Am Anfang war Arnulf Baring. Sein wütendes "Bürger auf die Barrikaden" eröffnete den Reigen der Revoltierenden gegen die Regierung Schröder.Mittlerweile hat sich der Slogan regelrecht verselbstän
... Eine Bürger-APO nach der anderen macht mobil. Die "Bürgerkonvente" und Initiativen namens "D 21" oder "Deutschland packt‘s an" schießen ins Kraut - und alle behaupten, im Namen jenes imaginären "Bürgers", sprich: im Namen aller zu sprechen. Für Mitte Juli ist bereits die Gründung des nächsten Kreises namens "Klarheit in die Politik" angekündigt, der mit einer Werbekampagne von 100 Mio. Euro alles bisherige in den Schatten stellen will. Den Initiativen ist gemein, dass ihnen die geforderten Reformen nicht radikal genug sein können. Alles ist auf den Prüfstand zu stellen, tabulos, versteht sich. Es grassiert die Lust an der Zumutung. Wir erleben einen kolossalen Überbietungswettbewerb nach der Devise: Wer hat die größte Abrissbirne? Und auch der eigentliche Schuldige für die blockierte Republik ist bereits ausgemacht: das Grundgesetz. Vor wenigen Jahren löste Hans-Olaf Henkel noch einen Sturm der Entrüstung aus, als er die "Systemfrage" stellte und für eine Abschaffung des Föderalismus plädierte. Mittlerweile gehört der Frontalangriff auf die "verstaubte Verfas-sung"2 längst zum guten Ton in den Redaktionsstuben. Der "Spiegel" wirft "die alte Kladde, das Provisorium aus der Nachkriegszeit" kurzerhand auf den Müllhaufen der Geschichte. "Können wir uns diesen Oldie noch leisten?" lautet die reichlich rhetorische Frage. Pluralismus und Parteienstaat - alles alter Plunder. Wohlfeil skandiert das Blatt: Parteien in die Produktion. "Der Rechtsstaat hat sich zum Investitionshindernis entwickelt". Was liegt da näher als zu fordern: Der langwierige Rechtsstaat muss weg! Im Namen einer dubiosen"Republik der Bürger",wird die Deregulierung der Politik propagiert. Wer, bei aller berechtigten Kritik an den föderalistischen Blockademöglichkeiten, das gesamte Grundgesetz als Altpapier deklariert, nimmt bereitwillig in Kauf, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Hier artikuliert sich ein enormer Überdruss an den Institutionen der einst geschätzten Bonner Republik. Ganz nebenbei werden handstreichartig noch einige alte Rechnungen beglichen: Verfassungspatrioten werden zu den Hütern einer blockierten Republik, zu ideologischen Besitzstandswahrern und ewiggestrigen Bedenkenträgern gemacht. Und junge Abgeordnete einer imaginären "Generation 2010" umgehend "als zu brav für die Revolte" befunden. "Warum sind die heute Dreißigjährigen keine Systemveränderer?", heißt es vorwurfsvoll.3 Helmut Schmidt warnt zwar noch vor dem "schwarz-malerischen Herdenjournalismus", aber ansonsten lässt auch sein Blatt am liebsten die "Tatsachen putschen".4 Eine unheimliche Hau-weg-Mentalität macht sich breit. Hauptsache, es passiert etwas, was auch immer es sei. Das pure Machen als Programm. Was aber verbirgt sich hinter dem Anspruch auf eine radikale Reform der Gesellschaft samt ihrer Verfassung? Waren es nach 1989 vor allem linksliberale Juristen aus dem Westen und Bürgerrechtler aus dem Osten, die auf eine Überholung des Grundgesetzes primär zwecks Erweiterung des Grundrechtekanons drängten, haben sich heute die Fronten verkehrt. Effizienzsteigerung heißt die Maxime, mit der dem föderalen Staatsaufbau zu Leibe gerückt wird. Keine Frage, dass sich die neue "brauchbare Verfassung"5 des Jürgen Kluge, Chef von McKinsey Deutschland, auf ein paar Schmierzetteln ausbuchstabieren lässt. Dezision statt Deliberation wird zum Gebot der Stunde erhoben. In dem Maße, in dem der Glaube an das politische System schwindet, wird der Ruf nach dem Wunderheiler lauter. Und, worauf man sich in einer solchen Situation immer verlassen kann: der Ruf nach der großen Koalition. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass spätestens im Winter mit dem Durchbrechen der magischen Marke von fünf Millionen Arbeitslosen der Wechsel zu Rot-Schwarz unter Clement, Merz und Merkel ansteht. Noch ist es vor allem die interpretierende Klasse, von "Financial Times Deutschland" bis "Spiegel", von FAZ bis "Zeit", die sich in besonderem Maße exaltiert. Die große Medienkoalition existiert bereits. Dabei zeigt die Propaganda erste Wirkung: Einer hat kalte Füße bekommen. In Nordrhein-Westfa-len fand sich mit Peer Steinbrück bereits ein williger Vollstrecker des Zeitgeistes, der entschieden den Bruch von Rot-Grün forciert. Die Parteibasis scheint ihm zwar die rot-gelbe Option vorerst zu verwehren, aber nicht weniges deutet bereits auf Rot-Schwarz hin.Cui bono?
Schlechte Zeiten also für eine Linke, da sich SPD und Grüne auf ihren Agenda-Parteitagen scheinbar willenlos dem Zeitgeist ergeben haben. Ein politischer Macher spart, bis die Republik quietscht, meinte Klaus Wowereit. Also Reformen ohne Rücksicht auf Verluste. . Die Forderung der Bürger-APO nach einer Politik der Zumutungen verfängt auch hier. Deshalb ist es umso notwendiger, hinter die "Bewegungen" zu gucken, Ross und Reiter zu benennen und die alte Frage zu stellen: Cui bono? Denn keinesfalls verbirgt sich hinter jedem, der das Wort Allgemeinwohl im Munde führt, ein Altruist. Die Frage muss schon erlaubt sein, welche Interessen sich hinter der "Krawatt-Attac" ("Frankfurter Rundschau") vom BürgerKonvent verbergen, der Bewegung zum Bestseller Meinhard Miegels, "Die deformierte Gesellschaft". Wenn der einstige CDU-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Geschäftsführer der Konrad Adenauer-Stiftung, Politologieprofessor und Vorsitzende der neu-ge-gründeten Vereinigung Gerd Langguth, fordert, "wir wollen das schöne deutsche Wort Bürger wieder reaktivieren" und dem "Vaterland Gutes tun"6, dann klingt das zwar löblich, doch die eigentliche Stoßrichtung wird wenige Sätze später deutlich. Denn vor allem will die angeblich erste "bürgerliche Grassroots-Bewegung der Geschichte" (Langguth), dass "die Bürger diejenigen abwählen, die den Reformen im Wege stehen."7 So klar, so gut. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das "Wollen der Vielen" (so Sprecher Meinhard Miegel)8, die behauptete Volonté générale, aber als der Wille von einigen Wenigen, die mit einem Budget von sechs Mio. Euro große Anzeigen unter der Überschrift schalten können: "Alle Macht geht vom Volke aus!" Es ist das alte Lied: Wenn weder die Parteien, geschweige denn die Wunderheiler Wunder wirken, reklamiert man einen alten Bekannten für sich: das Volk. Paradoxerweise verstecken sich gerade jene, die die neue Konfliktwilligkeit für sich beanspruchen, am liebsten hinter dem behaupteten Willen aller. Tatsächlich mutet es vor allem grotesk an, wenn wesentliche Teile der Unternehmer-Lobby jetzt im Namen des Volkes als treibende Kräfte hinter den ominösen Bürger- und Verfassungskonventen für radikale Reformen gegen den Parteienund Verbändestaat zu Felde ziehen, als ob sie über all die Jahre nicht wesentlich zu seiner Blockade beigetragen hätten. Dabei sind weder die soeben beschlossenen noch die darüber hinaus geforderten "Reformen" im behaupteten Interesse aller.9Der Mut der Anderen
Man muss nicht gleich mit Günter Gaus in der "sozialen Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik" mit ihrer "materiellen Verbürgerlichung der Unterschicht" den "revolutionären Höhepunkt" der "geistigen Emanzipation der Menschen im aufgeklärten Europa" sehen, um die Propaganda der brachialen Kürzung als höchst ungerecht abzu-lehnen.10 Wieder soll der Gürtel zuerst bei den schlecht oder gar nicht Verdienenden enger geschnallt werden. Einseitig werden die Arbeitseinkommen belastet, Kapital und Vermögen aber geschont. Wenn der Bürgerkonvent in seiner zentralen Forderung formuliert: "Beenden wir die Vormundschaft des Staates. Schaffen wir eine Bürgergesellschaft!", so klingt das verheißungsvoll nur für die, die auf den vor- und versorgenden Staat verzichten können. Freude an den Grausamkeiten haben eben nur die, die es sich leisten können oder ohnehin nicht betroffen sind. Die schäbigen Arbeiten machen bekanntlich die anderen. Und solange keinerlei, wenn schon nicht Garantie, so doch zumindest Wahrscheinlichkeit auf eine Zunahme der Arbeitsplätze existiert, bleiben die Reformen ein ungedeckter Scheck auf höchst unklare Erfolgsaussichten bei massiver Vorleistung der Arbeitnehmer. Hier zeigt sich: Die grassierende Bürger-Rhetorik taugt allemal dazu, bestehende Interessengegensätze schlicht zu verschleiern. Wenn deshalb überall der Ruf erschallt, "Wir leben über unsere Verhältnisse", aber immer mehr Menschen am Rande der Verhältnisse leben, muss auch hier die Frage gestellt werden: Wer ist wir? Derzeit wird der propagierte "Mut zur Veränderung" jedenfalls stets denen zugemutet, die ohnehin kaum über Spielraum verfügen. Günter Gaus hat Recht, wenn er hier vor allem auch einen Verrat der Intellektuellen sieht: "Das herrschende intellektuelle Verständnis für eine Freiheit, die eine Freiheit von Ängsten ist, ist derzeit weithin verschüttet." Vielleicht wird sich die Propaganda der brachialen Tat tatsächlich "dereinst als der große Neuerungswurf der Gegenwart erweisen; freilich als kein allgemein gesellschaftlicher, sondern als ein partikularer". So lange jedoch angesichts der neoliberalen pensée unique nichts auf eine echte politische Wende hindeutet, wird man sich wohl damit bescheiden müssen, Gegenöffentlichkeit herzustellen und darauf hinzuweisen, dass Alternativen auf dem Tisch liegen, der herrschenden Sachzwang-Rhetorik zum Trotz. Im Mittelpunkt muss dabei die Ausweitung der Steuer- und Sozialsysteme auf sämtliche Einkommensarten stehen. Damit könnte die in den vergangenen Jahrzehnten in verheerender Weise gesteigerte Kopplung des Sozialstaats an den Faktor Arbeit endlich aufgelöst und das soziale System auf eine breitere und gerechtere Basis gestellt werden. Parteipolitisch scheint allerdings nichts anderes übrig zu bleiben, als auf die Erneuerung der Linken in der absehbaren Opposition zu warten. Bis dahin bleibt es, gegen die grassierende Schönfärberei vom guten "Volk", bei der wenig tröstlichen Devise: Das Volk bekam noch immer die Parteien, die es verdient. 1 "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ), 19.11.2002. 2 Die verstaubte Verfassung, in: "Der Spiegel", dreiteilige Serie, 12., 19., 26.5.2003. 3 "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" (FAS), 8.6.2003, S. 33. 4 Bernd Ulrich, Wenn Tatsachen putschen, in: "Die Zeit", 15.5.2003, S. 1. 5 "Der Spiegel", 19.5.2003, S. 52 6 ,"Financial ,Times ,Deutschland", (FTD), 13.5.2003, S. 13. , 7 ,"Welt am Sonntag", 25.5.2003, S. 4. 8 ,"Der Spiegel", 26.5.2003, S. 38. 9 Vgl. auch den Beitrag von Claus Offe in diesem Heft. 10 Günter Gaus, Keine Zeit für große Würfe, in: "Freitag", 23.5.2003, S. 1.