Soziale Rechte und Aneignung!
Welche Rolle spielt Demokratie für emanzipatorische Politik? Im Rat von attac Deutschland entbrannte um genau diese Frage eine intensive Diskussion ...
... Dabei war eine These, dass die Garantie rechtsstaatlicher Verhältnisse ebenso wichtig wie die Erweiterung um Elemente aktiver Demokratie unerlässlich sei. Werner Rätz (attac) skizziert im folgenden Beitrag eine demgegenüber radikalere Auffassung von Demokratie: Es geht darum, die politischen Verhältnisse aktiv so zu gestalten, dass Menschen soziale Rechte nicht nur haben, sondern auch durchsetzen können.
Historisch fiel die Durchsetzung der neuzeitlichen Demokratie mit der Verteidigung des Privateigentums zusammen. Die (Stadt-)Bürger (Kaufleute, Manufakturbesitzer, Banker, weniger auch Handwerker) wehrten sich gegen Ansprüche von König und Adel auf ihren Besitz. Spätestens ab dem 10./11. Jahrhundert ersetzten Geldbeziehungen die früheren mittels Landvergabe erfolgten Belohnungen nachrangiger Vasallen. Von nun an benötigte man ein Einkommen. Dies sicherten sich die Fürsten am leichtesten durch die Besteuerung derjenigen, die Eigentum besitzen. Neue Regelwerke entstanden. So konnten verschiedene Fürsten mit unterschiedlichen Rechtstiteln in ein- und derselben Stadt gegenüber der gleichen Person Steuern erheben.
Unsinnige Kosten, wachsendes Kapital
Angesichts dessen gingen die Bürger Bündnisse ein, mit Adligen gegen den König, mit dem König gegen den Adel, mit anderen Städten, mit dem Papst oder dem Kaiser - wie es sich gerade ergab, aber immer mit dem Ziel, zumindest einige Ansprüche abzuwehren. Im Gegenzug allerdings mussten sie dafür meist andere anerkennen. Durchzusetzen galt es, dass der Schutzherr das Eigentum der Privaten zum einen nur nach festen Regeln belasten durfte, denen die Steuerpflichtigen zugestimmt hatten. Zum anderen war diese Zustimmung an den vom Schutzherrn zu garantierenen Schutz vor Zugriffen Dritter gebunden. Diese gegenseitig bestätigten Ansprüche und Pflichten bedurften der Aushandlung und Verwaltung, also gemeinsamer Entscheidung. Genau hier finden sich die Keimformen demokratischer Mitbestimmung durch die Bürger.
Auch die erste französische Revolutionsverfassung nennt "Eigentum" noch gleichrangig mit den uns bekannten Idealen von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass die Bürger hier jegliches Privateigentum im Blick haben und nicht zwischen dessen Funktion im Produktionsprozess und im individuellen Konsum unterscheiden. Das tut erst Marx, wenn er behauptet, dass das private Produktiveigentum neben anderen die spezielle Eigenschaft habe, alles andere private Eigentum zu enteignen. Marx zufolge geschieht dies dadurch, dass das Produktiveigentum alle anderen Eigentumsformen in den kapitalistischen Produktionsprozess hineinreißt.
In der Frühphase des Kapitalismus ist das leicht sichtbar. Land, private Ersparnisse, Wald und anderes verwandeln sich in Teile des fixen Kapitals, Menschen in variables. Dieser Prozess hatte schon zu Marx' Zeiten ein solches Ausmaß angenommen, dass Marx diagnostizierte, so werde zwar (vielleicht) die Produktivität des Einzelkapitals gesteigert, die der gesamten Gesellschaft aber geschmälert. Der Kapitalismus könne, so Marx, gesellschaftliche Entwicklung nur betreiben, indem er nach und nach die eigentlichen Quellen des Reichtums zerstöre. Er produziert demnach also Kosten, die nicht als solche in den Kalkulationsprozess des Warenpreises eingehen, die aber gesellschaftlich zu tragen sind. Diese unsinnigen Kosten nennt Marx Un-Kosten oder "faux frais der kapitalistischen Produktion". Ihr wesentlicher Kern besteht in der privaten Eigentumsform des Produktivkapitals, das sich immer größere Teile des gesellschaftlichen Reichtums aneignen muss - ganz einfach, weil es ohne ständiges Wachstum zum Untergang verdammt ist.
Kapitalistische Landnahme kenntkeineGrenzen
Vor allem Rosa Luxemburg hat später darauf hingewiesen, dass dieser Prozess schließlich die ganze Welt dem Kapitalismus unterwirft. Kapitalistische Landnahme findet demnach nicht nur im Wortsinne, sondern auch dort statt, wo alle Bereiche des Lebens und Überlebens in Warenform organisiert werden - auch solche, von denen man es sich kurz zuvor noch gar nicht vorstellen konnte. Heute erleben wir nochmals das Vordringen in völlig neue Dimensionen. Das betrifft einerseits den schieren Umfang, die Quantität der Enteignung. Weltweit hungern nur deshalb fasteine Milliarde Menschen, weil sie nicht über genügend Zahlungsmittel verfügen, um am kapitalistischen Wahrenverkehr teilzunehmen; die tatsächlichen Mittel zu ihrer Sättigung, die Nahrungsmittel, sind im Überfluss für mehr als elf Milliarden Menschen vorhanden. Die Verwandlung öffentlicher Daseinsvorsorge wie Bildung, Verkehr, Krankenversicherung in private Märkte schließt zunehmend mehr Menschen von diesen Leistungen aus.
Aber auch qualitativ passiert Neues und Unerhörtes. Wasser ist längst Ware geworden und Atemluft wird es, wo Verschmutzungsrechte gehandelt werden. Wissen nimmt Warenform an. Das geht eigentlich gar nicht, denn das Charakteristikum einer Ware und ihres Austausches besteht ja gerade darin, dass einer sie gegen Zahlung eines Geldbetrages völlig definitiv aus der Hand und ins Eigentum eines anderen gibt, der mit ihr nach Belieben verfahren kann. Bei Software- oder anderen Wissenspatenten aber wechselt das Wissen nicht den Besitzer, die Warenform muss hier über komplizierte Rechtskonstruktionen simuliert und dann mit staatlicher Gewalt durchgesetzt werden. Damit verlässt der Kapitalismus seine ureigenste Grundlage, die Ware, und ersetzt sie durch pure Machtbeziehungen. In seiner Gier nach Neuland hat der Kapitalismus längst den menschlichen Körper und sämtliche Lebensprozesse entdeckt. Lebendige Vielfalt verwandelt sich in "genetische Ressourcen", die ausschließlich auf den kapitalistischen Gebrauch hin definiert werden. Die Prozesse um Zeugung, Schwangerschaft und Geburt sind fest in den Gesundheitsmarkt integriert und ein Riesengeschäft. Gehen gen- und nanotechnische Träume auf, dann werden nicht nur einzelne Aspekte und Prozesse des Lebens, sondern das Leben selbst zum Element der kapitalistischen Wertverwertung.
Recht ist mehr als Schutz vonEigentum
Fassen wir den quantitativen und den qualitativen Aspekt zusammen: Der Kapitalismus in seiner heutigen, globalisierten Form reißt nicht nur sämtliches private Eigentum in sich hinein, sondern auch die Lebensmöglichkeiten der allermeisten Menschen. Darüber hinaus enteignet er tendenziell das Leben selbst. Der Aspekt der "faux frais", der unakzeptablen Kosten, dominiert längst jeden denkbaren positiven Effekt kapitalistischer Produktivitätssteigerung und Modernisierung. Das macht sehr tiefgehende und grundsätzliche Eingriffe notwendig, die ihrerseits das Funktionieren kapitalistischen Privateigentums in der Tendenz aufheben müssen. Sie müssen sich auf beide Ebenen beziehen: auf das gute Leben aller (also wider die Enteignung der Lebensmöglichkeiten) und auf die Abwehr der Destruktivtechnologien (also wider die Kommodifizierung des Lebens selbst). Wir behaupten, dass eine andere Welt möglich ist, eben weil die Welt keine Ware ist. Damit wird eine Diskussion darum unumgänglich, wie wir denn leben und arbeiten wollen, was wir produzieren und wie wir das tun wollen.
Der so erhobene demokratische Anspruch, selbst entscheiden zu wollen, was gut für uns ist, unterscheidet sich erheblich von dem, was wir in der Schule unter der Überschrift "Demokratie" gelernt haben. Dort wurde Demokratie aus der formalen Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz begründet. Dabei wird aus dem Selbstverständnis der eingangs zitierten Stadtbürger der Aspekt übernommen, dass sie erst mal sich selbst als mit eigenen Interessen ausgestattet und von den anderen verschieden verstanden haben, um so ihre Ansprüche vertreten zu können. Antonio Negri und andere reden an dieser Stelle von "Identität". Um die eigenen Interessen durchsetzen zu können, mussten die Bürger die gleich begründeten Ansprüche Dritter akzeptieren, Negri nennt das "Differenz". Menschenrechtlich führt das zu einem Verständnis von Abwehrrechten gegen Staat und Nachbarn: Das Recht soll mich und mein Eigentum vor Übergriffen schützen. Das ist zwar wichtig, aber defizitär und selbst in der bürgerlichen Debatte längst überwunden.
Da gibt es eine lange Tradition, die auf Entfaltungsrechte zielt, also darauf, das verwirklichen zu können, was für ein gutes Leben notwendig ist. Hier geht es um Bedürfnisse und das Recht auf ihre Befriedigung, und zwar für jede und jeden und für alle. Diese doppelte Formulierung ist von essenzieller Bedeutung. Bleiben wir bei "jede und jeder", so haben wir die "Identität und Differenz" der Einzelnen im bürgerlichen Demokratiebegriff aufgerufen, sagen wir "alle", so beziehen wir uns auf die Kollektivität falsch verstandener marxistischer Ansätze, die die Gleichheit (also die "Differenz") höher bewerten als die Freiheit (also die "Identität"). Diese Ansätze sind insofern nur ein Spiegelbild des bürgerlichen Demokratiebegriffs, als sie die Spannung zwischen beiden Aspekten nicht aufheben, sondern nur anders entscheiden.
Jenseits der Entscheidung zwischen Identität und Differenz
Weniger philosophisch formuliert: "Jede und jeder" addiert zwar numerisch alle zusammen, ist logisch aber nach wie vor ein Ausschluss, weil nach jeder erreichten Zahl immer noch eine kommen kann. "Alle" schließt zwar niemanden aus, macht aber die Einzelnen unsichtbar. Also, es geht um das gute Leben aller und eines und einer jeden und damit um Bedürfnisse und das Recht ihrer Befriedigung. Negri spricht von "Singularität", weil Bedürfnisse immer konkret und auf etwas Bestimmtes gerichtet sind, und "Gemeinsamkeit", weil ihre Befriedigung nur gemeinsam zu organisieren ist. Der bürgerlich-liberale Diskurs spricht in der Debatte um Abwehr- und Entfaltungsrechte dasselbe an.
In den konkreten Auseinandersetzungen ist das allerdings nicht sehr weit entwickelt, die tatsächlichen Kämpfe folgen fast ausschließlich einer Abwehrlogik. Das ist vor allem im sozialen Bereich sehr deutlich, wo selbst Forderungen wie Mindestlohn, Arbeitszeitverkürzung, bedingungsloses Grundeinkommen sich konkret oft eher wie Tarifverhandlungen darstellen: Krieg ich was für meine Klientel, dann frage ich nicht so genau, wo du's hernimmst. Da gleichen diese Abwehrkämpfe durchaus dem Verhalten der frühen Privaten: Lass mich in Ruhe leben, dann lass ich dich auch; wie du's allerdings hinkriegst, ist nicht mein Thema. Allerdings gibt es auch eine zweite sehr interessante Parallele: Beide, sowohl die historischen Bürger wie die TrägerInnen sozialer Kämpfe heute, behaupten, dass nur mit Erfüllung ihrer Forderungen ein gutes Leben aller und eines/r jeder/n möglich werde. Diese Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Person hatte schon Marx im Auge, wenn er von "Bourgeois" und "Citoyen" sprach.
Es ist also entscheidend, bei den eigenen Ansätzen immer Gesellschaftlichkeit als Ganzes in den Blick zu nehmen. Dennoch können und müssen die Kämpfe konkret sein, allerdings mit einer offenen Richtung, sozusagen einem Überschuss hin zu einer anderen Vergesellschaftung, die nicht mehr auf dem Privateigentum und dem Verkauf der Arbeitskraft (was zusammengehört und nur zusammen gedacht werden kann) beruht. Tatsächliche Ansatzpunkte gibt es genug und sie sind in der attac-Debatte ebenso wie in anderen Zusammenhängen oft genug auch identifiziert worden. Dazu gehören Kämpfe um öffentliche Daseinsvorsorge und soziale Infrastruktur ebenso wie um eine staatsferne Bürgerversicherung für Alter, Krankheit, Grundeinkommen. Dazu gehören aber auch Debatten um (bedingte) Eingriffe in Entscheidungen, was produziert werden soll, oder entstehende Überlegungen, wie denn ökologisch verantwortbare Zugänge zu im Grunde schädlichen Produkten (Flüge, Energie) anders als über Marktpreise geregelt werden könnten, die ja die Ärmeren ausschließen und den Reichen keine Einschränkung auferlegen. Und selbstverständlich gehören dazu Diskurse, die umfassend versuchen, andere Formen der Gesellschaftlichkeit denkbar zu machen, wie eben die um Grundeinkommen oder Globale Soziale Rechte.
Ohne Aneignung keine Demokratie
Wenn es also um das gute Leben aller und eines und einer jeden geht, wenn dafür die Frage zentral ist, was das denn eigentlich wäre, das gute Leben und was dazugehört, wenn wir also in einem gesellschaftlichen Diskurs gemeinsame Bedürfnisse identifizieren müssen, dann ändert sich das Verständnis von Demokratie. Sie wird bisher weitgehend als Repräsentation der identitären Einzelnen und Kontrolle der so delegierten Macht durch die vor dem Gesetz Gleichen gedacht. Wird Demokratie nicht von der formalen Gleichheit, sondern von den konkreten Bedürfnissen her verstanden, dann ist niemandem damit gedient, dass eine Mehrheit in einem rechtsstaatlich gestalteten Prozess demokratisch entschieden hat und die unterlegene Minderheit das in ebenfalls gut geregelten Verfahren, bei Wahlen, Volksentscheiden oder vor den Gerichten, überprüfen und gegebenenfalls korrigieren kann. Dann geht es darum, nicht nur Recht zu haben, sondern es auch zu bekommen. Dann muss Demokratie auch und immer wieder als Aneignung organisiert werden - auch hier übrigens wieder eine Parallele zu den frühen Bürgern, die durchaus wussten, dass die Rechtsform erst kommt, wenn das Eigentum schon da ist. Allerdings war lange Zeit der bloße Raub die übliche Form, zu diesem Eigentum zu gelangen. Damit unsere Aneignungsprozesse nicht dahin gelangen, gehört auch zu diesem Demokratieverständnis ein Kontrollmechanismus. Er liegt nicht im Mehrheitsbeschluss, sondern im Konsens. Kein konkretes Bedürfnis ist von vorne herein schlechter als das andere, jedes ist in seiner jeweiligen Bestimmtheit berechtigt. Aber die Frage, wie wir ihre Befriedigung gestalten, muss gemeinsam geklärt und womöglich erstritten werden.
Werner Rätz ist Mitglied im Rat von attac Deutschland, lebt in Bonn und versucht sein Geld mit Vorträgen unter anderem über das bedingungslose Grundeinkommen zu verdienen.
aus: Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis/Nr. 13 /Sommer 08