Frankreich à la Schröder?

Erst der Abgang des linken Ministers, dann das Regieren mit Hilfe der Vertrauensfrage: Wen würde das, was derzeit in Frankreich geschieht, nicht an die Lage der deutschen Sozialdemokratie nach dem Rückzug Oskar Lafontaines erinnern? Tatsächlich sind die Parallelen frappierend: Galt um die Jahrtausendwende Deutschland als der kranke Mann Europas, firmiert inzwischen Frankreich in der öffentlichen Darstellung, zumindest in Deutschland, mehr und mehr als europäischer Problemfall. Und während damals Gerhard Schröder die Agenda 2010 aus dem Hut zauberte und die SPD ins politische Abseits beförderte, scheint nun François Hollande wild entschlossen, es ihm gleichzutun. Nach der Kritik seines Wirtschaftsministers Arnaud Montebourg entließ der Präsident, auf Druck seines Premierministers Manuel Valls, den Linkssozialisten und machte den 36jährigen früheren Investmentbanker Emmanuel Macron zu dessen Nachfolger. Dieser soll nun, nach deutschem Vorbild, Unternehmen entlasten und Staatsausgaben radikal reduzieren. Peter Hartz und Wolfgang Clement lassen grüßen. 

In nicht mehr allzu ferner Zukunft dürfte daher der Parti Socialiste (PS), trotz der soeben knapp bestandenen Vertrauensfrage, die wirkliche Zerreißprobe winken – wenn nämlich die angekündigte Sparpolitik in die Tat umgesetzt wird. Dann käme es wohl endgültig zur Trennung in Sozialdemokraten und Sozialisten, nachdem sich bereits 2008 der ehemalige PS-Minister Jean-Luc Mélenchon mit seiner Parti de Gauche abgespalten hatte und 2012 prompt 7 Prozent erzielte (mit Kommunisten und Gauche unitaire).

Dennoch hat sich der Präsident nun auf diesen gefährlichen Weg begeben. Notgedrungen, wohlgemerkt: Denn „Mister Synthese“ ist doppelt gescheitert, privat wie politisch (im Gegensatz zu seinem großen Vorbild François Mitterrand, der stets mit allen Bällen zu jonglieren verstand). Missglückt ist Hollandes Versuch, mit Montebourg, dem telegenen Anwalt und ehemaligen Sprecher von Ségolène Royal, auch den linken Parteiflügel einzubinden. Dieser steht für das Gegenteil der Valls-Linie: Er will die Wirtschaft durch neue Konsumausgaben antreiben, unter anderem durch umfangreiche Steuersenkungen für Geringverdiener, wenn nötig auch durch neue Schulden.

Spaltung oder Spagat

In den nächsten Jahren muss sich zeigen, ob die Sozialisten den Weg der SPD gehen – sprich: den der Spaltung – oder ob das Duo Hollande/Valls doch den Spagat zwischen den Flügeln schafft.

Ob es dafür allerdings die richtigen Mittel wählt, ist mehr als fraglich. Denn in seinem zentralen Punkt hat Montebourg völlig Recht: Die deutsche Austeritätspolitik treibt Frankreich immer stärker in die Krise. Und nicht nur Frankreich: Deutschland ist in der Tat, wie Montebourg feststellt, „gefangen in einer Sparpolitik“, die es inzwischen ganz Europa aufgezwungen hat. Zu dieser destruktiven Ideologie muss Frankreich, geht es nach Montebourg, Alternativen anbieten. Er jedenfalls habe nicht die Absicht, „sich nach den maßlosen Obsessionen von Deutschlands Konservativen zu richten“.

„Deutschland kann seiner Verantwortung nicht entkommen, es wird Zeit, dass die deutsche Rechte diese Botschaft versteht!“ Das allerdings waren nicht die Worte Arnaud Montebourgs, sondern die von Manuel Valls. Offenbar sah sich der Premier nach Montebourgs Abgang zu Konzessionen an die Parteilinke gezwungen. Auch Valls warnte, Merkels Rezepte könnten Europa erdrücken, und forderte zugleich, Berlin müsse seine Zügel endlich lockern und mit milliardenschweren Investitionen die Konjunktur ankurbeln.[1] Dabei hat er einen prominenten Alliierten: Zu dem gleichen Ergebnis kommt offenbar auch EZB-Chef Mario Draghi. Bereits in seiner jüngsten Rede vor dem alljährlichen Symposium der US-Notenbank Federal Reserve in Jackson Hole hatte er auf das volkswirtschaftliche Nachfrageproblem, und zwar im gesamten Euroraum, verwiesen. Die Konsequenz folgte auf dem Fuß: Am 4. September senkte Draghi den Leitzins auf das neue „Rekordtief“ von 0,05 Prozent, um so die Kreditvergabe anzukurbeln.

Die Gefahr der Deflation

Denn hier liegt das eigentliche Problem: Derzeit wird in Europa viel zu wenig investiert. Nichts fürchten Ökonomen daher mehr als eine Deflation, sprich: eine Abwärtsspirale der Preise quer durch alle Warengruppen. Momentan erleidet Europa, bedingt durch Merkels Sparkurs und forciert durch die außenpolitischen Unsicherheiten (Ukraine), den Rückgang seiner Konjunktur. Die Folge: Waren bleiben liegen; Unternehmen und Verbraucher verzichten auf Investitionen und Anschaffungen; die Preise sinken weiter, doch die Verbraucher kaufen immer noch nicht, in der Annahme weiter sinkender Preise – ein Teufelskreis.

Diesen Kreislauf will der EZB-Chef nun unterbrechen. Aber ganz offensichtlich stößt er dabei immer mehr an seine Grenzen. Welches zukünftige Rekordtief sollte es jetzt, nach der Senkung auf 0,05 Prozent, noch geben? Mehr geht nicht, die Minimalzinsschraube ist bis zum Ende aufgedreht.

Deshalb hat die EZB bereits den nächsten Schritt beschlossen. Ab Beginn dieses Monats will sie mit bis zu einer halben Billion Euro Kreditpapiere ankaufen, um so den Banken die Kreditvergabe zu erleichtern. Offensichtlich mit gewaltigen Risiken: Denn dabei handelt es sich exakt um jene undurchsichtigen (faulen) ABS-Kreditpakete, die maßgeblich zum Crash der Finanzmärkte beitrugen. „Es mutet wie ein Treppenwitz der Finanzkrisengeschichte an, dass nun ausgerechnet die Europäische Zentralbank diese Papiere wieder hoffähig machen will“, kommentiert denn auch die „Süddeutsche Zeitung“.[2]

Hier zeigt sich: Letztlich agiert die EZB weitgehend hilflos – und mit gefährlicher Symbolpolitik. Was Draghi derzeit betreibt, ist nichts anderes als der Versuch, die Feuerwehr zu spielen, um den durch die deutsche Austeritätspolitik gelegten Brand zu löschen.

Faktisch wurde Europa in den letzten Jahren immer stärker in die Krise gespart. Das Einzige, was dagegen hilft, wären konzertierte Investitionen. Warum aber unternimmt die Europäische Union – anstatt die EZB gefährliche Schrottpapiere aufkaufen zu lassen und damit die Falschen zu bedienen – keinen gemeinsamen Versuch, die gewaltigen Rückstände insbesondere im Bereich der Infrastruktur anzupacken, am besten im Sinne eines Green New Deal, der gleichzeitig die EU ökologisch modernisiert? Die Antwort ist einfach: weil all dem die Sparideologie der deutschen Bundeskanzlerin diametral entgegen steht.

„Ich habe etwas dagegen, wenn man Wachstum auf Pump finanziert“, verkündete Angela Merkel Anfang Juli an der Tsinghua-Universität in Peking, „dann muss eben besser die Weltwirtschaft etwas weniger wachsen, als dass man auf Teufel komm raus auf Wachstum setzt.“[3]

Unter ökologischen Gesichtspunkten erscheint das durchaus sympathisch, doch dahinter steckt ein anderes Kalkül. Denn angesichts der Krise Europas kann von Wachstum „auf Teufel komm raus“ nun gerade nicht die Rede sein. Im Gegenteil, Europas Wirtschaft wächst derzeit immer weniger. Fatale Ausnahme auch hier: Deutschland als der EU-Krisenprofiteur. Zur Erinnerung: Während die deutsche Wirtschaft von 2008 bis 2014 insgesamt um 4,9 Prozent gewachsen ist, verlor Griechenland neun Prozent seiner Wirtschaftskraft.

Von Helmut Schmidt stammt das bekannte Diktum „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“. Heute wäre die EU über fünf Prozent Arbeitslosigkeit bei fünf Prozent Inflation hellauf begeistert. Stattdessen haben wir es in weiten Teilen Europas mit Arbeitslosenzahlen von deutlich über zehn, ja zwanzig Prozent zu tun (Griechenland 27,2, Spanien 24,5 Prozent, Stand Juli 2014).[4]

Hier aber liegt auch die entscheidende Frage in der Auseinandersetzung zwischen Manuel Valls und Arnaud Montebourg. In Frankreich entscheidet sich mehr als bloß die Zukunft der sozialistischen Partei, nämlich die Zukunft Europas – und zwar sowohl ökonomisch als auch politisch.

Ökonomisch muss die Frage beantwortet werden, ob es eine Alternative zu Merkels Sparpolitik gibt. Es reicht nicht, dass die Bundesregierung ihre schwarze Null feiert, den ersten ausgeglichenen Haushalt seit 1969, wenn dies vor allem zu Lasten Europas geht. Nicht die schwarze Null ist „der beste Beitrag zur Generationengerechtigkeit“ (Angela Merkel), sondern eine Politik für ein soziales, zukunftsfähiges Europas. Doch alle Reden von neuer deutscher Verantwortung werden zur Makulatur, wenn es um das Geld der eigenen Staatsbürger geht. Ein derartiger Nationalegoismus rächt sich spätestens dann, wenn die Nachbarn keine Nachfrage nach den Gütern des Exportweltmeisters mehr tätigen – und zudem auch die BRICS-Staaten schwächeln, wie es gegenwärtig der Fall ist.

Die Rechte als Sieger

Politisch aber ist die Lage noch dramatischer. Denn was wäre die Konsequenz einer weiteren Schwächung der französischen Sozialisten? Der Sieger steht bereits fest: wie nach Gerhard Schröders Schrumpfkur für die SPD wäre es auch in Frankreich die Rechte. Wobei im Falle Frankreichs der rechte Sieger eben nicht Angela Merkel hieße, sondern womöglich Marine le Pen, in jedem Fall aber Nicolas Sarkozys noch immer stark geschwächte UMP. Auch aus diesem Grund ist die Lage in Frankreich von weit mehr als bloß nationaler Bedeutung.

Der EU-Integrationsprozess hing bisher ganz maßgeblich am deutsch-französischen Tandem. Wenn Frankreich zukünftig ausfällt, aufgrund einer national orientierten Rechtsregierung, wäre dies zum Schaden ganz Europas – und nicht zuletzt Deutschlands. Wie sehr die Bundesrepublik bereits jetzt durch den Zuwachs an Verantwortung ge- und überfordert ist, zeigt sich in der Ukrainekrise. Auch aufgrund der Schwäche speziell der EU-Außenbeauftragten (und der Wechsel von Catherine Ashton zur unerfahrenen Federica Mogherini macht hier wenig Hoffnung auf Besserung) firmiert Angela Merkel oft als Kanzlerin und Außenministerin Europas in einer Person. Für das nachbarschaftliche Verhältnis in Europa ist dieser immense Machtzuwachs verheerend. Besonders Deutschland muss daher daran gelegen sein, es endlich wieder mit einem französischen Partner auf Augenhöhe zu tun zu bekommen.

Dafür aber kommt es darauf an, den Nationalegoismus der Regierung Merkel hinter sich zu lassen. In den nächsten Jahren muss sich entscheiden, welcher Kurs sich durchsetzt. Ein eher linker, nachfrageorientierter, forciert von der möglichen „Südachse“ Italien und Spanien, oder der nationalegoistische Sparkurs Angela Merkels und ihrer „Nordachse“, mit der Konsequenz fortgesetzter Spaltung.

Fest steht, dass diese Frage auch innenpolitisch erhebliche Konsequenzen haben wird: Wer nämlich trägt die Kosten eines Zerfalls der Europäischen Gemeinschaft? Offensichtlich die sozial Schwachen und damit die politische Linke. Größter Verlierer wäre die europäische Sozialdemokratie. Speziell die großkoalitionäre SPD droht beim Spagat zwischen Merkel und Hollande zerrissen zu werden. Im Bundestagswahlkampf hatte die SPD stets versprochen, im Geiste Willy Brandts ein Volk der guten Nachbarn sein zu wollen. Anschließend ließ sie sich dann von Merkel im Koalitionsvertrag auf die Sparunion vergattern. Nun kommt es in dieser Frage zum Schwur.

Deswegen ist der Fall Hollande auch für die SPD so entscheidend. Faktisch droht die SPD gleich zweifach in Mithaftung genommen zu werden. Erstens für ein Scheitern der Merkelschen Sparpolitik: In ganz Südeuropa zeigen sich immer schärfer die negativen Folgen. Soeben machten daher auch die ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi und Mario Monti Deutschland für die desolate Wirtschaftslage in Europa verantwortlich.[5] Für die SPD an Merkels Seite gälte dann: Mitgefangen, mitgehangen.

Zweitens haftet Gabriel indirekt aber auch für das Scheitern von Hollande. Nach seiner Wahl 2012 galt der Franzose als der Hoffnungsträger der SPD, nun ist er zu ihrer größten Hypothek geworden. Denn scheitert Hollande und rutscht auch Frankreich nach rechts, dürfte es mit einer europäischen Linksalternative endgültig vorbei sein. Die SPD darf sich daher nicht länger hinter Merkels Sparpolitik verstecken (um dann, so das Kalkül, nach Merkels Abgang oder auf dem irgendwann einsetzenden Überdruss sanft ins Kanzleramt zu gleiten). Ohne eine eigene Europastrategie und -vision wird Sigmar Gabriel keine Strahlkraft entfalten. Seine Alternativen lauten: entweder in der Mithaftung mit Merkel zu verbleiben oder die SPD zur treibenden Kraft einer neuen europäischen Solidargemeinschaft zu machen.

Schon vor 50 Jahren wäre die SPD ohne das Konzept einer neuen Ostpolitik (Wandel durch Annäherung) keine Alternative zur CDU als der Partei des Kalten Krieges geworden. Damals konterte Willy Brandt das „Keine Experimente“ der Adenauer-Erhard-Union mit „Mehr Demokratie wagen“. Gleiches muss heute Sigmar Gabriel gelingen, gegen die angebliche Alternativlosigkeit der Merkelschen Sparideologie und ihre marktkonforme Demokratie. Insofern könnte in der Krise auch eine strategische Chance liegen.

Allerdings muss die SPD aufpassen, dass die Union hier nicht Hase und Igel mit ihr spielt. Offenbar plant Finanzminister Schäuble bereits eine Investitionsoffensive für Europa, gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Michel Sapin.[6] Am Ende könnte die SPD wieder einmal das Nachsehen haben. Angela Merkel hat zu Recht betont, dass sich in den nächsten Jahren die Zukunft Europas entscheiden wird. Man darf annehmen, dass sie ein wichtiges Wörtchen dabei mitreden will.


[1] Christian Wernicke, Der Zorn wächst, in: „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), 3.9.2014. 

[2] Ulrich Schäfer, Draghis gefährliche Notbremsung, in: SZ, 4.9.2014. 

[3] Weltwirtschaft nicht auf Pump ankurbeln, in: „Handelsblatt“, 8.7.2014. 

[4] Vgl. de.statista.com. 

[5] Italien macht Deutschland zum Sündenbock, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 8.9.2014. 

[6] Allerdings durch Kreditverbriefungen, vgl. FAZ, 9.9.2014.

(aus: »Blätter« 10/2014, Seite 5-8)