Seit März läuft vor dem Landgericht Dessau der Prozeß gegen zwei Polizeibeamte, denen die Staatsanwaltschaft vorwirft, für den grausamen Verbrennungstod des schwarzen
Asylbewerbers Oury Jalloh verantwortlich zu sein. Der Bürgerkriegsflüchtling aus Sierra Leone war Anfang 2005 in betrunkenem Zustand in Polizeigewahrsam geraten. Die Polizisten fesselten ihn an Händen und Füßen, weil er angeblich Widerstand leistete, fixierten ihn auf einer schwer entflammbaren Matratze in der Arrestzelle und ließen ihn allein zurück. In der rundherum gekachelten Sicherheitszelle verbrannte er bei lebendigem Leib. Auf Rufe und andere Geräusche, die über eine Gegensprechanlage vernehmbar waren, habe der Hauptangeklagte Andreas S. nicht rechtzeitig reagiert, so die Anklage, und er habe auch Alarmzeichen des Brandmelders ignoriert.
Am zehnten Prozeßtag platzt dem Vorsitzenden Richter Manfred Steinhoff der Kragen. Es ist mucksmäuschenstill im Gerichtssaal, als er die Aussagen einiger Polizeizeugen wegen eklatanter Widersprüche und auffälliger Erinnerungslücken zerpflückt. Zumindest einer von ihnen, so Steinhoff, müsse bewußt falsch ausgesagt haben, um den Hauptangeklagten Andreas S. zu schützen. Ungehalten wirft er diesem vor, zu wissen, welcher der Zeugen falsch aussagte. "Nennen Sie uns den, der hier die Unwahrheit sagt. Sie sind Beamter des Landes Sachsen-Anhalt und wir leben hier in keiner Bananenrepublik - es geht für Sie um Kopf und Kragen", poltert der Richter, der sich angesichts des bisherigen Zeugenverhaltens selbst als "sehr frustriert und erschüttert" bezeichnet. Ein demokratischer Rechtsstaat könne nicht damit leben, daß Polizeibeamte vor Gericht die Unwahrheit sagen. "Ich werde den Prozeß in Grund und Boden verhandeln", droht Steinhoff, "ich werde notfalls jeden Zeugen zehnmal vorladen. Irgendwann fällt jemand um."
Die richterliche Standpauke zeigt Wirkung. Als erster wird der Polizeibeamte Gerhardt M. zum zweiten Mal vernommen. Auf die Frage des Richters, ob er heute alles erzählen wolle, "egal was passiert", antwortet der Zeuge, der sich seit dem Vorfall in psychiatrischer Behandlung befindet, mit "ja". Und tatsächlich ringt er sich durch, seine frühere Aussage wesentlich zu erweitern und zu präzisieren. Bei seiner ersten Vernehmung, so entschuldigt er sich, habe er unter Medikamenteneinfluß gestanden. Die erneute Vernehmung dreht sich um die letzte Phase des Verbrennungstodes von Oury Jalloh. Aufhorchen läßt seine erstmals gemachte Aussage, daß er nach Öffnen der Gewahrsamstür durch den Angeklagten - trotz des schwarzen Qualms - zwei Schritte in die Zelle gemacht habe und den auf der brennenden Matratze festgeschnallten Körper von Oury Jalloh gesehen habe. Er habe keinen Feuerlöscher gefunden und deshalb mit Wolldecken versucht, die Matratze zu löschen, was ihm aber nicht gelungen sei. Und er sagt mit großem Bedauern: "Das einzige, was geholfen hätte, die einzige Rettung wäre gewesen, Jalloh sofort loszumachen." Er meint damit, den auf der Matratze Festgeschnallten von seinen Hand- und Fußfesseln zu befreien - aber er habe keine Schlüssel dabei gehabt und ihm deshalb nicht mehr helfen können. Die Schlüssel hatte der Hauptangeklagte Andreas S., der aber immer bestritten hat, daß man nach Öffnen der Zellentür angesichts der Qualmentwicklung den Gewahrsamsraum betreten, geschweige denn, darin Löschungs- und Rettungsversuche unternehmen konnte. Auf Nachfrage des Oberstaatsanwalts sagt der Zeuge, er fühle sich nach dieser Aussage "besser, teilweise erleichtert". Er wird vereidigt, so daß seine Aussage für das Verfahren besonderes Gewicht erhält.
Dieser Polizeibeamte ist nicht der einzige, der nach dem Vorfall psychische Probleme bekam, sich deswegen in Behandlung begeben mußte und seine Aussage veränderte. Auch die Hauptbelastungszeugin der Anklage, die Polizeibeamtin Beate H., stand offenbar unter gewaltigem Druck: Die einstige "rechte Hand" des Hauptangeklagten, hatte unmittelbar nach dem Todesfall ihren Vorgesetzten schwer belastet: Andreas S. habe die Gegensprechanlage wegen der starken Geräusche aus der Gewahrsamszelle leise gestellt, habe den Brandalarm zweimal weggedrückt und erst auf ihre Intervention sich bequemt, die Zelle aufzusuchen.
Während ihrer gerichtlichen Vernehmung ist sie von dieser belastenden Aussage deutlich abgerückt: Jetzt soll plötzlich alles zügig verlaufen sein. Was ist passiert? Wurde Beate H. unter Druck gesetzt oder fühlte sich zumindest so? Schließlich war sie nach ihrer ersten Aussage von der Revierleitung aus angeblicher Fürsorgepflicht gegen ihren Willen versetzt worden - eine Zwangsversetzung, die sie nach eigener Aussage als Bestrafung empfand. Es könnte also sein, daß diese Zeugin dem internen Druck nicht standhielt und deshalb vor Gericht ihre erste Aussage, unter mehrfachen Tränenausbrüchen, revidiert hat. Gegen sie wurde ein Strafermittlungsverfahren eingeleitet: wegen Falschaussage.
Inzwischen sind "Hausmitteilungen" des Polizeireviers Dessau aufgetaucht, in denen die Revierleitung unmittelbar nach dem Vorfall den Geschehensablauf vorschnell und einseitig darstellte - basierend allein auf der Version des Hauptbeschuldigten, ohne die Darstellung der Hauptbelastungszeugin auch nur zu erwähnen. Es liegt der Verdacht nahe, daß damit eine Version vorgegeben wurde, die von allen Beteiligten und Zeugen als verbindlich angesehen werden sollte.
Die Anwälte der Nebenklage, die unter anderem die Mutter des Opfers vertreten, sprechen vom Versuch "massiver Manipulation" von Zeugen. Und es ist nicht der einzige: Während des laufenden Prozesses hat im Polizeirevier ein Zeugeninformationstreffen stattgefunden, in dem über Verhaltensregeln und etwaige Falschaussagen einzelner Polizeibeamter gesprochen wurde. Anwesend waren Polizisten, die bereits vor Gericht ausgesagt hatten, und solche, denen die Vernehmung noch bevorstand. Es ist mehr als anrüchig, Polizeibeamte, die ja insoweit generell geschult sind, ausgerechnet anläßlich eines solchen Prozesses und während der laufenden Vernehmungen speziell hierauf vorzubereiten - weshalb wohl auch etliche der Zeugen gerade bei diesem Thema vor Gericht regelrecht mauern.
Richter Steinhoff hörte man schon laut und vernehmlich stöhnen: "Dieses Verfahren strotzt nur so vor Schlamperei und Versäumnissen." Nachdem es zu Beginn des Prozesses so aussah, daß dieser in kurzer Zeit und relativ oberflächlich über die Gerichtsbühne laufen würde, geben sich Gericht und Staatsanwaltschaft jetzt offensichtlich Mühe, den Verbrennungstod im Polizeigewahrsam aufzuklären - wobei die Vertreter der Nebenklage mit ihren Interventionen und beharrlichen Nachfragen eine zentrale Rolle spielen.
Rolf Gössner beobachtet den Prozeß in doppelter Funktion: als Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte sowie im Auftrag der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl.