Der lateinische Ausdruck imaginatio wird als "Einbildung" oder "Vorstellung" und zugleich als "Einbildungs-" bzw. "Vorstellungskraft" übersetzt. Was sich im Duden als unscheinbare Differenz ...
... ausnimmt, ist tatsächlich eine rätselhafte und strittige Angelegenheit. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als in der allzu selbstverständlichen Bestimmung der Ideologie als einer Sache der Imagination. Wer eine Ideologie als "imaginär" bezeichnet, meint nämlich in aller Regel, dass sie eine bloße Einbildung sei, nur eine Vorstellung, die sich das in der Ideologie befangene Subjekt von der Wirklichkeit macht. Ideologie gerät damit in Gegensatz zu Realität, wird zum bloßen Bild oder Abbild (lat. imago), zu etwas, das sich "im Kopf" abspielt: zum "falschen Bewusstsein". Tatsächlich aber sind Ideologien nicht imaginär, weil sie bloße Einbildungen oder Vorstellungen sind, sondern weil sie mit unserer Einbildungs- und Vorstellungskraft zu tun haben, weil sie bestimmen, was wir uns überhaupt einbilden und vorstellen können. In einer Ideologie befangen zu sein, heißt dann aber nicht, eine bloß imaginäre Vorstellung von der Welt zu haben, sondern in einem imaginären Verhältnis zu den wirklichen Verhältnissen zu stehen, das heißt sich gemäß der jeweiligen Ideologie zur Welt zu verhalten. Dieses Sich-Verhalten zur Welt ist gerade als ideologisches, das heißt als imaginäres Verhältnis ein reales Verhältnis: ist selbst eine Realität. Die Ideologie hat, wie Louis Althusser sagt, eine "materielle Existenz"."He, Sie da!"
Indem unsere Ideologie unsere Einbildungs- und Vorstellungskraft und mit ihr unser Verhältnis zur Wirklichkeit bestimmt, macht sie uns Althusser zufolge überhaupt erst zu einem "Subjekt", das heißt zu jemanden, der in der Welt "ich bin (dies oder das, so oder so)" sagen und dementsprechend handeln kann. Deshalb sagt Althusser, dass uns die Ideologie als Subjekt "anruft". Er hat diesen Begriff an einer alltäglichen Straßenszene erläutert: Ein Polizist ruft "He, Sie da" zu einem Passanten. Dieser hört den Ruf, wendet sich um und erkennt sich im Moment der Umwendung als derjenige an, der angesprochen wurde: Ich bin der, den Du beim Namen gerufen hast. Ich bin, in diesem kurzen Moment des Aufschauens, des Zuwendens zur Autorität das, was du glaubst, was ich bin - "Ich bin Dein". So spricht Moses zu Gott, so spricht die Bürgerin zum Staat, so reproduziert sich in einem scheinbar ebenso harmlosen wie freiwilligen Akt die ganze gesellschaftliche Normalität, die gerade deshalb in Geltung bleibt, weil sie sich in den spontanen und alltäglichen Handlungen, Weltsichten und Gefühlen, kurz: in den Ideologien der Unterworfenen materialisiert. (1) Dem Subjekt anrufenden, ein Subjekt erst bildenden Funktionieren von Ideologie folgen wir in diesem Heft auf drei Spuren: erstens auf den Spuren neoliberaler Ideologien zum Körper, zur Stadt und zum Nord-Süd-Verhältnis, zweitens entlang unterschiedlicher Formen politischer Religiosität als einer ideologischen Reaktionsbildung auf den Neoliberalismus und drittens in Walter Benjamins und Bert Brechts Anrufungen eines "destruktiven Charakters" bzw. eines "positiven Barbarentums". Der Streit zwischen diesen Ideologien liegt in den unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten, die sie ihren Subjekten in der neoliberalen gesellschaftlichen Wirklichkeit eröffnen: eher affirmativ-neoliberale in der ersten, eher reaktiv-antineoliberale in der zweiten und - ja, können wir sagen: emanziptorische, "linke" in der dritten Hinsicht? Die beiden hier abgedruckten "Lesestücke" Benjamins stammen vom Anfang der 1930er, das Gedicht Brechts aus der Mitte der 1920er Jahre. Lesestücke und Gedicht sind im Augenblick der Durchsetzung der fordistischen Formation kapitalistischer Vergesellschaftung geschrieben und in Vorausahnung der Nazibarbarei, das heißt inmitten einer dramatischen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, zu äußerst prekärer Zeit. Benjamin wendet sich dabei vor allem gegen die sozialdemokratische, aber auch gegen die marxistisch-leninistische Fortschrittsideologie, die schließlich ein wesentlicher Grund für die sich schon abzeichnende Niederlage der Linken und ihre katastrophale Fehleinschätzung des Faschismus war. Wir lesen diese Texte heute wiederum in prekärer Zeit, nach dem Ende des Fordismus und in der Durchsetzung einer neuen Formation der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wir lesen sie im Blick auf andere Ideologien - solche des Neoliberalismus wie solche des Anti-Neoliberalismus. Dabei fällt ins Auge, wie Lesestücke und Gedicht zu den neoliberalen Verhältnissen passen - fragt sich nur: wie und für wen? Natürlich haben Brecht und Benjamin nicht für neoliberale Subjekte geschrieben, haben sie nicht neoliberale Subjekte "anrufen" wollen. Und doch klingen einige ihrer Sätze, als seien sie einem Handbuch zum Sich-Verhalten in neoliberaler Zeit entnommen: Nimm keine Rücksicht, auf nichts und niemanden! Halte dich an nichts fest, bleibe nicht stehen, sei radikal mobil und flexibel! So bestimmt Benjamin den "positiven Barbaren" durch eine zunehmende "Armut an Erfahrung". Er meint damit, dass in der permanenten Prekarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse nichts mehr Bestand hat, was gestern noch galt, dass auf nichts mehr "Verlass" ist. Deshalb fragt er: "Wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken. Unter den großen Schöpfern hat es immer die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten."Nach dem Fordismus
Was sagt uns das heute? Wozu ruft es uns auf? Als wer werden wir angerufen? Wir haben darauf keine fixe Antwort, glauben aber, dass uns die Sätze Benjamins und Brechts gerade in ihrem "Passen" zur neoliberalen Mobilisierung und Flexibilisierung aller Verhältnisse Fragen vorlegen, denen nachzugehen sich lohnt. Denn sie machen radikal ernst mit dem Sich-Einlassen auf das Neue, mit der permanenten und ohne Anhalt am Gewesenen voran schreitenden Veränderung. Fast ist es, als ob sie eine Wette mit dem Neoliberalismus eingehen, ihm einen Wettkampf aufzwingen wollen. Sie setzen ihm eine Flexibilität und Mobilität entgegen, die seine unaufhörliche Anrufung zur Dynamisierung, ja zur Zerstörung der bestehenden Verhältnisse gleichsam überdreht: "Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes. Aber eben darum sieht er überall Wege. Wo andere auf Mauern oder Gebirge stoßen, auch da sieht er einen Weg. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter. Weil er überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg. Kein Augenblick kann wissen, was der nächste bringt. Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht." Wollen wir diese Wette erneuern, uns derart rücksichtslos auf das Neue einlassen? Wir können unsere Antwort auf diese Frage den Texten Benjamin und Brechts nicht entnehmen, und wir wollen uns nicht rücksichtslos auf jedes Neue einlassen. Allerdings: Müssen Linke nicht per definitionem am Umsturz des jetzt Bestehenden interessiert sein? Müssen Linke nicht ein intimes Verhältnis zum Neuen und zum Anders-Werden-Können haben - wollen sie nicht zum Subjekt der Gesellschaftsveränderung werden? Auf eines werden wir dabei nicht verzichten können: auf die Rekonstruktion historischer Erfahrung, aus der Erfahrungsarmut heraus.Prekäre Zeiten
... lautete der Titel des letzten Hefts, in dem es uns um möglichst genaue und um möglichst persönliche Beschreibungen der materiellen Veränderungen unserer Lebensverhältnisse ging. Diesmal geht es uns um die ideologische Verarbeitung dieser materiellen Veränderung, um ideologische Zäsuren, die selbst "eine materielle Existenz" haben, in unserem Verhältnis zu diesen Lebensverhältnissen. "He, Sie da!", ruft man uns von allen Seiten zu. "Wer, ich?" Kann sein, dass in dieser Nachfrage, diesem Zögern und in der Option, unvorhergesehene oder überhaupt keine Antworten zu geben, die Chancen einer Linken liegen, die in der neoliberalen Veränderung aller Verhältnisse ihre eigenen Perspektiven erst gewinnen muss. Wir wollen Antworten auf die eben gestellten Fragen finden, wollen unsere Einbildungs- und Vorstellungskraft neu bestimmen. Nicht um des Neuen willen, sondern um die Befreiungspotenziale in den Blick zu bringen, die darin liegen, um die Risse in den herrschenden Ideologien zu vertiefen, um Land zu gewinnen. Redaktion Fantômas Anmerkung: 1) Louis Althusser, Ideologie und Ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg 1977 aus: Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis/Nr. 7/Mai 2005