewegung liegen, genau betrachtet, trotz großer Schnittmenge auf verschiedenen Betrachtungsebenen und sind, sowohl praktisch wie theoretisch, immer wieder auseinanderzuhalten, um nicht in jene Fallstricke zu geraten, die Form und Inhalt willkürlich auseinanderreißen.

Da Canfora die verschiedenen, sich latent widersprechenden Ebenen des Demokratiebegriffs nicht theoretisch aufklärt, verfängt er sich immer wieder in den Widersprüchen und Fallstricken dieses klassischen Ansatzes, in der komplizierten Dialektik von Form und Inhalt.

Das antike Athen, Hort und Bezugspunkt klassischer Demokratie in Theorie und Praxis, war bekanntlich eine Klassengesellschaft und beruhte auf der umfangreichen Ausbeutung von Sklaven im Innern und der kriegerischen Eroberung anderer Völker und Staatsgebilde nach außen. Auch Canfora stellt dies zu Beginn seiner Geschichte genüsslich dar und beschreibt, wie in die ursprünglich einzig aus frei geborenen und wehrfähigen, d.h. besitzenden Söhnen athenischer Väter und Mütter bestehende athenische Polis mittels der Ausweitung der Bürgerschaft auf die Besitzlosen "ein neues, dynamisches und explosives Element" (S.44) eingeführt worden sei. Diese explosive Dynamik wird jedoch wieder zurückgenommen, wenn er wegen der vermeintlich unentwirrbaren Vermengung von Rassismus, Oligarchie und Demokratie einen Autor mit der in seinen Augen "entwaffnend(en)" Schlussfolgerung zitiert, dass nirgendwo in der klassischen Antike "das schöne Spektakel einer echten Freiheit" (S.68) geboten worden sei. Canfora scheint dem zuzustimmen, denn "es gab kein Gesetz und keinen Bereich des sozialen und familiären Lebens, in dem die Sklavenwirtschaft keine Rolle spielte" (S.69).

Bereits hier, in der (nebenbei: als solcher nicht unproblematischen) Behandlung antiker Demokratie bekommt seine Darstellung damit einen spezifischen Akzent. Einen Akzent, der eher einer "Entweder-oder"-Logik gehorcht als einer Logik des "nicht nur, aber auch". Sahen ältere Autoren (bspw. der von Canfora bemühte Arthur Rosenberg) im Kampf der subalternen Klassen und Schichten, in ihren Bedürfnissen, Erfolgen und Niederlagen, das dynamisch treibende, weil radikaldemokratische autonome Moment - ohne die strukturellen Begrenzungen und Widersprüche der institutionellen Fassung dieser antiken Demokratie zu verschweigen -, tendiert Canfora bereits hier dazu, "die gesamte Geschichte der Niederlage der Demokratie als einen großen, von diversen Machthabern geplanten Manipulationszusammenhang" zu interpretieren, wie Tilman Vogt im Analyse & Kritik treffend festgestellt hat. Die Darstellung und Entfaltung demokratischer Bedürfnisse und Bewegungen wird bei ihm immer wieder zurückgenommen, indem ihre Kompatibilität mit der klassengesellschaftlichen Herrschaft betont wird. Demokratie ist bei ihm weniger die (wie auch immer widersprüchliche) institutionelle Fassung eines Kampfes der Klassen und Schichten. Demokratie ist ihm zuallererst und letzten Endes ein formales Mittel der oligarchisch Herrschenden, die nachdrängenden Klassen irre zu führen. Es bleibe "festzuhalten", so Canfora, "dass die athenische Demokratie nicht die 'Herrschaft des Volkes' bedeutete, sondern die Übernahme der Führungsrolle innerhalb der 'Volksherrschaft' durch einen kleinen Teil der 'Reichen' und 'Herren', die dieses System akzeptierten" (S.44).

Dies ist dann wohl auch der Grund, warum er über die Klassenkämpfe in der römischen Antike und in den ihr folgenden Jahrhunderten souverän hinwegsieht und seinen Faden erst wieder mit der französischen Revolution aufnimmt. Die neuzeitliche Demokratie der bürgerlichen Revolution könne sich nämlich, so Canfora, deswegen zu Recht auf die antike Demokratie berufen, weil auch sie strukturell auf der Ausgrenzung von Rasse/Ethnie, Klasse und Geschlecht beruhe (die löbliche und von Canfora entsprechend goutierte Ausnahme war der radikale Jakobinerflügel um Robespierre und die von diesen vergeblich lancierte Verfassung von 1793). Auch hier also wieder derselbe strukturelle Blick von oben: die Demokratie vor allem als Herrschaftsmittel und weniger als Mittel der Emanzipation.

Keine Frage, ein solches Demokratieverständnis hat seine unabweisbaren Stärken. Und stark ist auch Canfora dort, wo er die Transformationsprozesse bürgerlicher Demokratietheorie und -praxis darstellt. Ausführlich beschreibt er, wie sich die zur Macht drängenden Bürger aus Angst vor den demokratischen Bedürfnissen und Forderungen der subalternen Klassen und Schichten von (scheinbar 3) radikalen Demokraten zu Liberalen wandeln, deren Demokratievorstellungen wesentlich elitär sind. So nimmt die neue bürgerliche Demokratie im Laufe des 19.Jahrhunderts abermals einen stark oligarchischen Charakter an und schafft es, das Volk mittels Wahlrechtsbeschränkungen der diversesten Art (vor allem dem auf Einpersonenwahlkreisen beruhenden Mehrheitswahlrecht), mittels Korruption und Elitenherrschaft, mittels Wahlabstinenz und sozialen Zugeständnissen, klein zu halten. Ausführlich beschreibt Canfora die Herausbildung des französischen Bonapartismus nach der Revolution von 1848, der eine plebiszitäre Demokratie mit Herrschaftsmethoden mischt, die den Faschismus paradigmatisch vorwegnehmen. Im Angesicht eines solchen gemischten Systems (halb Demokratie, halb Oligarchie) sieht Canfora die politische Linke und die aufkommende Arbeiterbewegung in klassischer Manier als Erbin und Hüterin einer sozialen Demokratie, polemisiert aber ausführlich gegen deren Hoffnungen auf und Illusionen in ein allgemeines Wahlrecht, mit dem man die gesellschaftliche Macht über das Parlament erreichen könne. Vor allem die "naiven" und "willkürlichen" (S.162f.) Vorhersagen des späten Friedrich Engels - wenn es so weitergehe mit den Wahlerfolgen der deutschen Sozialdemokratie, dauere es nicht mehr lange, bis sie mittels der parlamentarischen Mehrheit den Übergang zum Sozialismus beginnen könne - münden wegen dieser Methoden der Entschärfung parlamentarischer Demokratie "strategisch gesehen in eine Sackgasse" (S.163). Entsprechend sei, auch wenn das Wahlrecht seine subversive Seite behalte, der "Mechanismus der unaufhaltsamen und fortschreitenden Integration ... die Kehrseite des Marsches in das System" (S.171).

Hier aktualisiert Canfora implizit jene Lehren der radikalen Linken, die zu Beginn des 20.Jahrhunderts gegen den Reformismus eines Bernstein und anderer geltend machten, dass die bürgerlich-demokratische Verfassungsform des Klassengegensatzes ihre strukturelle Beschränkung hat. Wenn die Klassenherrschaft eine in ihrem Alltag wesentlich sozialökonomisch funktionierende, politisch nur vermittelte ist, wenn das antagonistische Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital und das durch dieses konstituierte Lohnsystem ein wesentlich auf wirtschaftlichen Verhältnissen beruhendes, in diesem Sinne ökonomisches ist, und kein Rechtssystem wie soll man dann also, so die berühmte Frage Rosa Luxemburgs an den auf eine Revolution mittels parlamentarischer Formen setzenden Eduard Bernstein, "die Lohnsklaverei 'auf gesetzlichem Wege' stufenweise aufheben, wenn sie in den Gesetzen gar nicht ausgedrückt ist?": "Man wird in unserem ganzen Rechtssystem keine gesetzliche Formel der gegenwärtigen Klassenherrschaft finden." 4

Da der Antagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital durch die wesentlich individualrechtlich gefasste Freiheit bürgerlicher Demokratie, durch die der bürgerlichen Gesellschaft eigene Trennung von Politik und Ökonomie strukturell verschleiert wird, gelte es, so die Lehre der sich nach der sowjetrussischen Revolution formierenden III., Kommunistischen Internationale, zuerst die bürgerlich-kapitalistischen Ausbeutungs- und Herrschaftsstrukturen zu zerstören - by any means necessary -, um anschließend eine harmonische und demokratisch-selbsttätige Entwicklung der Bevölkerungsmassen zu ermöglichen. Aus diesem Primat des klassenkämpferischen Inhalts vor dessen organisatorischer Form erklärt sich auch jener bemerkenswerte Pragmatismus, den die frühe Kommunistische Internationale an den Tag legte, wenn es um die formale Rolle von Parteien, Gewerkschaften und Räten ging.

"Für uns", so Lenin während der russischen Revolution, "sind die Sowjets nicht als Form wichtig, uns ist wichtig, welche Klassen diese Sowjets vertreten." Und die Kommunistische Internationale erklärte in ihrem ersten Manifest an das Proletariat der ganzen Welt von 1919:

"An das Proletariat die Forderung zu stellen, dass es im letzten Kampf mit dem Kapitalismus, in dem es sich um Leben und Tod handelt, lammfromm den Forderungen der bürgerlichen Demokratie folge, hieße, von einem Menschen, der gegen Räuber sein Leben und seine Existenz verteidigt, die Befolgung der künstlichen, bedingten Regeln des französischen Ringkampfes zu verlangen, die von seinem Feinde festgestellt, aber von ihm nicht befolgt werden. Im Reich der Zerstörung, wo nicht nur die Produktions- und Verkehrsmittel, sondern auch die Institutionen der proletarischen Demokratie blutige Trümmer darstellen, muss das Proletariat seinen eigenen Apparat schaffen, der vor allem als Bindemittel für die Arbeiterklasse dient und ihr die Möglichkeit eines revolutionären Eingreifens in die weitere Entwicklung der Menschheit sichert. Dieser Apparat sind die Arbeiterräte ... Das Proletariat schuf eine neue Form des Apparates, der die gesamte Arbeiterschaft umfasst, unabhängig von Beruf und politischer Reife, einen elastischen Apparat, der fähig ist, sich immerwährend zu erneuern, zu erweitern, immer neue und neue Schichten in seine Sphäre hineinzuziehen, seine Türen den dem Proletariat nahe stehenden arbeitenden Schichten der Stadt und des flachen Landes zu öffnen. Diese unersetzliche Organisation der Selbstverwaltung der Arbeiterklasse, ihres Kampfes und in Zukunft auch der Eroberung der Staatsmacht ist durch die Erfahrung verschiedener Länder erprobt und stellt die größte Errungenschaft und die mächtigste Waffe des Proletariats unserer Zeit dar." 5

Eine solche Theoretisierung der Räteform hinderte dieselbe Kommunistische Internationale nicht daran, nur ein Jahr später, in ihrem zweiten Manifest, scheinbar zurückzurudern, denn:

"Die bloße Anerkennung des Rätesystems löst keine Fragen. Die Organisation der Räteregierung besitzt keine wundertätige Kraft. Die revolutionäre Kraft liegt im Proletariat selbst. Es ist unbedingt notwendig, dass es sich zum Aufstand und zur Erkämpfung der Macht erhebt; nur dann kann die Räteorganisation ihre Vorzüge an den Tag bringen als eine unvergleichliche Waffe in der Hand des Proletariats ... Berufsorganisationen, ökonomischer und politischer Streik, legale und illegale Aktionen, geheime Stützpunkte in der Armee, Arbeit in Konsumvereinen, Barrikaden - keine einzige von der Entwicklung der Arbeiterbewegung geschaffene Form der Organisation oder des Kampfes verwirft die Kommunistische Internationale, und nicht eine einzige Form wird von ihr als Allheilmittel betrachtet. Das Rätesystem ist kein abstraktes Prinzip, das die Kommunisten dem Prinzip des Parlamentarismus entgegenstellen. Das Rätesystem ist ein Klassenapparat, der im Kampfe und durch den Kampf den Parlamentarismus beseitigen muss und ihn ersetzen soll." 6

Viele Gegner, Historiker und Interpreten haben sich an diesem (theoretisch ausgewiesenen) Pragmatismus die Zähne ausgebissen und den Bolschewiki ein rein taktisches Verhältnis zu demokratischen Methoden vorgeworfen. Leider bestärkt wurden sie darin von der historischen Entwicklung selbst, die so manchen Kommunisten in der Hitze des revolutionären Gefechtes entsprechend "radikal" denken und handeln ließ. "Die Massen", so bspw. der damalige kommunistische Hamburger Parteisekretär Urbahns - in Weimarer Zeit von einiger Bekanntheit -, "werden mit uns sagen: Lieber im Feuer der Revolution verbrennen, als auf dem Misthaufen der Demokratie verrecken." 7 Die politische Überspitzung in revolutionärer Zeit ist eines. Etwas anderes ist es jedoch, sich als Historiker ein dreiviertel Jahrhundert später hinzustellen, und dem unter Absehung der folgenden Geschichte theoretisch wie praktisch beizupflichten. 8

Man kann die mit der sowjetrussischen Revolution einsetzende Geschichte nicht ernsthaft schreiben, ohne auf die dem bolschewistisch-kommunistischen Konzept einer wesentlich auf (Klassen-)Bewusstseinsentwicklung beruhenden Revolutionstheorie eigene Schwäche einzugehen - jenen dem bolschewistisch-kommunistischen Konzept latent eingeschriebenen Substitutionismus, der die revolutionäre Avantgarde zur "A-priori-Zentralinstanz der Vernunft" (Peter Cardorff) 9 verdinglicht. An der historischen Erfahrung, dass sich ein auf allgemeinmenschliche Emanzipation zielendes und auf Dauer gesetztes revolutionäres Bewusstsein weder auf rein spontanem und unmittelbarem noch auf dem reformistischen Wege zu bilden vermag, und bestimmter Institutionen bedarf, in denen es sich nicht nur halten, sondern immer auch erneuern lässt, hat sich die sozialistisch-kommunistische Bewegung bisher vergeblich versucht. "Die gesamte Geschichte des bolschewistisch-kommunistischen Konzeptes bis heute", so Cardorff, 10 "ist die Geschichte der Suche nach solchen institutionellen Formen, die revolutionäres Bewusstsein verstetigen, das in spontanen Aktionen und kurzen Aktivitätsphasen aufblitzt. Selbst in revolutionären Krisen haben die bisher entwickelten Formen (Partei, Gewerkschaften, Räte, Milizen, Fabrik- und Stadtteilkomitees etc.) nicht ausgereicht, um diese Aufgabe zu erfüllen."

Da haben wir sie wieder, die vermaledeite Dialektik von Form und Inhalt, von der ein Luciano Canfora nicht einmal einen Begriff, geschweige denn die passende Lösung zu bieten vermag. Nirgendwo wird dies deutlicher als in seiner Behandlung jenes "europäischen Bürgerkrieges", den er im zweiten Teil seines Werkes ausführlich thematisiert, in jenem Teil, der den nachhaltigen Unmut des Beck-Verlags verursacht hat.

III. Der europäische Bürgerkrieg: Stalinismus oder was?

Von einer Geschichte demokratischer Bewegungen, Formen und Inhalte (wie kritisch auch immer) kann bei Canforas Darstellung des auf die sowjetrussische Revolution folgenden "europäischen Bürgerkriegs" ebenso wenig mehr die Rede sein wie von einer Geschichte der Klassenkämpfe. Er schreibt hier, nun ohne jede weitere Zurückhaltung, die Geschichte einer zunehmenden Abscheu vor der Demokratie und verabsolutiert die Idee sozialer Demokratie zur prinzipiellen Absage an demokratische Formen.

Mit der Darstellung der ersten (mindestens für einige Jahre) erfolgreichen und den Übergang zum Sozialismus offen proklamierenden Arbeiterrevolution der Geschichte hält sich Canfora, wie immer, nicht lange auf - auch nicht mit der demokratietheoretisch interessanten Debatte um Räteherrschaft, Partei und Gewerkschaften. Nachdem er beschrieben hat, wie vergleichbare revolutionäre Prozesse in Deutschland und Italien scheiterten - und dabei in einer selbst für einen offen parteilichen Historiker eher problematischen Schärfe über "das sozialdemokratische Spießertum" (S.207) herzieht -, geht er dazu über, den Angriff der liberalen westlichen Ententemächte auf das revolutionäre Russland und die auch nach dessen militärischem Scheitern fortgesetzte weltpolitische Frontstellung zwischen Bolschewismus und Liberalismus zu schildern. Geschichte wird ihm auf diesem Wege zum Kampf der Individuen (Churchill und De Gaulle gegen Stalin), zum Machtkampf von Personen (Trotzki gegen Stalin), und der Kampf der Klassen und Schichten wird zum Kampf der Gesellschaftssysteme (Liberalismus und Faschismus gegen Sozialismus). Ein Kampf um Macht zudem, der vor dem Hintergrund einer weitreichenden weltpolitischen Wende stattfand: dem Ende des weltrevolutionären Prozesses. Canfora diskutiert dieses vermeintliche Ende nicht, er behauptet es schlicht und einfach. Und er zieht aus dieser Behauptung weitreichende Konsequenzen, denn Stalin als die personelle Verkörperung sozialer Demokratie im Kampf der Gesellschaftssysteme bekommt auf diesem Wege automatisch und prinzipiell Recht in seinem Kampf gegen den Liberalismus auf der einen und die linke Opposition auf der anderen Seite. Stalin mag ungerecht gewesen sein und sogar Verbrechen begangen haben, aber es ist das vermeintliche Ende der Weltrevolution in den 20er Jahren, die ihn in den Augen Canforas zu einem weltpolitischen Realisten machen und historisch rechtfertigen.

Stalins vermeintlicher Realismus - dies war und ist auch einer der zentralen Streitpunkte zwischen dem Beck-Verlag und der bürgerlichen Presse auf der einen und Canfora und seinen linken Verteidigern auf der anderen Seite. Doch so neutral besetzt, wie dies Canfora und seine Verteidiger darzustellen versuchen, ist Stalins Realismus bei ihm nicht, denn er bekommt seine positiv aufgeladene Aura gerade durch die Auseinandersetzung mit möglichen Alternativen zu Stalin und dem Stalinismus.

Da wäre natürlich zuallererst und vor allem jener Leo Trotzki, der als politisch-militärischer Führer zuerst die bolschewistische Machtergreifung selbst und dann auch den Sieg der revolutionären Roten Armee über die Invasionsstreitkräfte der Entente-Mächte organisierte, um schließlich, in der zweiten Hälfte der 20er Jahre zum Führer der linken Opposition und Inspirator der vereinten Opposition gegen den aufkommenden Stalinismus zu werden. Für Canfora konnte Trotzki aus zwei Gründen keine historische Alternative sein. Für den an das vermeintliche Ende der Weltrevolution Glaubenden ist, dies zum ersten, das "Scheitern der Illusion, die Lage sei nach wie vor 'revolutionär'" - die Benutzung der Anführungszeichen durch Canfora wäre eine eigene Beschäftigung wert - "zugleich ein Scheitern der trotzkistischen Losung von der 'permanenten Revolution'" (S.233). 11 Und zweitens war ihm der "Kern des Problems" "die Spaltung einer Partei, die soeben durch eine Revolution die Staatsmacht erobert hatte" (S.336). Dies ist ihm deswegen ein Argument, weil es gerade Trotzki gewesen sei, der "(zusammen mit Sinowjew und Kamenew)" die tiefe Spaltung und "in gewissem Sinne", das innerkommunistische Schisma "herbeiführte" (S.335f.): "Trotzki kannte das Handwerk des Revolutionärs nur allzu gut und war viel zu sehr überzeugt, im Recht zu sein und zum Nutzen der Revolution zu agieren, als dass er vor etwas zurückgewichen wäre, wenn es seinem Sieg im Wege stand: wie es scheint [sic] auch nicht vor der Möglichkeit eines Staatsstreichs am Vorabend der Parade zum zehnten Jahrestag der Revolution am 7.November 1927." (S.336.)

Trotzki beherrschte also nicht nur das "Handwerk der Revolution" - es riecht nach gebückten Individuen in schwarz und mit einer Bombe in der Hand... -, er war auch egozentrisch genug, die bolschewistische Partei und die internationale kommunistische Bewegung zu spalten und gegen Stalin und die junge Sowjetmacht putschen zu wollen. Doch schon hier lässt sich die sowohl wissenschaftlich wie politisch unzureichende Argumentationsmethode Canforas aufzeigen. Denn zum einen werden hier Fakten und Meinung unzulässig und suggestiv vermischt: Selbst wenn der Ende 1927 vermeintlich vonstatten gehende Putschversuch Trotzkis tatsächlich stattgefunden hätte, wäre er kein Argument für eine Parteispaltung, die bereits in den Jahren 1924/25 offen zutage getreten war. Zum zweiten stimmen die vermeintlichen historischen Fakten schlicht nicht. Es gibt nicht nur keinen Beweis für die These vom Putschversuch. Ganz im Gegenteil ist Trotzki von vielen vorgeworfen worden, einen solchen nicht zum Wohle der Revolution versucht zu haben. Worauf Trotzki nicht nur weise, sondern ausgesprochen realistisch geantwortet hat, dass er auf diesem Wege selbst zu einem "stalinistischen" Diktator geworden wäre.

Was Canfora hier wissenschaftlich verbrämt aufwärmt, ist nicht mehr als die klassische stalinistische Verleumdung, die bereits damals, 1927, nur die Begleitmusik der stalinistischen Repression gegen die Parteiopposition war. Erinnern wir uns: Es war anlässlich des zehnten Jahrestags der Oktoberrevolution, als die bereits vollkommen in die Defensive geratene Vereinigte Opposition um Trotzki, Sinowjew u.a. die öffentlichen Feiern zu einer schüchternen, aber erstmals öffentlichen Demonstration gegen den stalinistischen Kurs der Partei benutzten. Und es war Stalin, der daraus umgehend einen Putschversuch konstruierte und dies zum Anlass nahm, die Oppositionellen nicht nur aus allen Parteiämtern, sondern gleich auch der Partei selbst zu entfernen und anschließend einer nachhaltigen Repression zu unterwerfen - dies war, im historischen Blick, nicht mehr und nicht weniger als der Durchbruch der politischen Konterrevolution Stalins. Canfora stellt diesen historischen Kontext natürlich (natürlich?) nicht dar, suggeriert stattdessen Zusammenhänge, die er dann mit ressentimentgeladenem Alltagsverstand anreichert. Um diese in keiner Weise originelle, sondern ganz in der Tradition des Stalin'schen Zentralsekretariats stehende Verleumdung großen Stils entsprechend glaubwürdig erscheinen zu lassen, behauptet er, dass das gegenseitige Bild, das Stalin und Trotzki vom jeweils anderen zeichneten, "von Hass geprägt (war), und ganz gewiss [sic] hielt keiner von beiden eine gegenseitige historische Analyse für notwendig" (S.336). Zuerst behauptet er also eine nichts erklärende, aber emotional aufgeladene Banalität - Hass! -, um dann eine unverschämte Nebelkerze - Unfähigkeit zur objektiven Analyse! - zu zünden. Man mag Trotzki (vielleicht) manches vorwerfen können, nicht jedoch, dass er sich seit Mitte der 20er Jahre bis zu seiner (von Stalin organisierten und befohlenen) Ermordung im Jahre 1940 nicht immer wieder öffentlich und auf anerkanntem Niveau mit Stalin als Mensch und als politischer Figur auseinandergesetzt hätte - was Stalin umgekehrt tunlichst vermieden hat, weil es ihm darum ging, ein Tabu zu konstruieren, mit dem er alle möglichen Formen wirklicher oder eingebildeter Renitenz repressiv bekämpfen konnte. Ein Verhältnis struktureller und mit Repression aufgeladener Ungleichheit wird hier verbal egalisiert und verharmlost - eine Methode, die weder etwas mit Wissenschaft noch etwas mit politischer Moral zu tun hat.

Auch wenn das permanente Trotzki-Bashing an sich schon reicht, um seine Methoden zu entlarven - Trotzki war und bleibt eben der ewige Stachel im Fleische seiner kommunistischen Brüder, die Verkörperung einer (wie auch immer konkret zu beurteilenden) historischen Alternative -, Canforas Problem ist viel weitreichender. Weil nämlich die "trotzkistische Internationale seit Ende der zwanziger Jahre" - diese Internationale gibt es, das sei nur nebenbei erwähnt, erst seit Ende der dreißiger Jahre, sprich: seit 1938, anders als es der stalinistische Alltagsverstand seit Ende der zwanziger Jahre zu behaupten nicht müde wird... - ein "polemische(s) Bild der UdSSR als 'thermidorianisch'" (S.339) zeichnete - gemeint ist die "trotzkistische" These von der politischen Konterrevolution unter Stalins Herrschaft -, sind Sozialisten und Sozialdemokraten in den 30er Jahren in diesen Chor eingestiegen und haben gemeinsam dazu beigetragen, dass bald auch die bürgerlichen Reaktionäre, "die schärfsten Antikommunisten", die sozialistische Sowjetunion nicht mehr angriffen, weil diese der Hort der proletarischen Diktatur sei, sondern umgekehrt, weil sie angeblich gar nicht mehr wirklich kommunistisch sei - "(und die Klagen der Abtrünnigen, die für bare Münze genommen wurden, lieferten für diese Argumentation reichlich Stoff)" (S.70). Das linksoppositionelle Argument, dass es sich bei Stalins Politbüro um eine neue Oligarchie handele, stellt Canfora (S.70) auf eine historische Stufe wie die reaktionären Angriffe auf die Jakobiner der französischen Revolution, deren Republik sei in Wirklichkeit eine grausame Oligarchie, eine Despotie gewesen - obwohl er später selbst das Stalin-System als Oligarchie entlarvt (S.327f.). So wurde, soll jedenfalls suggeriert werden, jenes Ansehen der sozialistischen Sowjetunion zerstört, dass diese im blutigen Kampf der Systeme so dringend gebraucht hätte.

Dem heutigen Historiker Canfora geht dieses Problem so nah, dass seine ganzen weiteren Ausführungen durchsetzt sind mit Pfeilen des mal mehr mal weniger versteckten Hasses gegen alles, was irgendwie linker war als Stalin und sein sowjetisches System. Nicht nur die "trotzkistischen" Intellektuellen wie Isaac Deutscher, George Orwell und Ken Loach werden immer wieder gerne aufgespießt. Auch der spätere jugoslawische Kommunist Tito wird entlarvt: Bei dessen kursorischer Behandlung weist Canfora zuerst auf die "summarischen und brutalen Methoden" von Titos Partisanenkampf hin und darauf, dass dieser bis 1948 "als Prototyp sowjetischer Quislinge" (S.272) galt, um dann, nach Titos Zerwürfnis mit Stalin, darauf hinzuweisen, dass der sowjetische Propagandaangriff gegen die jugoslawischen "Kriminellen" "durchaus Elemente der Wahrheit enthielt" (S.272).

Eine besondere Rolle im ideologischen Stellungskrieg des Stalinismus, auch bei Canfora, spielt natürlich die spanische Revolution von 1936-39. Die chinesische Revolution von 1927 meint Canfora ebenso übergehen zu können wie den österreichischen Aufstand von 1934 oder die französische Revolution von 1936 - im Angesicht solch revolutionärer Prozesse müsste er wahrscheinlich weiter ausholen, um seine These vom Ende der Weltrevolution retten zu können. An der spanischen Revolution aber kommt auch er nicht ganz vorbei. Hatten Stalin und die Kommunistische Partei dort nicht eine wirkliche Revolution kaltblütig abgewürgt, weil sie nicht in ihr politisch-diplomatisches Konzept passte? Auch wenn man sich heute nicht gern daran erinnere, so Canfora larmoyant, bleibe es jedoch "Tatsache ... dass die UdSSR der einzige europäische Staat war, der fest zur spanischen Republik stand" (S.235). Und da sowohl die starken spanischen Anarchisten wie auch die für eine sozialistische Revolution eintretende kleine POUM - die Canfora als "eine gemeinhin als trotzkistisch bezeichnete Splitterpartei" (S.235) bezeichnet und damit abermals zu erkennen gibt, dass er entweder ein unsauber arbeitender Wissenschaftler oder ein dogmatischer Apologet des Stalinismus oder beides ist - den sozialrevolutionären Prozess weiter zu treiben versuchten, wäre es Moskaus Linie in Spanien gewesen, offensichtlich zu Recht, "die 'Umstürzlerei' à la Largo Caballero" - gemeint (aber wieder mal nicht ausgeführt) ist hier immerhin der linkssozialistische Ministerpräsident der spanischen Volksfrontregierung - "zu bremsen und mit aller Härte, deren der Stalinismus fähig war, eine Politik durchzusetzen, die das gemäßigte, aber der Republik gegenüber loyale Bürgertum nicht abschreckte" (S.235).

Dass die sowjetische Volksfrontpolitik in Spanien zudem kein einmaliger historischer Ausrutscher, sondern die Logik stalinistischer Politik war und ist, macht Canfora im unmittelbaren Anschluss deutlich, wenn er schreibt, dass die "spanische Erfahrung von 1936-39 in vielerlei Hinsicht derjenigen Salvador Allendes in Chile 1970-73 (ähnelte)". Auch dort war es die KP, die von der "extremen Linken des MIR und der sozialistischen Linken" des Verrats an den sozialen Inhalten der Revolution bezichtigt wurden, während es doch gerade diese waren, die es der Rechten erlaubten, jene Schichten um sich zu sammeln, die vom Extremismus der radikalen Linken "in Angst und Schrecken versetzt wurden" (S.236).

Canfora ist sich nicht einmal zu schade, sogar die Moskauer Schauprozesse von 1936-38 zu rechtfertigen und die in ihnen zuerst entwürdigte und dann hingerichtete alte bolschewistische Garde in schlimmster stalinistischer Tradition als objektive Konterrevolutionäre hinzustellen (S.338). Er macht so jede Wendung von Stalins politischem Zickzackkurs mit und liefert für alle diese Wendungen entsprechende Begründungen, die dann positiv aufgeladen werden, weil sie sich allen möglichen Alternativen als vermeintlich überlegen ("realistisch") erweisen. Wie soll man eine solche Sicht auf die Geschichte des Stalinismus anders nennen als stalinistisch?

Im Jahre 1936 erzürnte sich Leo Trotzki (im Vorwort seiner Schrift Verratene Revolution. Was ist die Revolution und wohin treibt sie?) über die damals im Westen um sich greifende Literatur, in der sich bekannte Humanisten, Pazifisten und Linke nichtkommunistischer Provenienz (Romain Rolland, Sydney und Beatrice Webb u.a.), vor allem in Form von Reisereportagen, über die Lage und Entwicklung in der jungen Sowjetrepublik beeindruckt zeigten. Was diese Figuren trotz aller Unterschiede eine, so Trotzki, sei "das Sich-Verbeugen vor der vollendeten Tatsache und die Vorliebe für beruhigende Verallgemeinerungen. Gegen den eigenen Kapitalismus zu rebellieren, sind sie außerstande. Umso bereitwilliger stützen sie sich auf eine schon in ihre Ufer zurückgetretene fremde Revolution." Es handelte sich bei den meisten dieser "Freunde der Sowjetunion" nicht um Stalinisten im wirklichen Sinne. Was sie vertraten war vielmehr, so Trotzki treffend, ein "Bolschewismus fürs aufgeklärte Bürgertum oder, im engeren Sinne, Sozialismus für radikale Touristen". 12 Das Ergebnis jedoch war und ist dasselbe: die Apologie Stalins und des historischen Stalinismus sowie die Denunziation der Kritiker, Nörgler, Idealisten und Abenteurer von links und rechts. Luciano Canfora mag sich nicht als Stalinist empfinden, er reproduziert jedoch das ganze Programm stalinistischer Logik, deren Weltsicht, Argumente, Vorurteile und Denunziationen - und reiht sich damit nahtlos ein in jene neueren Versuche linker Intellektueller, die politisch-theoretische Substanz des Stalinismus zu bewahren, und ihn zu diesem Zwecke auch als historischen wieder zu rechtfertigen. Was den deutschen Linken ein Kurt Gossweiler, eine Sahra Wagenknecht oder ein Hans Heinz Holz, ist den Italienern dabei ein Domenico Losurdo oder ein Luciano Canfora.

Eine solch stalinistische Sicht auf die Geschichte setzt sich nicht zu Unrecht vielfältigen Anfeindungen aus, von "links" wie von "rechts". Und in der Tat: Wie vereinbar ist es bspw. mit der politischen oder historischen Logik, wenn derselbe Stalin, der die demokratischen und liberalen Bürger im antifaschistischen Kampf nicht vor den Kopf stoßen will und deswegen mithilfe seiner Volksfrontstrategie und -praxis die linken Idealisten und Abenteurer mit Gewalt und Tücke bändigt und die soziale, sprich: sozialistische Revolution im Westen von der Tagesordnung nimmt, plötzlich eine Kehrtwende um 180 Grad vollführt, und einen als Nichtangriffsvertrag apostrophierten politisch-diplomatischen Freundschaftspakt mit dem vermeintlich verhassten deutschen Faschismus schließt, der sogar, in einem geheimen Zusatzprotokoll, die Zerstörung des Staates Polen und dessen territoriale Aufteilung zwischen den Vertragspartnern beinhaltet - ein Aspekt, der in der Beck-Begründung eine zentrale Rolle spielt.

Die traditionelle, von links wie von rechts getragene Erklärung für diese spektakuläre Wende Stalin'scher Politik ist, dass Stalins Versuche einer gemeinsamen politisch-diplomatischen Kampffront von Liberalismus und Sozialismus (England, Frankreich und die Sowjetunion) am Widerwillen des Liberalismus scheiterten, und so nur ein taktisches Bündnis mit dem Faschismus übrig geblieben sei. Selbst bei Kritikern und Gegnern des Stalinismus ist dies eine Erklärung, die zumeist wohlwollend akzeptiert wird (schließlich ging es darum, die faschistische Barbarei zu besiegen), selbst wenn damit die ganze politische Logik Stalins ad absurdum geführt wird: Sollte nicht die ganze Wendung zur stalinistischen Volksfrontstrategie gerade dazu dienen, den Faschismus effektiver zu bekämpfen? Wurden nicht gerade die revolutionären Prozesse bspw. in Spanien von oben abgebrochen, um dieses politische Bündnis zu erreichen? Und wurden die alten Bolschewisten Sinowjew, Kamenew, Bucharin und all die anderen deswegen hingerichtet, weil sie vermeintlich mit dem Faschismus paktiert hatten? Luciano Canfora nun bereichert diese Debatte, in dem er - sich auf Tagebuchaufzeichnungen von Stalins Gefolgsmann Dimitrov stützend - behauptet, Stalin habe wahrscheinlich gar nicht aus taktischen Gründen gehandelt, sondern strategisch gedacht. Es erscheine "heute als sicher, dass es sich hierbei um eine strategische Entscheidung und nicht um einen taktischen Schachzug Stalins handelte" (S.238).

Für Georg Fülberth ist gerade dies der schlagende Beweis, dass Canfora kein Stalinist ist. Er habe "nirgends eine so scharfe Verurteilung Stalins gelesen", wie er im Gespräch mit der Jungen Welt vom 6.10.06 zu Protokoll gibt. Doch was meint Canfora eigentlich mit seiner Kritik? Er sagt dies einmal mehr nicht explizit, aber klar ist, und so wurde er auch verstanden, dass dies nur heißen könne, dass Stalin 1938/39 zu der Überzeugung gelangt sei, dass nicht der Faschismus der Hauptfeind seines real existierenden Sozialismus sei, sondern der bürgerliche Liberalismus Englands und Frankreichs. Das ist jedoch keine Kritik am Stalinismus, sondern eine Kritik an der Person Stalin - nicht mehr und nicht weniger. Und was er damit sagt, ist, dass Stalin vor allem eins war - politisch dumm! Für eine Kritik des Stalinismus kann dies nur jemand halten, der im Stalinismus nicht mehr als einen - wie auch immer exzessiven - Machtexzess einer ansonsten sozialistischen Gesellschaftsordnung zu sehen vermag; der das Problem des Stalinismus also personalisiert und nicht materialistisch angeht.

Dass Canforas These vom Strategiewechsel Stalins gar nicht als grundsätzliche Kritik gedacht ist, wird zudem deutlich, wenn man seine Argumentation weiter verfolgt. Denn es war diese "unerwartete sowjetische Wendung ... die Hitler zum selbstmörderischen Überfall auf Russland brachte" (S.246). Stalins genial-dummer Strategiewechsel war also für Canfora die treffende Provokation, Hitler zum Einmarsch in die Sowjetunion zu drängen, um ihn dann richtig besiegen zu können. Ja mehr noch: es waren die Folgen dieses Strategiewechsels, die von ihm sogar geschichtsphilosophisch überhöht werden, denn "der Juni 1941 brachte nicht nur die Wende im Zweiten Weltkrieg, er eröffnete auch ein neues Kapitel der Demokratie in Europa" (S.249).

Bevor ich darauf zurückkomme, ist noch nach dem geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags zu fragen, das mal so eben die Zerschlagung des polnischen Staates vereinbarte. Für Canfora ist dies kein wirkliches Problem, denn was wäre die Alternative hierzu gewesen, fragt er. Die Alternative wäre in seinen Augen ein unmittelbarer Krieg der Sowjetunion mit Deutschland gewesen - wegen Polen. Aber, schreibt er, "die Wahrheit [sic] ist, dass Polen 1938/39 ein geradezu hysterisch antisowjetischer Staat war, der sich Hitlerdeutschland gegenüber ausgesprochen willfährig zeigte" (S.239). Und nicht jedes kleine Land sei unschuldig, zitiert er genüsslich (wen auch immer) und verweist anschließend auf "die neuesten Enthüllungen über den wüsten polnischen Antisemitismus während der Nazi-Okkupation" (S.269).

Es wäre eine in einem Buch über die Problemgeschichte der Demokratie nicht nur naheliegende, sondern auch ausgesprochen interessante und lehrreiche Frage, ob denn Demokratie und Menschenrechte wirklich eine Frage des Wohlverhaltens von Menschen und Staaten sein können. Ein prinzipieller, radikaler Demokrat - Fülberth nennt ihn im Vorwort zum Auge des Zeus einen "Verfechter der uneingeschränkten Demokratie" und für Felix Klopotek ist Canfora "ein souveräne(r) Forscher", der "die absolute Legitimität des Einspruchs der Subalternen gegen die sanktionierte Vorstellung von Demokratie" verteidige (Kölner Stadtrevue, Nr.9/06) - kann solchen Zynismus jedenfalls unmöglich unterschreiben. Doch Freiheit und Demokratie sind dem allzu einseitig auf soziale Demokratie setzenden Luciano Canfora nichts. Die bedingungslose Verteidigung der im Namen des Sozialismus im damaligen Moskau unbeschränkt herrschenden bürokratischen Clique ist ihm dagegen alles - mehr war eben weltgeschichtlich nicht drin... Dass sich ein humanistisch gesinnter bürgerlicher Verlagslektor maßlos über solche Behandlung der Vergewaltigung der polnischen Nation aufregt, ist mehr als verständlich. Dass dieser seinen Groll vielleicht nicht in der treffenden marxistischen Form zu begründen vermag, kann kein ernsthaftes Argument gegen die Tatsache selbst sein.

IV. Demokratietheorie und -praxis nach dem Stalinismus

Der tiefgreifende und nachhaltige Einschnitt, den der historische Stalinismus für die sozialistische Bewegung bedeutet, ist der Tiefe und Nachhaltigkeit des Einschnitts vergleichbar, den der Faschismus für die bürgerlich-demokratische Bewegung bedeutet. Die Probleme menschlicher Emanzipation und humanem Fortschritts sind danach nicht mehr dieselben wie davor - und dies betrifft nicht zuletzt die Probleme sozialistischer Demokratie.

Im politischen Substitutionismus des Stalinismus, in seiner erziehungsdiktatorischen Stellvertreterpolitik, haben sich Emanzipations- und Fortschrittsidee der sozialistischen Bewegung verkehrt. Hat die bürgerliche Freiheit die persönliche Abhängigkeit der feudalen Gesellschaftsordnung zerstört, um an deren Stelle die sachlich-materielle Abhängigkeit vom Akkumulationsprozess zu setzen, so befreite die ehemals realsozialistische Freiheit die Arbeiterklasse von materieller Unsicherheit und Verelendung um den Preis, ihr die individuelle, formale Freiheitsstufe zu nehmen. Was der Stalinismus den Menschen ökonomisch gab, nahm er ihm politisch. Wo er ökonomisch über die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft hinausging, ist er politisch hinter deren Errungenschaften zurückgefallen. Die Produktivkraftentwicklung als Mittel zum Zweck einer höheren, solidarischen Vergesellschaftungsform hat sich im Stalinismus zum Zweck selbst stilisiert und das zu emanzipierende Subjekt technokratisch erschlagen. Die Zweck-Mittel-Dialektik wurde gesprengt, die Mittel zum neuen Ziel, zur Herrschaft der Bürokratie.

Nicht wenige, auf die es beim Aufbau des Sozialismus ankäme, halten Sozialismus und Demokratie seitdem für unvereinbar. Nicht wenige denken seitdem in Kategorien des "Entweder oder", nicht mehr des (wie auch immer komplizierten) "Sowohl als auch". Die einen präferieren seitdem die Demokratie, die anderen den Sozialismus. Wieder andere haben sich, vor allem seit den 50er Jahren, auf die Suche nach einem dritten Weg gemacht und gefragt, wie Sozialismus und Demokratie auf ein Neues zusammenkommen können - in der Überzeugung, dass die sozialistische Umwälzung, anders als alle bisherigen Revolutionen in der Geschichte, nur als eine eminent bewusste und selbsttätige Tat der Bevölkerungsmehrheit gegen eine sie ausbeutende und erniedrigende Minderheit gelingen kann. Und die moderne lohnarbeitende Klasse hat dabei mehr zu verlieren als bloß ihre Ketten. Ihre Entscheidung zum Sozialismus ist nicht nur die "Freiheit von", sondern mehr noch die "Freiheit zu". Anders können die Menschen gar nicht die ungeheuren Aufgaben in Angriff nehmen, die vor ihnen stehen. Ein solcher Sozialismus stellt erstmals den aktiven, selbstbewussten Menschen in den Mittelpunkt von Arbeit und Leben, nicht als Objekt, sondern als Subjekt. Und da es, trotz aller immanenten Spannung, durchaus einen inneren Zusammenhang zwischen Ziel und Mittel gibt, wird sich der Sozialismus nicht als Hegelsche "List der Vernunft" gegen deren Subjekte durchsetzen lassen.

Dies wäre nicht nur die Lehre, die ein aufgeklärter und am Ziele der allgemeinmenschlichen Emanzipation festhaltender Sozialist aus dem historischen Stalinismus zu ziehen hätte. Dies wäre, sollte man meinen, auch ein zu diskutierender Fall für jede historische Betrachtung bürgerlicher wie sozialistischer Demokratie. Nicht wenige Sozialisten haben aus dem Drama des Stalinismus vor allem zwei Lehren gezogen. Zum einen hat man, genauer als zuvor, auch die Form jener Organe proletarischer Demokratie zu beachten, die die Arbeiterbewegung und andere soziale Bewegungen entwickelt haben: Gewerkschaften und Hilfsorganisationen, Konsum- und Bildungsvereine, Bürgerinitiativen und Parteiorganisationen, Räte- und andere Selbstverwaltungsorgane sind nicht per se demokratisch, weil sie Organe gesellschaftlicher Gegenmacht bilden, sie müssen als Selbstermächtigungsorgane auch einen Sinn für demokratische Formen entwickeln, um nicht in die Falle bürokratischer Stellvertreterpolitik zu geraten. Zum zweiten erscheinen vor dem Erfahrungshintergrund der bürokratisch-substitutionistischen Entartung der Organe proletarischer Demokratie (und auch ein absterbender Übergangsstaat ist ein solches Organ) die Errungenschaften liberaler Demokratie in verändertem Licht. Auch die sozialistische Verwaltung von Menschen und Sachen erfordert "bürgerliche" Freiheitsrechte für die Einzelnen und Organisationsformen, die auf dem Prinzip repräsentativer Demokratie beruhen.

Da sich Canfora aber vollständig auf die Logik des historischen Stalinismus eingelassen hat, scheitert er im weiteren Verlauf seiner Untersuchung an dieser Aufgabe, verfängt sich auch weiterhin in "stalinistischen" Widersprüchen und schreibt eine Geschichte, die vor Einseitigkeit strotzt. Denn im letzten, gleichsam dritten Teil seines Werkes, macht er sich schließlich zum (geschichtswissenschaftlichen) Anwalt der spätkommunistischen Strategie einer "neuen Demokratie", der realsozialistischen "Volksdemokratie", der er, wie bereits bemerkt, einen echten geschichtsphilosophischen Fortschritt meint entlocken zu können. Mit ihrer Durchsetzung sei nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg etwas "radikal Neue(s)" (S.252), "eine echte 'Revolution'" (S.259) in der Geschichte der Verfassungstheorie verbunden. Von der sowjetrussischen Verfassung von 1936 zieht er hier eine Linie zu den neuen Nachkriegsverfassungen in Italien, Frankreich und sogar der BRD und bettet diese in den Kontext der Weimarer Verfassung und des US-amerikanischen New Deal ein.

Er betont, dass es sich bei diesem volksdemokratischen Konzept "durchaus nicht" (S.250) um eine Wiederaufnahme der Volksfront-Bündnisse handele, weil der Antifaschismus hierbei weiter gefasst werde und es nicht nur um defensive Abwehr gehe, sondern um "ein Entwicklungskonzept" (S.251). Die volksdemokratische Strategie sei "das beste politische Programm, das die Arbeiterbewegung hier und heute vorlegen könne", "das Projekt einer politisch und wirtschaftlich komplexen Gesellschaft, einer 'fortschrittlichen Demokratie' auf der Basis einer neuartigen, fortgeschrittenen Verfassung, fähig und willens, radikale 'Strukturreformen' einzuleiten" (ebd.). Bürgerliche Demokraten und Volksfrontkommunisten teilen sich in einem "ganz neuartigen Rahmen", in einem offensichtlich gemischten Verfassungssystems, die politische Macht, um einen Prozess gesellschaftlicher Transformation einzuleiten, der über die bürgerlich-kapitalistischen Grundlagen hinaus weise, der, wie er am italienischen Beispiel sagt, in der Lage sei, "aus ihrer Eigendynamik heraus die italienische Gesellschaft in progressivem Sinn (zu) transformieren" (ebd.).

Mal abgesehen davon, dass er hier buchstäblich nichts anderes beschreibt als gerade jenes Regierungsbündnis von "Kommunisten" und Teilen des Bürgertums, das bereits den Kern jener stalinistischen Volksfrontstrategie ausmachte, die er selbst "durchaus nicht" am Werk sieht, stellen sich hier - ganz immanent gedacht - weiterreichende Nachfragen. Wie vermittelt sich denn diese Volksfrontkonzeption, um nur den schreiendsten Widerspruch zu benennen, mit der von Canfora im ersten Teil seines Buches so ausführlich dargestellten Kritik an den linken Illusionen in den parlamentarisch-evolutionären Weg? Ist hier nicht auch, als Kehrseite des Marsches in das System, die unaufhaltsame und fortschreitende Integration in dasselbe (vgl. weiter oben) zu thematisieren? Canfora scheint sich diese Frage nicht einmal aufzudrängen. Er denkt offensichtlich so verbissen in Kategorien großer Männer im Zeitalter der abwesenden Weltrevolution, dass er meint, die von ihm an der Geschichte des 19.Jahrhunderts dargestellte Manipulations- und Eigenlogik bürokratischer Verwaltungs- und Herrschaftsmethoden in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts ignorieren zu können: Der Führer - Entschuldigung: die regierenden Kommunisten und der sich in ihrem Politbüro verkörpernde Weltgeist - wird das Kind schon schaukeln...

Es ist ihm auch kein zu stellendes Problem, dass solcherart (Volks-)Demokratie bekanntlich weder vom Volk, noch von den subalternen Klassen und Schichten von unten erstrebt und erkämpft, sondern von den in Moskau Herrschenden inauguriert wurde. Einmal mehr kommt hier die Demokratie von oben, also gerade auf jenem Weg zu den Menschen, den Canfora im ersten Teil seines Buches als Hauptargument gegen die Demokratie als ganze entfaltet hat. Die antike und bürgerliche Demokratie ist ihm nicht mehr als schöner Schein, weil sie als Herrschaftsmittel von oben kommt. Die sozialistische Demokratie dagegen kann und muss sogar als Herrschaftsmittel von oben kommen. Die antike und bürgerliche Demokratie ist ihm keine, weil sie unentwirrbar mit der Sklaverei verwoben ist. Die sozialistische Demokratie ist dagegen eine solche, auch wenn sie, wie im Falle des historischen Stalinismus, mit modernen Formen der Sklaverei (dem Gulag-System) daher kommt.13 Das alles ist entweder vollkommen wirr oder die Logik eines "Sozialisten", der weder etwas mit demokratischen Formen am Hut hat noch mit jener radikaldemokratischen und sozialistischen These, dass Demokratie die souveräne Selbstherrschaft des Volkes sei, der Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.

Auch an der Behandlung der sich ihm zwangsläufig aufdrängenden Frage nach den Ursachen des historischen Schiffbruchs der Volksdemokratien wird Canforas Unvermögen, die demokratische Frage zu verstehen, deutlich. Die "eigentliche Ursache für die Fragilität der 'Volksdemokratien' und für die Auflehnung [der Menschen in diesen Volksdemokratien; cj]", schreibt er, "war einzig und allein die, in so erbärmlichen wie kastenhaften Formen, wieder auferstandene Ungleichheit, die angesichts des nur spärlichen Wohlstands umso anstößiger wirkte." (S.327.) Dass den von volksdemokratischer Enteignung und Entmündigung Betroffenen Bedürfnisse nach individueller Freiheit und demokratischer Teilhabe, vielleicht sogar nach demokratischer Selbstorganisation eigen sind, dass will Canfora einfach nicht in den Kopf. Demokratische Freiheiten sind ihm reiner Schnickschnack. Was die Leute zu begehren haben sind Fleischwürste - nicht eine, nicht zwei, sondern viele. Dass die Leute im real existierenden Sozialismus zwei dieser Würste ihr eigen nennen konnten, während die Leute im real existierenden Kapitalismus viele davon hatten, ist ihm die Ursache des Zusammenbruchs und die Quelle einer nicht versiegenden Bitterkeit über den ungerechten Lauf der Geschichte...

Canfora ist nicht nur strukturell unfähig, den Zusammenbruch des ehemals real existierenden Sozialismus - und seines eigenen historischen wie politischen Bezugspunktes - zu verstehen, weil er die von den betroffenen Menschen artikulierten demokratischen Bedürfnisse nicht ernst nehmen kann. Immer wieder lässt er seinem eigenen Substitutionismus freien Lauf. So wenn er bspw. von der "romantische(n) Illusion" und dem "lähmende(n) Vorurteil, demzufolge das Erreichen von Zustimmung an sich schon die Richtigkeit einer Politik beweise" (S.214) spricht. Oder wenn er die in den Jahren nach 1948 erfolgende Stalinisierung der Volksdemokratien entsprechend rechtfertigt, denn "wenn die [in Jalta zwischen den Großmächten beschlossene; cj] Aufteilung in Interessenszonen einen Sinn haben sollte, mussten diejenigen Parteien die Wahlen gewinnen, die sich für die Politik der jeweiligen Hegemonialmacht aussprachen" (S.269) - notfalls eben mit Repression und Manipulation der demokratischen Wahlfreiheit: "In dieser Weise bestimmte - in aller Kürze - die internationale Situation die nachfolgenden Ereignisse." (Ebd.) Oder, wenn er behauptet, dass die merheitliche Ablehnung des von der französischen kommunistischen Partei mitgestalteten Verfassungsentwurf von 1946 zeige, "dass die Politiker an der Spitze der Parteien stets einen Schritt 'weiter' sind als ihre Wählerschaft" (S.257).

Den hier fast zwangsläufig aufkommenden Unmut über solcherart Machiavellismus kontert Canfora vorsorgend - auch dies absolut typisch für Apologeten des Stalinismus - mit allgemeinen Warnungen vor der Moral als solcher ("In der Analyse dieser historischen Ereignisse ist man mit moralischen Urteilen schnell bei der Hand", S.266) und mit dem Hinweis auf die vermeintliche Eigenlogik des politischen Geschäfts ("die Geburt eines neuen politischen Regimes besteht stets [sic] im Griff nach der Macht seitens einer Kräftegruppierung", S.271). Mit politischer Moral haben Macht und Staat bekanntlich nichts zu tun - das ist die bürgerliche Ideologie auch Luciano Canforas. Nur rechtfertigt er damit weder den Liberalismus noch den Anarchismus, sondern den Stalinismus in Theorie und Praxis.

Canforas Geschichte der Demokratie ist auch in seinem letzten Teil nicht ohne Stärken. Zutreffend beschreibt er, wie im Neoliberalismus die Demokratie systematisch ausgehöhlt wird, wie sich das alte gemischte System ("ein bisschen Demokratie und viel Oligarchie", S.308) Stück für Stück - vor allem mittels der Rückkehr zum Mehrheitswahlrecht - wieder durchsetzt und mit Elementen des Bonapartismus anreichert. Doch gleichzeitig wird er immer selektiver, was neue historische Entwicklungen angeht. Den bürgerlich-liberalen Sozialstaat - einen Fall sozialer Demokratie auf dem Boden bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse - registriert er nur beiläufig. Und "dass die relevanten Insurrektionen der Arbeiterklasse in Westeuropa nach dem 2.Weltkrieg allesamt gegen die im Parteienspektrum etablierten Kommunisten stattfanden" (Tilman Vogt), ignoriert er selbstredend ebenso wie die im Umkreis der Neuen Linken aufkommenden Konzepte radikaler Basisdemokratie jenseits der auf Integration zielenden Institutionen bürgerlicher wie nominalsozialistischer Gesellschaftssysteme. Im Grunde bleibt Canforas Abhandlung über die Geschichte der Demokratie in der unmittelbaren Nachkriegszeit historisch stecken. Nicht zufällig, denn dort verbirgt sich das Trauma des Stalinismus, sein Höhe- und Wendepunkt.

Dass der Neoliberalismus die Demokratie aushöhlt, ist das eine. Doch was lernen wir bei Canfora für den Kampf gegen diese Aushöhlung (die bei ihm natürlich nicht nur eine Aushöhlung ist, sondern eine Abschaffung)? Wir lernen bei ihm, dass wir auf die Demokratie nicht zählen können, weil sie ein Herrschaftsmittel der Herrschenden ist. Auf der einen Seite sagt er uns - wie immer in effektvoller Übertreibung -, dass "in den reichen Ländern die Freiheit gesiegt hat - mit all den schrecklichen Folgen, die das für die anderen mit sich bringt und noch bringen wird" (S.357). Und auf der anderen Seite versucht er uns davon zu überzeugen, dass wir für gesellschaftliche Übergangsformen nach dem so kläglich gescheiterten Vorbild der Volksdemokratien streiten sollen. Er nimmt uns den Kampf um Freiheit und Demokratie als Mittel der Transformation und presst uns stattdessen in ein substitutionistisches Korsett, das verbrecherische Stalinisten und lendenlahme Sozial-Liberale umfasst, seine Hauptgegner im rechten Faschismus und im linken Radikalismus findet und sozialrevolutionäre Prozesse historisch delegitimiert. 14

Ist so einer dumm oder ein Stalinist? Oder ist er nur ein wild gewordener liberaler Bildungsbürger, der über die vermeintliche Unfähigkeit großer Teile der Bevölkerung, in großen geschichtsphilosophischen Zusammenhängen denken zu können, zutiefst enttäuscht und aufgebracht ist? Wie auch immer, auf jeden Fall vertritt er das, was diese beiden Figuren eint: einen erziehungsdiktatorischen Substitutionismus, der der Linken schon allein deshalb keinen Ausweg aus ihrer historischen Krise vermitteln kann, weil nicht zuletzt er es war, der sie in diese Lage gebracht hat. Wie soll, wer als Historiker die Dialektik der Demokratie so wenig begriffen hat, wer so wenig verstanden hat, welchen Wert die Demokratie, sprich: demokratische Werte, Bedürfnisse und Formen, für die Menschen besitzt, wie soll der in der Zukunft einen politisch-emanzipativen Weg zu diesen Menschen finden? Im Zweifelsfalle zieht er sich auf seinen geschichtswissenschaftlichen Wachturm zurück und gibt sich seriös-distanziert. Man dürfe sich doch noch fasziniert zeigen vom Staatsmann Stalin, so Canfora als Vorbemerkung zu seiner Verteidigungsschrift (S.21f.).

Und was ist, abschließend, von jenen wagemutigen deutschen Verteidigern Canforas zu halten, die nicht müde wurden, Canforas Kritiker ohne Differenzierung als "Verleumder (denn darum handelt es sich)" (Fülberth im Vorwort zum Auge des Zeus) anzugreifen; die nicht müde wurden, ihn von allen Anklagen und Vorbehalten freizusprechen und seine Person wie sein Werk in einer Weise zu überhöhen, die schlicht peinlich ist? Und was ist von einer Linken zu halten, die hier weder laut lacht noch vehement protestiert, sondern vielmehr fleißig kauft und begeistert liest? Sind die alle dumm oder Stalinisten? Obwohl auch hier sicherlich beides eines gewisse Rolle spielt, haben wir es dabei vielmehr mit einer spezifisch deutschen Tradition auf der Linken zu tun. Wo Teile derselben nicht müde werden, über die unselige Tradition einer vermeintlich kryptofaschistischen deutschen Wesenheit zu klagen wie das gebannte Kaninchen vor der vorbeiziehenden Schlange, und auf einem Auge erblinden, bestätigen sie einmal mehr die alte Einsicht Rudi Dutschkes, dass die deutsche Linke nie gelernt hat, auf eigenen Füßen zu stehen. Auch sie verbeugen sich noch immer vor der vollendeten Tatsache und pflegen ihre Vorliebe für beruhigende Verallgemeinerungen. "Gegen den eigenen Kapitalismus zu rebellieren, sind sie außerstande. Umso bereitwilliger stützen sie sich auf eine schon in ihre Ufer zurückgetretene fremde Revolution." Das hat, im Jahre 2006, etwas reichlich geisterhaftes.

Luciano Canfora: Eine kurze Geschichte der Demokratie. Von Athen bis zur Europäischen Union, Köln: PapyRossa 2006.
Ders.: Vom Auge des Zeus. Deutsche Geschichtsschreibung zwischen Dummheit und Demagogie. Antwort an meine Kritiker, Hamburg: Konkret Literatur Verlag 2006.

Anmerkungen
1 Die Seitenangaben im Text beziehen sich im Folgenden auf die Kurze Geschichte der Demokratie.
2 A.Rosenberg: Sozialismus und Demokratie, Frankfurt 1988, S.302.
3 Ich sage scheinbar, weil auch die Behauptung eines ursprünglichen demokratisch-revolutionären Bürgertums, das im Angesicht der nachdrängenden Klassen und Schichten seine demokratisch-revolutionären Traditionen fallen lässt, von vielen älteren (Leo Kofler) oder neueren Marxisten (bspw. Ellen Meiksins Wood) mit einigem Recht in Frage gestellt wurde. Zunehmend wird deutlich, dass das radikaldemokratische Moment nicht aus dem Bürgertum kam, sondern von den nachdrängenden Klassen und Schichten in dasselbe hineingetragen wurde.
4 R.Luxemburg: Sozialreform oder Revolution. In: Gesammelte Werke, Bd.1.1, Berlin 1969, S.429.
5 Die Kommunistische Internationale, Bd.1, Köln 1984, S.33.
6 Ebd., S.268.
7 Zitiert nach Rosenberg, a.a.O., S.13.
8 Die ressentimentgeladene Metapher vom Misthaufen der Geschichte stammt aus einer Rede Trotzkis auf dem die Macht ergreifenden Sowjetkongress Ende Oktober 1917. Sie taucht als "Müllhalde" auch bei Canfora wieder auf, zu Beginn seiner Verteidigungsschrift Das Auge des Zeus, wird von diesem aber fälschlicherweise und interessanterweise Stalin zugeschrieben.
9 P.Cardorff: Studien über Irrationalismus und Rationalismus in der sozialistischen Bewegung, Hamburg 1980, S.68.
10 Ebd., S.69.
11 Mit Leo Trotzkis Leben und Werk ist Canfora offensichtlich nicht vertraut. Trotzkis Theorie der permanenten Revolution wird ebenso falsch dargestellt (ohne dass man wirklich von einer Darstellung reden könnte) wie dessen Faschismusanalyse und alles andere, was diesen betrifft. Das hat er auch mit seinem eifrigen Verteidiger Georg Fülberth gemeinsam. Der Politologie-Professor, der den promovierten Beck-Cheflektor wegen handwerklicher Mängel gerne zurück ins universitäre Proseminar schicken würde (Vorwort zum Auge des Zeus), rechtfertigt Canforas Diktum, dass Trotzki und die Trotzkisten (sprich: die radikalen Linken) "Abenteurer" gewesen seien, damit, dass "da ja was dran sein (kann)": "Dieser Ansicht wird man ja noch sein dürfen."
12 L.Trotzki: Schriften, Bd.1, Hamburg 1988, S.689.
13 Canfora weiß, was er tut - mindestens tief im Innern. In einer Anmerkung formuliert er: "Der Begriff 'Sklaverei' sollte entdramatisiert werden" (S.377), schließlich sei es den US-amerikanischen Plantagensklaven ja besser ergangen als den damaligen Fabrikarbeitern...
14 Canfora, so Gerhard Hanloser im Gespräch mit Fülberth (Junge Welt, 6.10.06), "bietet die historische Delegitimierung von sozialrevolutionären Prozessen zugunsten eines Ausgleichs und einer Konvergenz zwischen der Sowjetunion und den im politischen Sinne liberalen Kräften des Westens an".

Aus: Sozialistische Hefte Nr. 12 (Dezember 2006), Beilage der SoZ - Sozialistische Zeitung