Chinesische Gegenwartskunst

Zwischen westlicher Kunst und eigenkultureller Reflexion

Der Beitrag von Yan Xu-Lackner versucht einige Aspekte chinesischer im Zusammenprall mit westlicher Gegenwartskunst und eigenkultureller Reflexion zu beleuchten. Der Einstieg in die frühe Phase soll zum einen die Entwicklung und die offizielle Wahrnehmung der Gegenwartskunst - anfangs oft durch Misstrauen und gar Ablehnung gekennzeichnet - verdeutlichen, und zum anderen diesen schwierigen Prozess der Duldung bis hin zur Förderung begreiflich machen. Beispielhaft wird der Weg zur internationalen Kunstszene und die Rückbesinnung auf die eigene Kulturtradition exemplarisch dargelegt.

Die chinesische Gegenwartskunst beginnt mit der ab 1978 einsetzenden Reform- und Öffnungspolitik und hat seither eine rasante Entwicklung erlebt. Gao Minglu zufolge, Veteran der Kunstszene und einer der bedeutenden Kunsthistoriker Chinas, geht die chinesische Gegenwartskunst "von der Reflexion über eigene Geschichte aus und stellt die reale Reaktion auf den Zusammenprall mit der westlichen Gegenwartskunst und deren Einfluss dar"1. Auch dem vorliegenden Beitrag liegt diese interkulturelle Herangehensweise zugrunde, die zentral für das Verständnis chinesischer Gegenwartskunst ist, wobei auf eine ausführliche historische Darstellung verzichtet werden muss.

Die "Stern"-Gruppe

Mit seinem Tod 1976 hinterlässt Mao das riesige Land als ein einziges kulturelles Vakuum; gleichzeitig tun sich neue Chancen auf, die zur explosiven und atemberaubenden Entwicklung Chinas führen werden. Zu diesem Zeitpunkt waren die Hochschulen und die Kunstakademien noch geschlossen. Jedoch hatten sich Autodidakt*innen als Künstlergruppen zusammengetan; daher bezeichnet Gao Minglu diese Phase auch als "Autodidakten-Avantgarde"2. Unter den zahlreichen Künstlergruppen haben sich zwei hervorgetan: Die eine Gruppe war die sogenannte "No name-Gruppe", deren Ziel L’art pour l’art war. Sie geht auf die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück und war auch noch während der Kulturrevolution aktiv. Das im Grunde apolitische Unterfangen, in die Natur zu gehen, um sie zu skizzieren, kennzeichnet diese Kunstschaffenden. Die andere Gruppe, die tiefe Spuren hinterlassen wird, ist die "Stern-Gruppe", die für die Beeinflussung der Politik durch Kunst sowie für die Freiheit der Kunst plädierte. Allein diese Selbstbezeichnung an sich war bereits Programm: jeder Künstler ist ein Stern; bedenken wir, dass Mao über Jahrzehnte hinweg den einzigen Leuchtkörper darstellen durfte.

Allerdings ist die Kunstrevolution nicht als ein isoliertes Phänomen zu betrachten: Die sog. Hermetische Lyrik und die "Stern-Gruppe" hatten z.B. eine oszillierende Wirkung aufeinander. Das politische Gespür und der rebellische Geist waren prägend für die "Stern-Gruppe"; was das künstlerische Schaffen betrifft, ist stark der Einsatz des Fremden für den eigenen Gebrauch zu beobachten. Die westliche Kunstformsprache, insbesondere die Abstraktion und der Expressionismus waren für sie ein gängiges Mittel. Die "Stern-Gruppe" sowie deren erste Ausstellung 1979, die im Freien stattfand und zunächst verboten wurde, ferner die zweite Ausstellung 1980 im National Art Museum of China (NAMoC) können als Generalinitiator betrachtet werden, die für die chinesische Gegenwartskunst eine weitreichende Wirkung hatte. Oft wird die "Stern-Gruppe" als ein politisches Ereignis wegen der engen Verbindung zur "Mauer der Demokratie" bezeichnet, jedoch geht es hier auch sehr stark um den persönlichen Ausdruck jedes einzelnen Künstlers.

Auch wenn bei den beiden Ausstellungen der "Stern-Gruppe" ein nie dagewesenes Gedrängel vorherrschte, ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass die Chinesinnen und Chinesen in dieser Phase im Allgemeinen nichts von der Gegenwartskunst wussten. Die Rezeption westlicher Gegenwartskunst fand in einem sehr begrenzten Kreis, oft auch nur rudimentär statt. Die Avantgarde-Künstler*innen wussten wiederum mehr von der Kunstgeschichte des Westens als von der chinesischen Kunsttradition. Eigentlich wollten sie auch nichts von der chinesischen Kunsttradition wissen, denn es galt die Befreiung von allen akademischen Bürden einschließlich der chinesischen Tradition.

Zwischen Schattendasein und offizieller Duldung

Der Beitrag des NAMoC mit dem höchsten Rang unter allen chinesischen Kunst-Museen in dieser frühen Phase zur Gegenwartskunst war insofern historisch, als die "Stern-Gruppe" im Jahr 1980 dort ihre Werke ausstellen durfte. Auf die "Stern-Gruppe" folgten in verschiedenen Städten Chinas etliche Künstlergruppen und eine Kunstrevolution im buchstäblichen Sinne brach aus, die als "Neue Welle" oder auch als "85er Bewegung" bezeichnet wurde. Die Kunstwelt Chinas hatte sich radikal geändert: Seit Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bestanden die Avantgarde-Kunst, die "Kunst der Arbeiter, Bauern und Soldaten" des Sozialistischen Realismus sowie die traditionelle chinesische Malerei nebeneinander, wobei die Avantgarde-Kunst die treibende Kraft darstellte. Zwischen 1985 und 1986 etablierten sich insgesamt 79 Avantgarde-Künstlergruppen; ein Jahr später erreichte ihre Anzahl beinahe 100.3 Anders als vorher waren diese Gruppen nicht lediglich auf Großstädte konzentriert, sondern verteilten sich landesweit. Das Tempo der Entwicklung und die Anzahl sind einmalig. Jedoch gab es große regionale Unterschiede im Interesse und in der Thematik. Die Etablierung neuer Kunstzeitschriften begleitet diese Zeit, landesweite Diskussionen über Kunst und Kultur sowie chinesische und westliche Kunst wurden angefacht. Gao Minglu, der den Begriff "85er Bewegung" etabliert hat, betrachtet die Phase von der Mitte der 80er Jahre bis 1989 als Wendepunkt der "postkulturrevolutionären" Kunst zur Gegenwartskunst.4

Im Mai 1985 wurden beinahe 600 Werke anlässlich des internationalen Jahres der Jugend im NAMoC ausgestellt, die aus einem landesweiten Wettbewerb junger Künstler resultierten. Die "Ausstellung der jungen Künstler in Bewegung" kennzeichnet den Beginn der einflussreichen 85er-Bewegung und legte die Experimentierfreude junger Künstler*innen an den Tag, alle Formsprachen der westlichen Moderne der vergangenen 100 Jahre einzusetzen. Liu Yandong, die damals als Präsidentin der Vereinigung aller chinesischer Jugendorganisationen fungierte, veröffentlichte ein Grußwort in der People´s Daily am 17.05.1985, das die Haltung der Regierung deutlich machte: "Wir sind überaus glücklich über diese vielfältigen Werke aus der Feder junger Künstler. […] Darin sehen wir die Zukunft und Hoffnung der chinesischen Kunstwelt"5. Diese "Neue Welle" ist aus westlicher Perspektive kunstgeschichtlich gesehen nicht neu, nur hatte es in China zuvor eine solche Kunstform nicht gegeben.

Nach dreijähriger mühsamer Überzeugungsarbeit konnten beim NAMoC 1989 zum ersten Mal die Arbeiten der Avantgarde-Kunst ausgestellt werden. Für die "China-Avantgarde" mit externen Kuratoren wählte der Designer Yang Zhilin aus Nanjing das Verkehrszeichen "Umkehr verboten": "Alles Neue, Avantgardistische deutet auf die Zwanghaftigkeit, die aus einer starken Emotion abzuleiten ist. Dies ist die Quelle des Symbols für ›Verbot‹."6 Die Performance Art wie etwa der Krabbenverkauf von Wu Shan oder die Fußwaschung von Li Shan waren für das Publikum sehr fremd und irritierend. Es traten auch Künstler*innen mit ihrer Aktionskunst ohne vorherige Anmeldung auf. Die Installation "Dialog" mit den dazugehörigen Pistolenschüssen und Drohbriefen führten schließlich dazu, dass die Ausstellung zweimal hintereinander geschlossen wurde. Für Gao Minglu war die China-Avantgarde nicht nur eine Plattform für die 186 Künstler*innen mit 297 Werken, sondern gleichzeitig auch eine "Gesellschaftsplattform, auf der nicht nur die Avantgarde-Künstler hurtig auftraten, sondern die Protagonisten in allen Gebieten ebenfalls dahin eilten, um die Stimme der Zeit zu artikulieren"7 Die Ausstellung endete mit Geldstrafen und einem Verbot, und die Avantgarde-Kunst erfuhr Einschränkungen und führte in der Folge ein Dasein im Untergrund.

Jedoch hatte der Westen in den 90er Jahren nun die nach Freiheit und Individualismus rufende Avantgarde-Kunst entdeckt. Die Werke gelangten in internationale Ausstellungen und Kenner wie Ulig Sigg begannen mit einer systematischen Sammlung. Ein erstes Beispiel in Deutschland, und sogar in Europa, war China Avantgarde im Haus der Kulturen der Welt zu Berlin 1993, die von Hans van Dijk, Jochen Noth und Andreas Schmid kuratiert wurde. Nach fast 30 Jahren würdigt Michael Kahn-Ackermann, früherer Leiter des Goethe-Instituts in Peking, diese Ausstellung immer noch als "Pionierarbeit für die internationale Beachtung und Anerkennung zeitgenössischer chinesischer Kunst"8. Der Begleitkatalog stellte nicht nur die Künstler*innen und die Werke vor, sondern enthielt auch einen Querschnitt an Texten, die den gesamten Background und Zeitgeist darlegen; somit ist hier die Gegenwartskunst in einen gesamten Kontext eingebettet worden.9 Die bunten Mao-Figuren von Yu Youhan, gern als chinesische Pop Art bezeichnet, Yan Peimings Mao-Kopf oder Wang Guangyis10 Kombination der Elemente aus Plakaten der Kulturrevolution mit Marlboro oder Kodak sind Versuche, sich anhand von westlichen Formen mit chinesischen Problemen wie etwa dem "Idol" auseinanderzusetzen. Die Gegenwartskunst aus China erlebte in internationalen Messen und Ausstellungen eine Dekontextualierung und gleichzeitig aber eine Rekontextualisierung, oder, anders gesagt, eine Migration. "Around the same time, contemporary Chinese art became a global commodity, promoted by transnational commercial galleries and collected by foreign collectors and museums. Direct ties between Chinese artists and Western art institutions were then forged both inside and outside China, as international curators flocked to the country to search for new talents, and as Chinese artists increasingly participated in international exhibitions and workshops; some of them moved abroad for good."11 Dieser Erfolg auf dem internationalen Kunstmarkt leitete in China ein Umdenken ein. Auf die seit 1996 etablierte Shanghai-Biennale als einem Ausdruck für die offizielle Akzeptanz wird später einzugehen sein. Auch die Ausschließung der Gegenwartskunst aus öffentlichen Kunstmuseen lockerte sich seitdem ebenfalls.

Zurück zur eigenen Tradition

Wenn in den ersten zwanzig Jahren nach der Öffnung Chinas Pop Art dominierend war und beinahe alle experimentellen Künstler*innen sich nur den westlichen Trends, Konzepten und Techniken widmeten, entstand ein Umdenken gegen Ende der 90er Jahre, die Tradition neu zu entdecken und zu integrieren. Zum einen hatte dieses Umdenken mit dem "Cultural turn" in China allgemein zu tun: alles wurde kulturalisiert, man sprach von "Essstäbchen-Kultur", "Kanalkultur", "Qigong-Kultur" etc. Nicht unwesentlich hat die Politik der gewollten Entpolitisierung nach 1989 dazu stark beigetragen. Zum anderen ist die Wendung in der Gegenwartskunst von Künstler*innen selbst veranlasst worden. Xu Bing ist wohl der bekannteste Künstler, der mit der Schrift experimentiert. Über seine Neuformung der Kalligraphie sagt er: "Der Aufenthalt in den USA hat meine Denkweise verändert. In jenen achtzehn Jahren durchlebte ich den kompletten Prozess der Anpassung an eine andere Kultur sowie den Moment des Widerstands. Als ich in New York ankam, wollte ich unbedingt Teil der westlichen Mainstreamkultur werden. Aber das erwies sich als ein Missverständnis, wie ihm viele chinesische Künstler zeitweilig aufsitzen. […] dass der Grund, warum mein Werk geschätzt wurde und Einfluss auf die westliche Kunst ausübte, damit zu tun hat, dass es die Kultur widerspiegelt, der ich entstamme."12

Diese Wende ist in der Ausstellung "Secret Signs" in Hamburg vom November 2014 bis Februar 2015 gut dokumentiert. Chinesische Schriftzeichen sind Inbegriff chinesischer Kultur und lange Zeit gilt Kalligraphie als die höchste Form chinesischer Kunst. Eine Popularisierung dieses Mediums trat ein, vor allem in Form der großen Zeichen-Poster. In dieser Ausstellung wurden Werke ausgestellt, in denen die Schrift als das verbindende Medium in Zeichnungen, Malerei, Installationen, Fotographien, Videos und Rauminstallationen fungiert. In der Rückbesinnung auf die eigenen kulturellen Wurzeln hat sich die chinesische Gegenwartskunst sehr facettenreich damit befasst. Der Kurator Dirk Luckow findet diesen Prozess sehr spannend, für ihn liegt das Besondere im Verzicht auf eigens für den Westen entstandene bunte Mao-Figuren oder platt regimekritische Installationen: "Sie blicken auf ihre eigene Kultur zurück. Und das markiert eine Wende in der Gegenwartskunst Chinas".13

Dekonstruktion und Konstruktion, Kommerzialisierung und Trivialisierung der Schrift sind zentrale Themen. Für die Reflexion über die lange Gelehrtentradition der Kalligraphie und die Distanzhaltung ist Qiu Zhijies Werk "Copying the Preface to the Orchid Pavillion 1000 times" ein Paradebeispiel. Die Kalligraphie von Wang Xizhis (307-365) "Vorwort zum Orchideenpavillon" galt in der Kaiserzeit als orthodox und beispielhaft. Sie zu kopieren ist auch heute noch ein Muss für jeden Chinesen, der Kalligraphie in irgendeiner Form übt. Qiu Zhijie hat fünf Jahre (1990-1995) gebraucht, um die Vorlage von Wang Xizhi auf demselben Reispapier exakt 1000 Mal zu kopieren. Diese "kalligraphische Zen-Übung"14 ist ein Festhalten an der chinesischen Tradition, ein Ausdruck der Neubewertung, überhaupt eine Auseinandersetzung damit. Doch ab wann braucht ein Künstler Mut dazu, für den internationalen Kunstmarkt fremd zu bleiben? Aber wann ist es für die Karriere fördernd, die sog. "China-Karte" zu spielen? Dafür wird es keine einheitliche, sondern nur individuelle Antworten geben.

Nicht nur die Schrift, sondern überhaupt Tinte mit Pinsel und Reispapier sind Gegenstand chinesischer Gegenwartskunst. "Experimental Ink" oder "Modern Ink" sind Versuche, die traditionelle Tuschemalerei durch starke Reduktion und Abstraktion experimentell neu zu begreifen. Auch der Aspekt der Zeit wird in die Kunstpraxis - wie wir bei Qiu Zhijie sehen - integriert. Die Rückwendung in die chinesische Tradition ist freilich nicht immer zeitlich klar abzugrenzen. Bevor Yu Youhan mit Mao Pop Art die Welt beeindruckte, hatte er schon in den 80er Jahren angefangen, Kreise zu malen: Ein philosophisches Nachdenken über Anfang und Ende, Leben und Tod, Fülle und Leere. Mit diesem Thema ging er in die 90er Jahre und beschäftigte sich damit auch weiterhin im 21. Jahrhundert.15 Daher bietet die internationale Bühne den chinesischen Künstlerinnen und Künstlern "an international language" an, "which not only confirms their own contemporaneity but also allows them to incorporate indigenous art forms, materials, and expression into contemporary art. In so doing, they can maintain their identity as Chinese artists within international contemporary art."16

Private Museen für Gegenwartskunst in China

Lange Jahre wurde die Gegenwartskunst vorwiegend außerhalb von China mithilfe westlicher Kuratoren ausgestellt und von privaten Museen und Interessenten wie Uli Sigg aus dem Westen gesammelt. Da die Gründung privater Museen in China sehr zur innerchinesischen Sammlung von Gegenwartskunst beigetragen hat, soll hier in aller Kürze darauf eingegangen werden. Das 1982 in Kraft getretene "Gesetz zum Schutz der Artefakte der Volksrepublik China" zeichnet eine Wendung von "der privaten Sammlung als temporäres Aufbewahren hin zum legalen persönlichen Eigentum aus"17. Jedoch dauerte es noch 11 Jahre, bis die ersten vier Museen 1993 gegründet werden durften. Meng Schmidt-Yin zufolge erlebte die Gründung privater Museen in China in den Jahren 1998, 2002 und 2006 jeweils drei Höhepunkte, die selbstverständlich mit der gesetzlichen Verankerung privater Interessen und den staatlichen Fördermaßnahmen eng verbunden sind.

Nicht nur die staatlichen Museen, sondern auch die privaten haben eindeutig mehr Ausstellungsfläche im Vergleich zu europäischen Häusern. Die gängige Praxis ist nicht, dass die Sammlung zeitlich vor dem Unterbringungsort steht, sondern umgekehrt. Diese "umgekehrte Entwicklung"18 hat oft zur Folge, dass der äußere Umfang des Museums wichtiger als der Inhalt zu sein scheint. Niederlassungen in anderen Städten werden gern als Beweis für den Erfolg eines Museums herangezogen.

Mitte der 90er Jahre entfaltete sich im Zuge des "Cultural turn" eine Diskussion über die "Industrialisierung der Kultur" im Sinne der Kreativwirtschaft; sogar Qian Xuesen, der "Vater des chinesischen Raumfahrtprogramms", mischte sich in diese Diskussion ein. Er schlug vor, dies Phänomen den "Fünften Sektor" zu nennen anstatt Begriffe wie "Kulturmarkt" oder "Markt der Gegenwartskunst"19 zu benutzen. Wichtig ist festzuhalten, dass der Gegenwartskunst plötzlich eine wichtige Rolle in diesem Transformationsprozess zugeschrieben wurde. Dabei ist die Gegenwartskunst durch das Konzept der sog. "Kunst-Immobilien" sogar der treibende Motor geworden.20 Das bedeutet einen besonderen Interessenverbund zwischen Kunst, Immobiliengeschäft und dem Staat/der Stadt. Der Staat verkauft zu einem günstigen Preis die Immobilien zwecks Museumseinrichtung und kann mit den erzielten Geldern wiederum Kultureinrichtungen und -programme finanzieren. Für die Immobilien ist die Kombination von Kunst und Immobilien eine Art Verkaufsstrategie geworden, wodurch das Unternehmen an Prestige gewinnt und die umgebenden Häuser und Wohnungen aufwertet. Dies hat zur Folge, dass der Museumsbau selber zum Gegenstand der Kunst geworden ist: die privaten Museen haben oft großzügige Flächen, hohe Räume, entweder durch den Umbau von Industriegebäuden oder von bekannten Architekten designt.

Die Gründung privater Museen beruht in der Regel auf der Initiative bekannter Unternehmer*innen; sie sind entweder Kunstliebhaber oder sehen in der Kunstsammlung ein Statussymbol. Das 2002 von Zhang Maoquan gegründete Today Art Museum hat sich als nichtstaatliches Museum bis heute bewährt. Der internationale Blick und die Zukunftsorientierung bilden den Kern der Mission des Museums. Zusätzlich zu den privaten Museen sind auch die kommerziellen inländischen und ausländischen Galerien entstanden. Durch die internationale Beteiligung an verschiedenen Kunstmessen und die Möglichkeit der Ausstellungen in privaten Museen und Galerien nehmen die Kunstschaffenden der Gegenwartskunst - ganz anders als die "Stern-Gruppe" - einen bedeutenden Platz in der Kultur- und Kunstszene in China wie weltweit ein. Des Weiteren trägt diese Form von "Express-Sammlung" privater Museen sehr zum Boom der Gegenwartskunst bei, denn mit dem schnellen Wachstum privater Museen ist der Bedarf an Sammlungen auch rapid gestiegen und die Gegenwartskunst scheint eine geeignete Lösung zu sein, damit eine Sammlung schnell zusammenkommt, notfalls auch durch Auftragsarbeit.

Schlussbemerkungen

Da dieser Beitrag nur auf einige Aspekte chinesischer Gegenwartskunst eingehen kann, ist es wichtig, abschließend zu betonen, dass die verschiedenen Aspekte oft eine Koexistenz geführt haben. Die Rückwendung zur eigenen Tradition setzte zwar ab Mitte der 90er Jahre bewusster ein, das heißt aber nicht, dass die Anfänge chinesischer Gegenwartskunst nicht mit eigenen kulturellen Symbolen gearbeitet hätten. Nur durch die ganz andersartige, damals für die Chinesinnen und Chinesen noch komplett fremde Formsprache wurde sie verstärkt als westlich oder identitätslos wahrgenommen - auch weil in dieser Phase die Zitate aus westlichen Werken sehr deutlich waren. Im Zuge der Wendung zur chinesischen Kultur sind chinesische Symbole ein fester Bestand geworden, teils resultierend aus der eigenen Reflexion, teils eingesetzt als Deko-Elemente, um sich und die eigenen Werke auf dem Weltmarkt unverkennbar zu machen, teils von der Ideologie des Spielens mit der "China-Karte" getragen.

Auf der anderen Seite wird die Gegenwartskunst aus China international stark politisiert. Für viele verbindet sich die Gegenwartskunst nur mit dem Namen von Ai Weiwei. Das ist nicht falsch, allerdings verblendet diese Instrumentalisierung den realen Blick auf die rege Entwicklung chinesischer Gegenwartskunst. In einer Zeit der Verhärtung der Fronten zwischen China und dem Westen ist der Kultur- und Kunstaustausch jeder Art wichtiger denn je. Jede menschliche und künstlerische Begegnung hinterlässt Spuren. Xu Bings Performance mit zwei Schweinen mit unterschiedlicher Beschriftung - das eine trägt falsche chinesische Schriftzeichen auf der Haut, das andere falsche englische Wörter, war für mich lange Zeit eine sehr kritische Auseinandersetzung mit dem sog. Interkulturellen Dialog, der seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in Mode gekommen ist; denn Begegnungen bedeuten nicht gleich Verständnis füreinander, wie die frei erfundenen Zeichen und die Wörter auf beiden Schweinen uns signalisieren: Sie sind bedeutungslos. Aber ganz so bedeutungslos sind sie doch nicht, denn in der Begegnung ändert sich vieles.

Anmerkungen

1) Gao Minglu 2021: Zhongguo dangdai yishushi (History of Chinese Contemporary Art), Shanghai: Shanghai daxue chubanshe: 2.

2) Ebd.: 57.

3) Ebd.: 77.

4) Ebd.

5) Siehe Renmin ribao (Volkszeitung), 1985-05-17 (govopendata.com).

6) Gao Minglu 2021 (s. Anm. 1): 136.

7) Ebd.: 148.

8) Siehe: http://www.deutsch-chinesisches-dialogforum.de/Statements-2022/Michael -Kahn-Ackermann/ abgerufen 11.10.2022.

9) Jochen Noth / Wolfger Pöhlmann / Kai Reschke (Hg.) 1994: Zhongguo qianwei yishu, China-Avantgarde, Oxford University Press. Der Katalog ist ebenfalls in Englisch beim selben Verlag erschienen.[/i]

10) Ebd.

11) Wu Hung 2011: Contemporary Chinese art, Thames & Hudson: 13.

12) Secret Signs - Zeitgenössische chinesische Kunst im Namen der Schrift. Snoeck Verlagsgesellschaft 2014: 33.

13) Anette Schneider 2014: "Chinesische Gegenwartskunst - Zeichen der eigenen Identität". In: Deutschlandfunkkultur.de , 6.11. 2014, https://www.deutschlandfunkkultur.de/chinesische-gegenwartskunst-zeichen-der-eigenen-identitaet-100.html, abgerufen 13. 10. 2022.

14) Secret Signs 2014 (s. Anm. 12): 166.

15) Gao Minglu 2021 (s. Anm. 1): 544-549.

16) Wu Hung 2011 (s. Anm. 11): 13.

17) Meng Schmidt-Yin 2019: Private Museen für Gegenwartskunst in China. Museumsentwicklung in der chinesischen Kultur- und Gesellschaftsformation, transcript Verlag, Bielefeld: 44-45.

18) Ebd.: 49.

19) Siehe: https://jnews.xhby.net/v3/waparticles/29/1S2enxmSOdYh3b0K/1, abgerufen 11.10.2022.

20) Meng Schmidt-Yin 2019 (s. Anm. 17): 87-91.

Dr. Yan Xu-Lackner bewegt sich als Wissenschaftlerin, Interkulturelle Trainerin und Kulturmanagerin seit mehr als 30 Jahren zwischen China und Deutschland. Im Jahre 1993 arbeitete sie an der Ausstellung "China Avantgarde" im Haus der Kulturen der Welt mit. Seit 16 Jahren leitet sie das Konfuzius-Institut Nürnberg-Erlangen, das einen unabhängigen Kunstraum seit 2018 führt.