Linke Bewegungen waren in der bald 60jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland schon immer staatlichen Repressionen ausgesetzt.
Aber für das, was vor einem Jahr beim G8-Gipfel in Heiligendamm an Polizei und Militär aufgeboten war, um gegen Demonstranten vorzugehen, gab es kaum Beispiele. Nie zuvor hatten Polizei und Militär in einem solchen Ausmaß zusammengewirkt. Heiligendamm gab eine Vorstellung von dem Staat, zu dem Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Kriegsminister Franz Josef Jung - beide versessen darauf, die Bundeswehr im Innern einzusetzen - die Bundesrepublik Deutschland umbauen wollen: einem Staat, der in einer ganzen Region die Grundrechte außer Kraft setzt, Demonstrantinnen und Demonstranten in Käfigen wegsperrt, linke Protestbewegungen als Terroristen diffamiert und das Militär auf sie losläßt.
Die Soldaten würden kaum in Erscheinung treten, nur ein bißchen Amtshilfe leisten, hatte die Bundesregierung vorher auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag geantwortet. Das erwies sich als eine offensichtliche Lüge. Nachher, als die Linksfraktion mit weiteren Kleinen Anfragen und mit Initiativen im Verteidigungs- und im Innenausschuß versuchte, das ganze Ausmaß des Militäreinsatzes ans Licht zu bringen, mauerte die Bundesregierung. Dennoch hat sich inzwischen als Ergebnis der Recherchen ein immer deutlicheres Bild ergeben (im Einzelnen nachlesbar auf www.ulla-jelpke.de):
Die Bundeswehr war in sämtliche Planungs- und Lagestäbe einbezogen. Dazu gehörte vor allem die "Besondere Aufbauorganisation Kavala" der Polizeidirektion Rostock mit den drei Abteilungen Allgemeiner Stab, Seesicherheit und Luftsicherheit. Dazu gehörten ferner regionale Katastrophenschutzstäbe, der Krisenstab beim Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern, die Wasserschutzpolizei sowie eine Gemeinsame Flugeinsatzzentrale von Bundeswehr und Polizei. Die Zahl der eingesetzten Soldaten wurde offiziell mit elfhundert angegeben. Tatsächlich waren aber mehr als doppelt so viele im Einsatz. Es kamen nämlich noch 1.350 Soldaten für Sicherungsaufgaben hinzu: für die Bewachung militärischer Liegenschaften, für Patrouillenfahrten mehrer Hundertschaften Feldjäger in der ganzen Region und beispielsweise auch für die Besetzung des Krankenhauses in Bad Doberan.
Mit Amtshilfe hatte das nichts mehr zu tun. Das zeigt sich schon bei einem Blick auf das Großgerät, das alle drei Teilstreitkräfte aufboten. Die Marine beteiligte sich nicht nur mit einem Hafenschlepper und sechs Booten für den Personentransport, sondern auch mit drei Minenjagdbooten und einer Fregatte, also einem ausgewachsenen Kriegsschiff, wie es auch vor der Küste des Libanon aufgefahren ist. Das Heer stellte vier Transporthubschrauber, einen Großraumrettungshubschrauber, zwei Spürpanzer "Fuchs" und zehn Spähpanzer "Fennek". Die Luftwaffe schließlich präsentierte sich mit ihren berüchtigten Aufklärungsmaschinen der Marke "Tornado", vier Kampfflugzeugen "Eurofighter" und acht "Phantom"-Jägern; außerdem wurden zwei große Transportflugzeuge "Transall" bereit gehalten, um eventuell kurzfristig Polizeihundertschaften zu transportieren.
Was die Bundesregierung Amtshilfe nannte, war in Wirklichkeit Beihilfe zur Repression. Das beweisen vor allem die Einsätze der "Tornados" und der Spähpanzer. Offizielle Grundlage dafür war ein Amtshilfeersuchen des Innenministeriums in Schwerin angeblich zur "Erkennung möglicher Erddepots" sowie zur "Erfassung von Manipulationen an wichtigen Straßenzügen im Einsatzraum". Es sollten also Waffendepots der Globalisierungskritiker ausgeforscht werden - aber das war eine vorgeschobene Aufgabe. Tatsächlich dokumentierten die "Tornado"-Besatzungen den Aufbau des großen Protest-Camps, wobei auch einzelne Personengruppen fotografiert wurden. Es blieb nicht bei zwei amtlich genehmigten Flügen am 15. Mai 2007 und eine Woche später. Fünf weitere, die nicht genehmigt waren, wurden damit begründet, daß die gelieferten Fotos nicht scharf genug seien. Eine "Tornado" überflog dann am 5. Juni 2007 das Camp Reddelich in einer Höhe von nur 381 Fuß (116 Metern), also noch unter der untersten erlaubten Höhe von 500 Fuß.
Für Aufklärungsarbeit wie im Feindesland setzte die Bundeswehr auch die Spähpanzer vom Typ "Fennek" ein. Grundlage war wieder ein Amtshilfeersuchen des Schweriner Innenministeriums zwecks "Überwachung von Räumen und Straßen". Diese Panzer, die acht Tage lang in Mecklenburg unterwegs waren, sind mit Wärmebildkameras, Laserentfernungsmessern und anderen Überwachungsgeräten ausgestattet, so daß sie "Ziele bis zu einer Entfernung von zehn Kilometern" erkennen und bis auf zwei Kilometer Entfernung identifizieren können. Solche Panzer, nach Herstellerangaben für die "Beobachtung von gegnerischen Truppenbewegungen" unverzichtbar, dienten rund um Heiligendamm zur Ausspähung von Demonstranten.
Da der Bundeswehreinsatz weit über erlaubte Amtshilfe hinausging, war er aus Sicht der Linkspartei verfassungswidrig. Schon die Beobachtung von Demonstranten - soweit es dafür überhaupt einen Grund gibt - zählt zu polizeilichen Aufgaben, wofür die Bundeswehr nicht zuständig ist. Mit ihren technischen Möglichkeiten erstellte die Bundeswehr für die Polizei ein Lagebild; auch das war vom Grundgesetz nicht gedeckt. Zudem diente der Einsatz von zeitweise über 600, mit Pistolen und Maschinengewehren schwer bewaffneten Feldjägern offenkundig der Einschüchterung von Demonstranten - unvereinbar mit dem im Grundgesetz verbürgten Demonstrationsrecht.
Die Linksfraktion hat im Bundestag unabhängig von ohnehin laufenden Gerichtsverfahren die Geschehnisse mit einer Serie von Kleinen Anfragen aufgearbeitet und darüber hinaus grundsätzlich die "Amtshilfe" thematisiert. Als Ergebnis zeigte sich ein rasantes Anwachsen militärischer Amtshilfe. In den 1990er Jahren fand etwa einmal jährlich ein solcher Einsatz statt, und zwar regelmäßig unter dem Stichwort "Unterstützung Castor", also bei Demonstrationen gegen Atommülltransporte nach Gorleben. Beginnend mit dem Februar 2005, als US-Präsident George W. Bush in Mainz war, leistete die Bundeswehr laufend "Amtshilfe" bei Staatsbesuchen und Großereignissen wie dem Weltjugendtag in Köln, der Fußball-Weltmeisterschaft, Auftritten des Papstes. Im Durchschnitt sind es jetzt zehn Einsätze jährlich. Eine ähnliche Tendenz ist bei Unterstützungsleistungen der Bundeswehr für Private zu beobachten. Bei der privat veranstalteten Münchner Sicherheitskonferenz waren vor zehn Jahren 120 Bundeswehrangehörige tätig, mittlerweile sind es mehr als 400. Daran zeigt sich der klare politische Wille, die Bundeswehr Schritt für Schritt im Inland zu etablieren. Vor Schäuble hatten schon Sozialdemokraten und Grüne in ihrer Regierungszeit diese Entwicklung eingeleitet, und die Öffentlichkeit gewöhnt sich nach und nach daran. So wird der Boden für eine Grundgesetzänderung geschaffen, die noch mehr und noch repressivere Militärgewalt im Inneren erlauben würde.
Dennoch muß im Rückblick auf Heiligendamm die positive Erfahrung festgehalten werden, daß auch der vereinte Apparat von Bundeswehr, Polizei und Geheimdiensten nicht allmächtig ist. Die Zehntausende von Menschen, die sich vor einem Jahr trotz Verbots, trotz "Tornados", Panzern, Feldjägern, Spitzeln, Provokateuren und 18.000 Polizisten ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zurückgeholt haben, sind eine starke Ermutigung: Widerstand ist machbar! Diese Erfahrung hilft, das zu tun, was immer notwendiger wird: der weltweiten Kriegs- und Verelendungspolitik der G8-Staaten entgegenzutreten.