Rot-grüne Wiedergutmachung?

in (05.11.2002)

Seit dem 11. 9. 2001 beherrschen Terror und Gegenterror die politische Debatte. Höchste Zeit, endlich Bilanz darüber zu ziehen, ...

... was der staatliche "Anti-Terror"-Kampf im Namen der "Sicherheit" hierzulande angerichtet hat. Nach den Bundestagswahlen, die uns wieder eine rot-grüne Koalition beschert haben, sollten die Koalitionspartner nachdrücklich mit ihren Sünden an den Bürgerrechten aus der letzten Legislaturperiode konfrontiert werden. Sie hätten viel Grund zur Wiedergutmachung. Doch die bisherigen Koalitionsverhandlungen geben wenig Hoffnung darauf.
Wir erinnern uns: Es war ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung, die vor einem Jahr nach den Anschlägen in den USA die umfangreichsten "Sicherheitsgesetze" präsentierte, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind - ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden Gesetze zur Bewältigung der Gefahren ausgereicht hätten. Die berüchtigten "Otto-Kataloge" kamen in Windeseile unter Mißachtung des Parlaments zustande; sie sind weitgehend ineffizient, schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Freiheitsrechte umso mehr - so die bittere Bilanz seit ihrem Inkrafttreten. Man könnte meinen, Osama bin Laden und El Qaida hätten über Otto Schily (SPD) Einfluß auf die Gesetzgebung in diesem Lande genommen.
Über die Bürgerrechte siegte mal wieder die Unersättlichkeit der Sicherheitsbehörden, über die auch die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, in einem Festvortrag zum Deutschen Anwaltstag 2002 "mit Sorge" sprach. Eine von dieser Unersättlichkeit getriebene Politik innerer Sicherheit entwickelt totalitäre Züge und führt in den autoritären Sicherheitsstaat, gleichgültig welche Parlamentsmehrheit sie ausformuliert. Rot-grüner Sündenfall - oder Fehler mit System?
Schon nach Ablösung der Kohl-Regierung 1998 war, anders als von vielen bürgerrechtsbewegten Menschen erhofft, ein wirkliches Umdenken und Umsteuern in der Innenpolitik unterblieben. Die Hinterlassenschaft der rechtsliberalen Politik wurde nicht auf den Prüfstand gestellt. Mit Ausnahme der Kronzeugen-Regelung wurde kein einziges noch so bürgerrechtsschädliches Repressionsinstrument revidiert. Stattdessen baute die rot-grüne Bundesregierung auf der von ihrer Vorgängerin geschaffenen Grundlage den Sicherheitsstaat weiter aus - zu Lasten der Bürgerrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien.
Wird dieses Mal alles anders - oder wenigstens vieles besser? Hoffnungen richten sich auf die Bündnisgrünen, die sich nach wie vor als "Bürgerrechtspartei" verstehen und gegenüber der SPD gestärkt aus der Wahl hervorgegangen sind. Im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen hat die Bürgerrechtsvereinigung "Humanistische Union" schon mal an die SPD-Unterhändler appelliert, Mißstände in der Innenpolitik zu beseitigen. Beispielhaft forderte sie, die polizeiliche Überwachung der Telekommunikation einzuschränken, damit Deutschland seine fatale "Abhör-Weltmeisterschaft" endlich beenden kann. Auch das "rechtsstaatlich fragwürdige Instrument" des Großen Lauschangriffs müsse auf den Prüfstand, zumal es sich für den Strafprozeß als ungeeignet erwiesen habe. Im übrigen müßten die neuen "Anti-Terror"-Gesetze so bald wie möglich einer kritischen Evaluation unterzogen werden.
Auch innerhalb der Grünen werden Stimmen laut, die auf dem Gebiet "Innen und Recht" einen Verhandlungserfolg anmahnen, nachdem ihre Partei in der vergangenen Legislaturperiode als Regierungspartner habe "Federn lassen" müssen, wie es in einem internen Schreiben an die grünen Unterhändler heißt. Besonders die "Terrorismusbekämpfungsgesetze" hätten bei Bürgerrechtsorganisationen zu "viel Skepsis bis hin zur Ablehnung" geführt. Deswegen müsse grünes Anliegen sein, "unser Profil als einzige Bürgerrechtspartei zu stärken". Richtig daran ist, daß es - trotz vieler Abstriche - weit und breit keine Fraktion gibt, in der bürgerrechtliches Denken besser verankert wäre als (noch) bei den Bündnisgrünen. Allerdings erwarten Bürgerrechts- und Flüchtlingsorganisationen zu Recht mehr als nur eine "Korrektivfunktion" zur Verhinderung des Allerschlimmsten; sie erwarten eine wirksame politische Kraft, die sich dem Minderheitenschutz, liberaler Rechtspolitik, den Bürgerrechten und einer humanen Flüchtlingspolitik verpflichtet weiß und sich tatkräftig gestaltend dafür einsetzt.
In diesem Sinne hat die grüne Bundesarbeitsgemeinschaft Demokratie & Recht den grünen Unterhändlern ein internes Eckpunktepapier mitgegeben, in dem unter anderem die "Stärkung der direkten Demokratie und Chancengleichheit" gefordert wird sowie eine Reform ("die diesen Namen verdient") im Bereich des Strafrechts, des Jugendstrafrechts, der Untersuchungshaft, der Strafvollstreckung und des Betäubungsmittelrechts. Einleuchtend, daß auch das in der letzten Regierungsperiode Versäumte wieder auf dem Wunschzettel steht: ein Antidiskriminierungsgesetz, die Einführung eines Korruptionsregisters, die Entrümpelung des politischen Straf- und Strafprozessrechts (Verbot der Mehrfachverteidigung, Kontaktsperregesetz), die Entkriminalisierung von Bagatelldelikten wie Schwarzfahren oder Besitz von Hasch für bloßen Eigenkonsum. Der hohen Anzahl von Telefonüberwachungen wollen die Autoren mit verstärkter richterlicher Kontrolle (engere Befristung, Begründungs- und Berichtspflichten) begegnen. Und die drei Geheimdienste sollen einer Reform unterzogen werden (die Auflösung dieser demokratiewidrigen Institutionen steht seit längerem nicht mehr auf der grünen Agenda); eine Regierungskommission soll den Reformbedarf feststellen und -vorschläge erarbeiten; auch an einen Geheimdienst-Beauftragten als zusätzliche Kontrollinstanz wird gedacht. Schließlich sollen die "Sicherheitsgesetze" schon nach zwei Jahren einer Zwischen-Evaluierung unterzogen werden, damit das Gesetzeswerk gegebenenfalls modifiziert oder zurückgerufen werden kann, wenn und soweit es sich als untauglich oder als bürgerrechtsschädlich erweist.
Außerdem fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Demokratie & Recht das Justizressort als viertes grünes Ministerium, um ein bürgerrechtliches Gegengewicht zu Otto Schilys Innenministerium aufbauen zu können.
Welche Chancen diese grünen Wünsche haben, zeigen die bisherigen Koalitionsverhandlungen, für die Otto Schily, wieder als Bundesinnenminister desig niert, prompt einen Katalog von Grausamkeiten vorgelegt hat: Er plant weitere Gesetzesverschärfungen, darunter die Wiedereinführung der vor knapp drei Jahren ausgelaufenen Kronzeugenregelung. Und sie wird wieder eingeführt, modifiziert als "allgemeine Strafmilderungsregelung" zugunsten von Beschuldigten, die für das Gericht "nachweisbar zur Aufklärung oder Verhinderung schwerer Straftaten" beitragen. "Kronzeugenregelung light", schreibt die taz. Außerdem soll die Möglichkeit geprüft werden, weitere biometrische Daten, etwa Finger- oder Handabdruck oder Gesichtsgeometrie, in Ausweise aufzunehmen. In der Mitte der Legislaturperiode sollen die "Sicherheitsgesetze" auf ihre Effizienz überprüft werden - wohl nicht auf ihre Bürgerrechtsverträglichkeit. Bislang sieht es so aus, als sei die Vereinbarung, endlich - im zweiten Anlauf - ein Informationsfreiheitsgesetz mit weitreichenden Auskunfts- und Akteneinsichtsrechten zustande zu bringen, der einzige wirkliche Erfolg der Grünen.
Daß so wenig zu erwarten ist, hängt auch damit zusammen, daß sich die Oberrealos der Grünen angesichts des unerwarteten Wahlerfolgs in ihrer bisherigen Realpolitik bestärkt sehen - während der nahezu letzte Parteilinke Christian Ströbele weiterhin den Außenseiter und "Störenfried" geben wird, zu dem er im Laufe grüner Anpassungsleistung gemacht worden ist. Auf ihn wird sich viel Hoffnung von links konzentrieren, nachdem die PDS als Oppositionskraft auf Bundesebene die Möglichkeiten einer Parlamentsfraktion verloren hat. Für Bürgerrechtsgruppen und Datenschutz-Initiativen, für Globalisierungskritiker und antimilitaristische Kräfte dürfte es in Zukunft schwerer werden, ihren Anliegen im Parlament Gehör zu verschaffen. Es bleibt also nur wenig Hoffnung auf Besserung. Gewiß wäre im neugewählten Bundestag jede andere Regierungskonstellation auch nicht besser - in diesem Politikfeld wohl noch grausamer. Aber vielleicht sähe sie sich einer stärkeren parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition ausgesetzt - einer kraftvollen linken Opposition, die man dieser rot-grünen Regierung nur wünschen kann.

erschienen in Ossietzky 21/02