Nation reloaded?

Die Agentur Frontex und die Renationalisierung des europäischen Grenzregimes

Die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX ist das überwiegende Ziel der menschenrechtlichen Kritik am EU-Grenzregime. Der Beitrag versucht die Wirkungsweise der europäischen Migrationskontrollen sowie die weiterhin dominante Rolle der nationalen Grenzbehörden darzulegen. FRONTEX ist dabei nur eine Akteurin, eine radikale Kritik an der Agentur und den Grenzpolizeien ist aber unerlässlich.[1]Am 15. Mai 2011 strahlte die ARD den Bremer Tatort „Der illegale Tod“ aus. Im Zentrum der Handlung steht das deutsche Polizeischiff „Weser 3“, das im Rahmen einer Operation der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX zwischen Libyen, Malta und Italien ein Boot von Migrant_innen aufbringt. Bei dem Versuch der Migrant_innen, sich auf das Polizeiboot zu retten, erschießt die Polizei einen Migranten. Das Boot kentert und vierzehn weitere Migrant_innen sterben. Die Überlebende Amali Agbedra (Florence Kasumba) begibt sich nach Deutschland, um dort die verantwortlichen Polizist_ innen ausfindig zu machen. Am Ende wird eine beteiligte Polizistin abgeführt und eine offizielle Untersuchung der Weser 3-Operation eingeleitet.[2] In Bezug auf die Grenzschutzagentur meint die Tatort-Kommissarin Inga Lürsen (gespielt von Sabine Postel): „FRONTEX? Das klingt wie Insektenvernichtung.“
Der Tatort machte die menschenrechtswidrigen Praktiken der europäischen Grenzkontrollpolitik für ein breites Publikum in Deutschland sichtbar. Zugleich wurde suggeriert, dass das Recht – hier in Person der Kommissarin Lürsen – sich am Ende durchsetzt und tatsächlich polizeiliche und juristische Ermittlungen aufgenommen werden. Anders als im Fernsehen kommt jedoch nur ein Bruchteil der Grenzkontrollmaßnahmen an die Öffentlichkeit, gegen FRONTEX selbst ist bisher kein Rechtsverfahren eingeleitet worden.
Die Hauptkritik am europäischen Grenzregime richtet sich gegen FRONTEX, seitdem die Agentur für die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten bei Maßnahmen des Grenzschutzes verantwortlich ist. Viele sehen in der Agentur die Materialisierung einer „Festung Europa“. Auch der Tatort problematisierte lediglich FRONTEX und bezeichnete die Agentur als „Firma“ sowie den FRONTEX-Exekutivdirektor als „Manager“. Eine solche Kritik führt an der Funktionsweise des europäischen Grenzregimes vorbei.

Die Aufgaben der Agentur
Seit Anfang der 2000er Jahre gab es Bestrebungen eine europäische Grenzschutzpolizei aufzubauen. Einer der treibenden Akteur_innen war hierbei der deutsche Innenminister Otto Schily (SPD). Zwar scheiterte dieses Projekt an den Vorbehalten der europäischen Mitgliedsstaaten, die um ihre nationale Souveränität fürchteten. Schlussendlich konnte man sich auf eine „Zwischenlösung“ einigen und gründete mit der Verordnung 2007/2004 die Grenzschutzagentur mit Sitz in Warschau und unter Leitung des ehemaligen finnischen Brigadegenerals Ilkka Laitinien.
FRONTEX konnte ihr Budget jährlich ausbauen. Erhielt die Agentur 2005 noch 6 Millionen Euro, waren es 2010 bereits 88 Millionen Euro. Zusätzlich stieg die Anzahl der Mitarbeiter_innen. Die Agentur übernimmt derzeit nicht die Rolle einer Grenzpolizei, sondern koordiniert die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten bei der gemeinsamen europäischen Migrationskontrolle. Im Zentrum der Arbeit von FRONTEX stehen die sogenannten Risiko-Analysen. Die Langzeit-Analysen erlauben es der Agentur herauszufinden, wohin sich die Zielrichtung von Migration verschiebt oder, um es im Jargon von FRONTEX zu sagen, wo „threats“, also Bedrohungen, entstehen.[3] Mit Hilfe von Überwachungstechniken, Interviews mit abgefangenen Migrant_innen, dem Zugriff auf alle nationalen Datenbanken und Wahrscheinlichkeitsanalysen erklärt die Agentur den Mitgliedsstaaten, ob sich Migrationsströme nach Spanien, Griechenland oder zur osteuropäischen Grenze bewegen. Die Kurzzeit-Analysen nehmen Rückgriff aud die Langzeit-Analysen, die für die eigentlichen Operationen von FRONTEX die strategische Grundlage darstellen. FRONTEX unterstützt die Mitgliedsstaaten mithilfe von Joint-Operations. Dies sind Einsätze, die die Agentur koordiniert und bei denen die Mitgliedsstaaten Schiffe und technisches Material zur Verfügung stellen, um Boote von Migrant_innen abzufangen oder an Land Identitätskontrollen durchzuführen. Die erste Joint Operation Hera fand 2006 vor den Kanarischen Inseln statt, als 30.000 Migrant_innen innerhalb weniger Monate auf der spanischen Inselgruppe gelandet waren. Weitere Operationen folgten, z.B. die Operation Nautilus vor Italien und Malta oder die Operation Amazon, die an internationalen Flughäfen lateinamerikanische Migrant_innen kontrollieren soll.

Militärische Eingreiftruppen als Grenzschützer_innen?
Seit der EG-Verordnung 863/2007 verfügt FRONTEX mit den Rapid Border Intervention Teams (RABIT) über einen Pool von 700 Grenzschutzbeamt_innen, die in „außergewöhnlichen Notsituationen“ eingesetzt werden sollen. Die erste Mission der Schnelleingreiftruppe fand von Oktober 2010 bis März 2011 an der griechisch-türkischen Grenze im Evros-Gebiet statt, nachdem der damalige griechische Minister für Bürgerschutz Christos Papoutsis die RABITs angefordert hatte. Die Beamt_innen von FRONTEX beteiligten sich an der Identitätsfeststellung und Abschiebung von Migrant_innen in die Türkei. Die Migrant_innen bekamen weder Dolmetscher_innen noch juristische Beratung zur Seite gestellt, weshalb der Flüchtlingsstatus vieler Personen nicht hinreichend festgestellt wurde. Zudem berichteten deutsche Beamt_innen, die am RABIT-Einsatz teilnahmen, dass Migrant_innen durch Schüsse in Gebiete mit Panzerminen gejagt wurden.[4]

Wenig beachtet ist die Vernetzung von FRONTEX mit dem militärisch-industriellen Komplex der europäischen Mitgliedsstaaten. Die Agentur arbeitet direkt mit der European Defence Agency (EDA) zusammen, die die Europäische Union bei ihren Rüstungsaktivitäten und Waffenanschaffungen berät.[5] FRONTEX eröffnet den Mitgliedsstaaten direkte Kontakte zu Rüstungsfirmen und vernetzt die zentralen Akteur_innen in diesem Feld. Zuletzt wurde bekannt, dass FRONTEX gemeinsam mit dem französischen Rüstungskonzern Thales Drohnen für die Überwachung der europäischen Außengrenzen entwickelt. Die ersten unbemannten Drohnen sollen ab 2014 mit dem Start des Grenzüberwachungsnetzwerks EUROSUR eingesetzt werden.[6]

Grenzschutz im rechtsfreien Raum?
Mit der neuen FRONTEX-Verordnung 1168/2011 wurde die Arbeit der Agentur gestärkt. Nach Art. 7 Abs. 5 der Verordnung kann sie eigenständig Material kaufen oder vermieten. Art. 14 Abs. 6 vereinfacht die direkte Zusammenarbeit zwischen FRONTEX und Drittstaaten, die in das EU-System integriert werden sollen. Und schließlich wird der Agentur in Aussicht gestellt, ein eigenes System von Grenzschutzbeamt_innen zu schaff en, Art. 33.
Die Stärkung von FRONTEX verläuft innerhalb eines juristisch zweifelhaften Rahmens. Als Agentur ist FRONTEX keine private Akteurin, sondern eine EU-Verwaltungsbehörde. Mit der RABIT-Verordnung und den Joint-Operations wird FRONTEX aber auch exekutiv tätig. Bei jeder Operation sind FRONTEX- sowie Beamt_innen der Mitgliedsstaaten aktiv. Fraglich ist aber, wer für menschenrechtswidrige Praktiken zuständig ist. Wenn im Rahmen einer FRONTEX Operation Migrant_innen zu Schaden kommen, gegen wen sollten sie prozessrechtlich vorgehen? Die beschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten legen nahe, dass mit der Agentur eine Entpflichtung von Menschenrechtsbindungen einhergeht.[7]
Die Europäische Kommission reagierte auf zahlreiche juristische Leerstellen bei der Arbeit der Agentur, indem sie ab 2007 Leitlinien für FRONTEX entwickelte.[8] Die Leitlinien könnte man mit Polizei-Dienstvorschriften vergleichen. Sie schaff en kein neues Recht, sondern sollen bestehende Regelungen des Seerechts bzw. des Asylrechts für die Arbeit von FRONTEX konkretisieren. In den Leitlinien sind beispielsweise Vorgaben für die See-Operationen von FRONTEX aufgelistet. Gegen die Leitlinien regte sich Protest im Europäischen Parlament. Besonders die konservative Regierung von Malta befürchtete, dass der Inselstaat durch die Leitlinien für mehr Migrant_innen zuständig sein könnte. Denn gemäß der Leitlinien sollen auf dem Mittelmeer aufgegriff ene Migrant_innen zu dem nächstgelegenen Hafen verbracht werden. Das Europäische Parlament votierte mit einer einfachen Mehrheit gegen die Leitlinien. Gemäß Art. 294 des Arbeitsvertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hätte jedoch eine qualifi zierte Mehrheit mit Nein stimmen müssen. Die Europäische Kommission und der Europäische Rat hatten das umstrittene Komitologie-Verfahren gewählt. Mit diesem Verfahren können die exekutiven Gremien der EU praktisch am Parlament vorbei Änderungen in den Verordnungen der EU vornehmen. Deswegen legte das Parlament Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein. Die Richter_innen entschieden am 5. September 2012, dass die Leitlinien rechtswidrig seien und eine wesentliche Änderung des Schengener Grenzkodexes darstellten.[9] Sie müssten im Parlament und nicht in den exekutiven Gremien verhandelt werden. Malta hatte sich zwischenzeitlich dafür entschieden, künftig keine FRONTEXMissionen mehr zu unterstützen. Die Leitlinien bestehen dennoch zunächst weiter, bis das Parlament eine rechtskonforme Ausgestaltung verabschiedet hat – das Parlament hat dies selbst beim EuGH beantragt.

Fragmentarischer europäischer Grenzschutz
FRONTEX ist der Kristallisationspunkt der aktuellen Debatte über das EU-Grenzregime. Die Praktiken der Agentur werden von Menschenrechts-NGOs skandalisiert, die Europäische Kommission versucht hingegen FRONTEX als zentrale Akteurin im Grenzregime zu etablieren. Dabei spielt FRONTEX nur eine Rolle neben vielen anderen Instrumentarien. Die ausschließliche Fokussierung auf die Agentur verdeckt andere Funktionen des Grenzregimes, die weitaus weitreichendere Konsequenzen haben. Ein Blick auf das spanische und italienische Grenzregime macht dies deutlich.
Auf die Frage, wie FRONTEX in der spanischen Öffentlichkeit thematisiert wird, antwortet ein spanischer Journalist: „Es ist normal, dass die Leute sagen: ‚FRONTEX? Was ist FRONTEX? Ah! Das sind doch die Guardia Civil, die in Mauretanien sind.‘“ Die Antwort macht deutlich, dass es vor allem die nationalstaatlichen Grenzschutzeinheiten sind, die für die Sicherung der europäischen Außengrenzen verantwortlich sind. Im Falle Spaniens übernimmt diese Aufgabe die Guardia Civil, eine paramilitärische Polizeieinheit. Bei einem Treff in Las Palmas auf Gran Canaria erläutert ein Beamter der Guardia Civil
im Interview, wie der spanische Grenzschutz funktioniert. FRONTEX war 2006 eine relevante Akteurin, als tausende Migrant_innen auf den Kanarischen Inseln landeten. Danach konnte sich der spanische Grenzschutz aber weitestgehend eigenständig konsolidieren.

Spanien perfektionierte beispielsweise die Zusammenarbeit mit den westafrikanischen Staaten, von denen ausgehend viele Migrant_innen ihre Überfahrt des Mittelmeers beginnen. Mithilfe bilateraler Abkommen zwischen Spanien und Mauretanien, Gambia, den Kap Verden, Senegal u.a. konnte Spanien seinen Grenzschutz externalisieren. Grenzkontrolle findet jetzt in den Küstengewässern von Nordund Westafrika statt. Mit dieser Form der bilateralen Zusammenarbeit gelingt es Migrant_innen kaum, aus den Hoheitsgewässern der westafrikanischen Staaten hinaus zu gelangen, sie werden bereits dort aufgrund der Abkommen abgefangen. Es entsteht eine postkoloniale Konstellation, basierend auf ungleichen Machtverhältnissen zwischen Spanien und den westafrikanischen Staaten, in der es Spanien gelingt, günstige Bedingungen für die Externalisierung seines Grenzschutzes durchzusetzen. FRONTEX hat an der Aushandlung dieser Abkommen keinen Anteil. Die spezifi sche Funktion von FRONTEX im spanischen Grenzschutz ist es vielmehr, Gelder für die Einsätze der Guardia Civil bereit zu stellen. Aus der spanischen Perspektive ist FRONTEX vor allem „eine Bank“.

Menschenrechte gelten auch auf Hoher See
Auch Italien bediente sich bilateraler Abkommen. Die italienische Regierung vereinbarte im Rahmen des sogenannten „Freundschaftsvertrages“ mit dem libyschen Gaddafi -Regime eine Integration der libyschen Grenzkontrollen in die italienische Grenzschutzabwehr. In Folge dessen sollte Italien vermehrt Migrant_innen nach Libyen abschieben. Einer dieser Fälle landete vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). In der Rechtssache Hirsi versus Italien entschieden die Richter_innen, dass Italien gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Verbot des nonrefoulement), Art. 4 Protokoll 4 (Verbot der Kollektivausweisungen) sowie Art. 13 EMRK (eff ektives Beschwerderecht) verstoßen habe.[10] Das non-refoulement-Verbot untersagt es den Staaten, Menschen in Länder abzuschieben, in denen ihnen Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Dieser völkerrechtlich bindende Grundsatz verbietet auch Kettenabschiebungen, also Abschiebungen in das Heimatland über einen anderen Staat. Im Falle Libyens war beispielsweise nicht sichergestellt, ob die Personen nicht weiter nach Somalia oder Eritrea abgeschoben werden würden. Zumal ein Teil der Kläger_innen in libyschen Foltergefängnissen landete.
Das Gericht brach zudem mit der bisherigen völkerrechtlichen Rechtsprechung, nach der die Menschenrechte nicht auf extraterritorialem Gebiet gelten.[11] Ein effektives Menschenrechtssystem gebiete die Achtung der Menschenrechte auf Hoher See. Das Urteil hat auch Folgen für FRONTEX. Über Art. 6 Abs. 3 EMRK ist die Agentur mittelbar an die EMRK gebunden, die Maßstäbe des Hirsi-Urteils gelten damit im Rahmen von FRONTEX-Operationen. Die Agentur könne für rechtswidrige Praktiken direkt haftbar gemacht werden.[12] Es wird deutlich: Der europäische Grenzschutz ist zutiefst fragmentarisch.
Die nationalen Grenzkontrollen wurden zwar europäisiert, von einer Harmonisierung, wie sie FRONTEX bezweckt, kann bislang aber keine Rede sein.

FRONTEX als Laboratorium
Diese Analyse darf aber nicht zu einer Unterschätzung der Agentur führen. Die Ausprägung von Staatsapparaten verläuft nicht bruchlos und kann Jahrzehnte andauern. Die Konstitutionalisierung der nationalen Polizeieinheiten war ein langer Prozess, in dessen Folge massiv über Kompetenzen  gestritten wurde. Bei FRONTEX kann man hingegen „live“ mitverfolgen, wie die Genese eines Polizeiapparats funktioniert. Dies zeigt, dass Grenzen und Polizei keine natürlichen Entitäten sind, sondern historisch gewachsene Konstrukte, die ausgehend von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen apparative Strukturen angenommen haben. FRONTEX kann als Laboratorium für die zukünftige Gestalt europäischer Grenzschutzpolizeien angesehen werden. Die Agentur folgt dem neoliberalen Konzept des „managing migration“. Danach soll der Grenzschutz nicht rein repressiv wirken. Vielmehr versucht der Staat mit Hilfe seiner Polizeieinheiten und Behörden – zumal unterstützt durch Th ink Tanks und NGOs – steuernd auf Migration einzuwirken. Die Rolle von FRONTEX ist diejenige einer Wissensmanagerin. Mit Risikoanalysen und Überwachungstechnologien werden Migrant_innen verobjektiviert und die Wege der Migration als nützliche Daten den Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt. Migration wird als Gefahr problematisiert, ohne den gesellschaftlichen Kontext zu berücksichtigen. Das globale Armutsgefälle, das wesentlich zur Migration von Menschen nach Europa beiträgt, wird verschleiert und Migration
als rein individuelle Handlung verklärt. Als Wissensapparat ist FRONTEX das Verbindungsstück zwischen den Mitgliedsstaaten und den nationalen Grenzschutzeinheiten auf der einen Seite und der Militär- sowie Überwachungsindustrie auf der anderen Seite. FRONTEX stützt damit die Optimierung des Grenzschutzes durch den Einsatz neuer Technologien und fördert die Kapitalakkumulation der Rüstungsindustrie. Die Agentur zeigt, wie in einigen Jahrzehnten der moderne Grenzschutz funktionieren könnte: Die Grenzschutzpolizei würde dann nicht nur exekutive Befugnisse haben und Grenzkontrollen praktisch durchführen, sondern selbstständig als Netzwerk- und Forschungsinstitution die eigene Arbeit effektivieren.

Radikale Kritik am Grenzschutz
Eine rein an den Menschenrechten orientierte Kritik geht daher nicht weit genug. Viele Menschenrechts-NGOs und insbesondere Parteien wie die SPD und die Grünen kritisieren FRONTEX zwar für die Missachtung der Menschenrechte, eine grundsätzliche Kritik des Grenzschutzes findet hingegen nicht statt, geschweige denn, dass eine Abschaff ung der Agentur gefordert würde. Eine radikale Kritik der Migrationskontrollen und der Polizei erschöpft sich aber nicht in einer vornehmlich legalistischen Beschäftigung mit Rechtsnormen, sondern muss grundlegender sein.
Der Einsatz von RABIT-Truppen in Griechenland zeigt, dass FRONTEX bestrebt ist, ihre Rolle als europäische Grenzschutzpolizei zu finden. Auf lange Sicht könnte dies zu einer Verselbstständigung der Agentur führen. Bei FRONTEX lassen sich die gleichen Probleme beobachten, wie bei jeder Polizei. Ein Rechtsschutz gegen rechtswidrige Praktiken seitens FRONTEX oder Polizeieinheiten existiert faktisch nicht. Für die Migrant_innen ist es nicht möglich, einzelne Beamt_innen oder den gesamten Apparat in Verantwortung zu nehmen. Wie bei der Polizei bewirkt auch bei FRONTEX der maskulinistische Korpsgeist, dass zugunsten der eigenen Kolleg_innen die Wahrheit verschwiegen wird und rechtswidrige Praktiken nicht an die Öffentlichkeit geraten.
Es bleibt zudem die Frage off en, warum überhaupt eine Polizei die Grenze kontrollieren sollte. Dahinter steht das Interesse, die globalen Ungleichheitsverhältnisse abzusichern. Eine humane Migrationspolitik ist weder mit derartigen Verhältnissen, noch mit der Polizei möglich. Selbst eine weitestgehend rechtsstaatliche Einhegung von FRONTEX und der Polizei könnte nicht verhindern, dass „die Polizei selbst nicht als Agent des Rechts, sondern gerade des Rechtsbruchs fungiert.“[13] Die Gewalt ist der Polizei selbst inhärent.
Der Grenzschutz kann daher nichts anderes sein als der Ausdruck eines Gewaltverhältnisses, das zudem im 21. Jahrhundert mit Hilfe von Überwachungstechnologien, Risiko-Analysen und biometrischen Datenbanken europäisiert werden soll. Die Renationalisierung des europäischen
Grenzregimes bewirkt zwar, dass FRONTEX derzeit nicht die zentrale Rolle einnehmen kann, die die Agentur beabsichtigt. Dies könnte sich aber schnell ändern. Angesichts der multiplen Armuts-, Hunger- und Klimakrisen könnten deutlich mehr Menschen dazu gezwungen werden, zu migrieren. Der Ruf nach einer Vereinheitlichung der europäischen Polizeiapparate könnte dann lauter werden, FRONTEX stünde bereit. Die EU scheitert bereits heute und würde auch in Zukunft daran scheitern, Menschenrechte und Freiheit zu gewährleisten.
In Anlehnung an den Frankfurter Philosophen Daniel Loick kann die Gesellschaft nicht frei sein, solange sie sich vorbehält, ihre Mitglieder (oder Gäste) zu bestrafen, zu disziplinieren, zu kategorisieren, auszubeuten oder auszuschließen. „All diese Maßnahmen umfasst aber der Begriff der Polizei irreduzibel.“[14]

Maximilian Pichl studiert Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main und ist Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Staatsprojekt Europa“ am Institut für Sozialforschung.

Literaturhinweise:
Gregory Feldman, The Migration Apparatus, 2012.
Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa (Hrsg.), Die tiefe Hegemonie der Grenze. Kritische Europaforschung und Migrationspolitik. Theorie – Methode – Analyse, 2013 (im Erscheinen).

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[1] Der Beitrag und insbesondere die Interviews mit Expert_innen basieren auf Ergebnissen des Forschungsprojekts „Staatsprojekt Europa“ am Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main, vgl. www.staatsprojekt-europa.de (Stand aller Links: 10.03.2013).

[2] Vgl. Sonja Buckel / Jens Wissel, Tatort FRONTEX, WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1/2011, 158.

[3] Gregory Feldman, The Migration Apparatus, 2012, 90.

[4] Maximilian Pichl, Eine Mauer für Europa, Blätter für deutsche und internationale Politik 02/2011, 15.

[5] Bernd Kasparek / Fabian Wagner, The Case of the European Union’s Border Agency Frontex, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien-Beiträge 04/2012, 178.

[6] Heise vom 17.01.2012, vgl. http://www.heise.de/tp/blogs/8/151231.

[7] Andreas Fischer-Lescano / Timo Tohidipur, Europäisches Grenzkontrollregime. Rechtsrahmen der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 67(2007), 1219 (1237).

[8] Beschluss des Rates vom 26.04.2010 zur Ergänzung des Schengener Grenzkodex, 2010/252/EU.

[9] EuGH, C-355/10 – Parlament/Rat, 05.09.2012.

[10] Urteil des EGMR, Hirsi Jamaa and others v. Italy, 27765/09 vom 23.02.2012.

[11] Urteil des U.S. Supreme Court, Sale v. Haitian Centers Council, 509 U.S. 155 (1993), vom 21.06.1993.

[12] Matthias Lehnert / Nora Markard, Mittelmeerroulette – Das Hirsi-Urteil des EGMR und die europäische Grenzschutzpolitik auf See, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 06/2012, 198.

[13] Daniel Loick, But who protects us from you? Zur kritischen Theorie der Polizei, in: jour-fi xe-initiative Berlin (Hrsg.), Souveränitäten. Von Staatsmenschen und Staatsmaschinen, 2010, 162.

[14] Ebenda, 178.