Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und die nachfolgende Transformation der ostdeutschen Gesellschaft, ihre Integration und Subordination in die Bundesrepublik, betraf auch die Wissenschaft. Dies hatte insbesondere für die Gesellschaftswissenschaften in der DDR einschneidende Folgen. Diese lassen sich für die Institutionen mit den Begriffen Abwicklung, Schließung, Auflösung, Auslöschung und Umstrukturierung beschreiben. Für die einzelnen Personen aber ging es dabei um Kündigung und Entlassung, sozialen Abstieg, Zwangsverrentung und berufliche wie soziale Ausgrenzung, letztlich um den Ausschluss aus der scientific community. Eine Evaluation der persönlichen Qualifikation und Eignung fand nur selten statt. In der Regel entschieden der Beruf oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Institution über das weitere Schicksal. Tausende Historiker, Philosophen, Wirtschafts-, Rechts-, Sozial- und Erziehungswissenschaftler waren davon betroffen. Die meisten resignierten daraufhin, wechselten den Beruf, arbeiteten fortan in prekären Beschäftigungsverhältnissen und subalternen Positionen, wurden dauerarbeitslos oder gingen vorzeitig in den Ruhestand. Aber nicht alle!
Einige Wissenschaftler, die im Zuge des Umbruchs und Elitenaustauschs aus ihren akademischen Beschäftigungsverhältnissen herausgedrängt worden waren, fanden sich damit nicht ab. Sie verfolgten stattdessen eine „quasi-institutionalisierende Gegenstrategie“, indem sie privatrechtliche Vereine gründeten und unter deren Dach „ein reges Veranstaltungs- und Publikationswesen“ (Peer Pasternack) entfalteten, das teilweise bis heute funktioniert. In der Literatur hat sich hierfür der Terminus „Zweite Wissenschaftskultur“ eingebürgert.
Dieser Begriff ist absolut zutreffend, denn es geht hier in der Tat um eine andere Kultur als die, die in den Geistes-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Bundesrepublik den Mainstream bestimmt. Und es handelt sich dabei zugleich um eine nachgeordnete Organisationsstruktur, da die Vereine im Unterschied zu den Institutionen der „Ersten Wissenschaftskultur“, den staatlichen Akademien, Universitäten, Hochschulen und Forschungsinstituten, weder vom Bund noch von den Ländern oder Kommunen und auch nicht von Parteien, Wirtschaftsverbänden, Kirchen oder anderen Einrichtungen nennenswert unterstützt und finanziert werden.
Es handelt sich hierbei zudem um ein „genuines Ost-Spezifikum der Forschungslandschaft in den östlichen Bundesländern“ (Institut für Hochschulforschung), dessen Existenz in der transformationsbedingten Neuordnung der Wissenschaft in den 1990er Jahren wurzelt und dessen Zweck darin besteht, den seinerzeit aus den akademischen Strukturen herausgedrängten und marginalisierten Wissenschaftlern ersatzweise eine „Heimstatt“ zu bieten. In einem Sonderband der Zeitschrift die Hochschule von 2007 sind allein für Ost-Berlin 30 solcher Vereine aufgeführt. Einige davon haben inzwischen ihre Arbeit eingestellt, die meisten aber sind immer noch aktiv. Die „zweifelsohne wissenschaftlich bedeutendste und produktivste Gründung“ (Hansgünter Meyer) in diesem Rahmen ist die 1993 aus der Gelehrtensozietät der Akademie der Wissenschaften der DDR hervorgegangene und in der Tradition der im Jahre 1700 von Gottfried Wilhelm Leibniz gegründeten Brandenburgischen Sozietät stehende „Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V.“. Sie ist faktisch das institutionelle „Flaggschiff“ der Zweiten Wissenschaftskultur. Im Unterschied zu anderen Vereinigungen hat die Sozietät die letzten drei Jahrzehnte nicht nur überlebt, sondern steht sie heute sogar besser da als in den Anfangsjahren. Die Gründe dafür sind in ihrer Verfassung und Struktur zu suchen. So gehören ihr nicht nur Geistes-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler an, sondern mehrheitlich Natur- und Technikwissenschaftler.
Diese waren nach 1990 zwar ebenfalls von Abwicklungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen betroffen, aber nicht in gleichem Maße und weniger rigoros als ihre Kollegen in den Gesellschaftswissenschaften. Außerdem genießen sie in der bundesdeutschen und internationalen Wissenschaftsszene, verglichen mit den Historikern, Philosophen, Juristen, Ökonomen und Pädagogen, eine höhere Reputation. Zudem ist in der Leibniz-Sozietät eine Reihe hoch angesehener Wissenschaftlerpersönlichkeiten vertreten, deren Wort und Ansehen auch in der Ersten Wissenschaftskultur etwas gilt. Zu nennen wären hier zum Beispiel der Nephrologe Horst Klinkmann, der Rechtsphilosoph Hermann Klenner und der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber. Ein weiterer Grund ist in der jährlichen Zuwahl neuer Mitglieder auszumachen, wobei sich diese nicht auf ostdeutsche Wissenschaftler beschränkt. Dadurch reproduziert sich die Mitgliederschaft der Sozietät ständig und wächst sie allmählich aus ihrer DDR-Herkunft heraus. Mit der Zuwahl neuer Mitglieder wandelt sich der Charakter der Sozietät, indem ihre Bestimmung als Ersatzinstitution für abgewickelte DDR-Akademiker allmählich an Bedeutung verliert und sie sich zunehmend als eine eigenständige Institution in der Forschungslandschaft der Bundesrepublik behauptet. Gleichwohl bleibt sie, wie andere Vereine auch, eine Institution der „Zweiten Wissenschaftskultur“ und vermag daher mit den Staatsakademien, Universitäten und Forschungsinstituten nicht zu konkurrieren.
Fokussiert man den Blick auf die Geistes-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, so zeigt sich dies besonders eindringlich. Trotz beachtlicher Forschungsleistungen rangieren die entsprechenden Publikationen unter ferner liefen, gelten sie größtenteils im Mainstream als nicht zitierbar und werden sie von den wissenschaftlichen Bibliotheken kaum geführt. In der Regel zählen sie nur als „graue Literatur“. Als Beispiel dafür sei die Reihe „Hefte zur ddr-geschichte“, die vom Verein „Helle Panke“ herausgegeben wird, genannt. Sie umfasst mittlerweile 155 Ausgaben, darunter sehr informative Materialsammlungen und lesenswerte Argumentationen. In den Buchhandlungen und Bibliotheken aber sucht man sie vergeblich. Ähnliches gilt für die „Abhandlungen der Leibniz-Sozietät“, deren Bestand inzwischen 76 Bände umfasst, die wissenschaftlich Wertvolles enthalten, deren Auflage aber unter dem ökonomisch Vertretbaren liegt. Im westdeutsch dominierten Wissenschaftsdiskurs spielen sie daher kaum eine Rolle. Auch die Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen der Vereine werden, obwohl öffentlich, von dem breiteren Publikum und vom etablierten Wissenschaftsbetrieb kaum zur Kenntnis genommen.
Das Hauptproblem der „Zweiten Wissenschaftskultur“ besteht in der unzulänglichen Anerkennung der Aktivitäten und Arbeiten ihrer Vereine, Verlage, Autoren und Publikationen als originäre Wissenschaftsleistungen, wovon die öffentliche Wahrnehmung und Förderfähigkeit aber abhängen. Daraus folgen dann weitere Probleme wie die chronische Unterfinanzierung und die Tatsache, dass (fast) alle Arbeiten, wissenschaftliche wie technisch-organisatorische, ehrenamtlich geleistet werden müssen, dass es an technischer Infrastruktur fehlt und ebenso an geeigneten Räumlichkeiten und Mitteln für Personal. Diese Probleme aber sind keineswegs wirklich neu. Alternative Vereine, Organisationen, die nicht zum Mainstream gehören, kleine Verlage, Geschäfte und No-Budget-Projekte sowie zahlreiche Institutionen der „Gegenkultur“ im Westen Deutschlands kennen sie längst und wissen damit umzugehen. Es empfiehlt sich, stärker als bisher mit ihnen zu kooperieren und dabei Synergieeffekte zu nutzen. Dies nicht zuletzt, um zu sichern, dass sich die „Zweite Wissenschaftskultur“ im Osten weiterentwickelt, den veränderten Bedingungen anpasst und somit in der Gesellschaft als Bereicherung der Bildung, Forschung und des wissenschaftlichen Disputs erhalten bleibt und nicht etwa künftig von der Landkarte verschwindet.