Verrechnet

in (23.05.2022)

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zieht sich jetzt in die Länge. Wladimir Putins wahnwitziger Plan, Kiew im Sturm zu nehmen, um eine Marionettenregierung unter ukrainischem Fahnentuch einzusetzen, mit der dann alles andere einvernehmlich gelöst werde, hat sich ziemlich schnell blamiert. Putin wollte den Coup mit der Krim und den unsäglichen Volksrepubliken im Donbass, die ja außer Moskau ohne Kiews Einwilligung fast niemand anerkennen kann, auf einer viel höheren Ebene mit der ganzen Ukraine wiederholen. Nun hat er sich mit seinen waghalsigen Berechnungen verhoben, was aller Welt seit den späten Februartagen vorgeführt wird.

Zur russischen oder sowjetischen Geschichte im 20. Jahrhundert gehört, dass es am Ende auch immer diejenigen obersten Befehlsgremien trifft, die einen verloren gegangenen Waffengang befohlen hatten. So war es mit dem Afghanistankrieg, der seine Auswirkungen bis zum Untergang der Sowjetunion zeitigte. So auch mit dem Krieg gegen Japan 1904/05, dessen sich abzeichnende Niederlage den Ausbruch der gewaltigen Revolution von 1905/06 beförderte, die zwar noch einmal mit Müh und Not niedergehalten werden konnte, doch die späten und schleichenden Folgen für das Zarenhaus sind nur zu gut bekannt. Es ist also nicht schwer, nun auch Putin und dessen an Bonaparte erinnerndes System in diese Reihe zu setzen. Freilich kann sich dieser Auflösungsprozess – wie in den genannten Fällen auch – noch eine geraume Zeit hinziehen.

Einen verlässlichen Indikator dafür, wie sehr alles schiefgelaufen ist, bietet das Verhalten Alexandr Lukaschenkos. Der nicht ganz ohne Moskaus Gnaden in Minsk herrschende Präsident sollte zunächst sogar an vorderer Front mitspielen, um mitzuhelfen, die Westukraine mit militärischen Mitteln in Schach zu halten. Der gewaltige, als Manöver getarnte Aufmarsch russischer und eigener Truppen an der langen Grenze zur Ukraine zeugte davon. Wäre Kiew in den ersten Tagen gefallen, hätte Lukaschenko den Marschbefehl für seine Truppen nicht verweigert. So aber riet ihm der politische Instinkt abzuwarten. Wurden in den beiden ersten Kriegswochen noch russische Raketen aus Belarus in die Ukraine abgefeuert, so war damit schließlich Schluss. Lukaschenko suchte bereits die Lücke, um als ein ernsthafter Vermittler für beide Kriegsparteien ins Spiel zu kommen. Schließlich stieg Minsk völlig aus, denn Lukaschenkos Feststellung in Richtung Putins – und ausgerechnet zum 9. Mai –, dass der Krieg (sic!) bereits zu lange andauere, ist ja in erster Linie das öffentliche Quittieren der Putin-Sache, weil anderes fest versprochen war.

Lukaschenko hatte bereits im März 2014, was oft vergessen wird, Moskaus Vorgehen auf der Krim unmissverständlich kritisiert, denn er sprach von einem schweren politischen Fehler, allerdings ließ er anschließend auch durchblicken, dass Moskau die Welt und Kiew nun vor vollendete Tatsachen gestellt habe. Es klang am Schluss also wie bei einem Parteigänger Putins, der Lukaschenko in dieser Frage aber tatsächlich nicht war und nicht sein konnte. Der nämlich wollte den von Moskau losgetretenen Konflikt schnell auf die Krimfrage begrenzen, was also auch einschloss, dass der Kreml sich damit auf ewig begnüge. Er wusste zu gut, wie brenzlig die Situation nun auf einmal geworden war, denn Putin hatte die gesamte Herausbildung der slawischen Sowjetrepubliken nach dem Rigaer Frieden vom März 1921 infrage gestellt. Das aber betraf nun nicht mehr nur die Ukraine allein, sondern auch Belarus. Für diese Feinheiten im historischen Spiel fehlen dem Kreml-Herrscher allerdings sowohl geduldige Nachsicht wie nach vorne weisende Toleranz; er bevorzugt allein die großrussische Brechstange.

Gäbe es einen robusten Verhandlungsweg, so würde Lukaschenko jetzt alles daransetzen, den ausgebrochenen Krieg mit einem tragfähigen Friedensschluss zu beenden: die Krim zu Russland, alles andere aber gehört der Ukraine. Für Putin aber käme das dem Eingeständnis einer schweren Niederlage gleich, denn schließlich hat er ohne alle Not den Krieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen. Die hohe Opferzahl auf Seiten der russischen Angreifer, die wohl bereits jetzt die Zahl von 20.000 gefallenen Soldaten erreicht haben könnte, wäre gegenüber der Öffentlichkeit nicht mehr zu begründen. Als Kriegsbeute wäre dann immerhin das auf georgischem Gebiet liegende Südossetien vorzuweisen, das im Schatten des großen Krieges gegen die Ukraine endlich „heimgeholt“ werden will.

Putin darf, um selbst nicht zu fallen, es nicht zu dieser Niederlage kommen lassen. Also lässt er weiterkämpfen, jetzt geht es ihm allerdings nur noch um einen strategisch wichtigen Teil jenes Neurusslands, dass er von Charkiw bis Odessa in seinem politischen Wahn seit 2014 eigentlich für Russland beansprucht. Die Welt hatte damals weggesehen, hatte Putins weit über die Krim hinausgehende Forderung für eine bloße Marotte gehalten, ihm nie geglaubt, notfalls doch blutig Ernst zu machen. Insgeheim beweist Putin in diesen Tagen indes auch, wie recht Barack Obama seinerzeit hatte, als er Putins Russland mit diebischer Schadenfreude zur Regionalmacht mit Atomwaffen herabstufte. Die Frage steht tatsächlich im Raum, ob eine Weltmacht, die diesen Namen verdient, sich einen solch unsinnigen wie überflüssigen Feldzug geleistet hätte.