Kindergerecht oder kapitalgetrieben?

Krisenmanagement im Corona-Kapitalismus

Seit Beginn der Corona-Pandemie stehen Schulen und Kindereinrichtungen immer wieder im Fokus der öffentlichen Debatte: Mal wurden Schulen über längere Zeit geschlossen, mal blieben sie trotz rasant steigender Infektionszahlen offen. Mit den Konsequenzen der Pandemie und des Krisenmanagements für Kinder und Jugendliche setzt sich der Beitrag von Michael Klundt auseinander. Dabei werden Implikationen erörtert, Ursachen und Anlässe unterschieden sowie Alternativen skizziert.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO und das UN-Kinderhilfswerk UNICEF haben unlängst noch einmal deutlich hervorgehoben, dass die "katastrophalen Schulschließungen" der ersten Pandemiewellen seit 2020 zu starken Beeinträchtigungen der seelischen Gesundheit und der sozialen Entwicklung sehr vieler junger Menschen führten.1 Dass Corona und die Maßnahmen dagegen nicht auf alle Alters- und Sozialgruppen gleich wirk(t)en, scheint inzwischen zum allgemeinen Konsens zu gehören.2 Die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der jeweiligen Maßnahmen und Grundrechtsbeschränkungen muss in jedem Fall gegeben sein und der eingreifende Staat ist insoweit beweispflichtig. Gerade für Kinder und vor allem für Minderjährige in Armut bedeuteten Corona und der Lockdown enorme Einschränkungen ihrer zivilen, sozialen und kulturellen Rechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung - besonders in den Bereichen Kindeswohl, Gesundheit und Bildung.3 Sosehr diverse Auswirkungen global zu beobachten sind, gab es doch gewisse nationale Unterschiede, die sich auch aus verschiedenen Priorisierungen herleiten lassen.

Wenn ein verfassungsmäßig nicht geregeltes Gremium wie die sog. Ministerpräsident(inn)en-Konferenz mit der Bundeskanzlerin in Notverordnungsmanier ohne gesetzgeberische Befugnis und ohne ausreichende parlamentarische Integration zur mächtigsten politischen Entscheidungsinstanz der Nation mutiert und die anwesenden Berater(innen) sich nur darin unterscheiden, ob sie den Regierungskurs unterstützen oder sogar dessen Verschärfung präferieren, muss wenigstens ein gewisser Sachverstand hinsichtlich Kindeswohlvorrang-Prüfung, Kinderrechten und der sonstigen Belange von Kindern, Jugendlichen und Familien gewährleistet werden. Deshalb müsste mindestens die Familienministerin dabei sein und am besten auch Kinderärzte, Kindheitswissenschaftlerinnen, Kinderpsychologinnen, Pädagogen, Sozialarbeiterinnen, Soziologen und Erzieherinnen. Andernfalls werden das Kindeswohl sowie die Interessen und Rechte von Kindern und Jugendlichen weiterhin sträflich vernachlässigt.

Derweil unterstrich die Tatsache, dass die Bundesfamilienministerin während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 nicht im Corona-Krisen-Kabinett saß und die Tatsache, dass z.B. im Bundesland Hessen das "Corona-Kabinett" in den ersten Monaten nur aus Männern bestand, die Einseitigkeit der veröffentlichten und exekutierten Meinungen und Verordnungen im Frühjahr 2020. Es verwunderte dann auch nicht, dass z.B. Kinder- und Jugendhilfe, besonders der nicht-schulische Bereich der offenen Jugendarbeit wochen- und z.T. monatelang nicht als "systemrelevant" angesehen und behandelt wurde.

Prioritäten

Dass gesellschaftspolitische Prioritäten bezüglich Kindern und Jugendlichen bei der Pandemiebekämpfung unterschiedlich gesetzt werden können, zeigen viele Beispiele europa- und weltweit. Die deutsche Priorität etwa - Bildung blockieren, Bundesliga, Biergärten, Baumärkte öffnen und Corona-Ignoranz in der Arbeitswelt durchhalten - lässt sich - bei aller sonstiger notwendiger Kritik - mit der französischen Vorgehensweise kontrastieren. "Frankreich stellt Schulen und Kitas über alles", meldete etwa die Tageszeitung DIE WELT am 26. April 2021. Wie die Süddeutsche Zeitung einen Monat vorher unter der Überschrift: "Da kann man was lernen" berichtete, galt und gilt in Frankreich eine fast umgedrehte Priorisierung aller Maßnahmen gegen Corona. Während in Deutschland viele Schulkinder der Mittelstufe noch zu Pfingsten 2021 fast ein halbes Jahr nicht mehr in die Schule gehen durften (nicht einmal mit Wechselunterricht), blieben Kitas und Schulen in Frankreich im Winter/Frühjahr 2020/2021 weitgehend geöffnet. Stattdessen wurden Ausgangssperren (für Erwachsene) verschärft und Bars sowie Restaurants geschlossen. Masseninfektionen an Schulen blieben trotzdem weitgehend aus.4

Internationale Verhältnisse und Folgen

Es hat sich also inzwischen herumgesprochen, dass seit Beginn der Corona-Krise (auch) in Deutschland elementare Schutz-, Fürsorge- und Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen verletzt worden sind. Zudem haben verschiedene (unterlassene) Regierungs-Maßnahmen zur Verstärkung von Kinderarmut beigetragen. Das Kindeswohl wurde während der Pandemie durch Entscheidungen der politisch Verantwortlichen nicht vorrangig berücksichtigt, wie in der seit 1992 als Bundesgesetz gültigen UN-Kinderrechtskonvention vorgeschrieben (Art. 3). Viele Studien und Stellungnahmen beweisen, dass eine (politisch mit zu verantwortende, strukturelle) Kindeswohlgefährdung im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention und des SGB VIII vorliegt. "Ein aktueller Bericht des Robert-Koch-Instituts, der mehrere Studien des vergangenen Jahres zusammenfasst, zeigt: Die Häufigkeit von Angstsymptomen unter Kindern und Jugendlichen ist nach dem ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr von 15 auf 24 Prozent gestiegen. Den Eindruck einer verminderten Lebensqualität haben mehr als 40 Prozent der Elf- bis 17-Jährigen. Psychische Auffälligkeiten bei 7- bis 17-Jährigen sind von 18 Prozent auf etwa 31 Prozent gestiegen."5

Nach einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung habe sich hochgerechnet "infolge der Pandemie und der damit verbundenen Schulschließungen bei 1,7 Mio. 11- bis 17-Jährigen die gesundheitsbezogene Lebensqualität erheblich verschlechtert"6. Ferner ermittelte das Bundesinstitut "477.000 Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren mit Depressivitätssymptomatik" und erläuterte: "dass etwa 25% der Jugendlichen eine klinisch relevante Symptomatik von Depressivität im Mai/Juni 2020 nach dem ersten Lockdown aufweisen. […] Im Jahr vor der Pandemie betraf das lediglich 10% der Jugendlichen. Besonders gefährdet für psychische Probleme sind weibliche Jugendliche, hier hat sich die subjektive Depressivitätssymptomatik von 13 auf 35% fast verdreifacht. Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund sind besonders betroffen."7 Wie indes die Leiterin der Monitoring Stelle zur UN-Kinderrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte, Claudia Kittel, hervorhebt, ist das Kinderrecht auf Gesundheit, gemäß der Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention ein ganzheitliches Konzept. "Es definiert Gesundheit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit und schließt auch andere für Kinder relevante Aspekte mit ein. Dazu zählen unter anderem auch Spiel und Freizeit sowie Kontakte zu anderen Kindern. Dieser ganzheitliche Ansatz darf bei den aktuellen Diskussionen um den Schutz der Gesundheit von Kindern nicht übersehen werden"8.

So stellte die Kinderhilfsorganisation UNICEF in ihrem Report Eine verlorene Covid 19-Generation verhindern am 19. November 2020 fest, dass seit Beginn der Covid-Krise vor allem die Unterbrechung lebensnotwendiger Gesundheitsversorgung und sozialer Dienste die schwerste Bedrohung für Kinder darstellen. In einem Drittel von 140 untersuchten Ländern sei die Zahl der Kinder rückläufig, die mit grundlegenden medizinischen Maßnahmen erreicht wird, 40% weniger Kinder und Frauen bekämen Ernährungshilfen. Für über 250 Millionen Kleinkinder fehlten lebenswichtige Vitamin-A-Tabletten. 65 Länder berichten von einem Rückgang von Hausbesuchen durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Weitere alarmierende Fakten werden vom UNICEF-Bericht hervorgehoben: "Im November 2020 sind 572 Millionen Mädchen und Jungen von landesweiten Schulschließungen betroffen - das sind 33 Prozent aller Schülerinnen und Schüler weltweit. Durch die Unterbrechung lebenswichtiger Dienstleistungen und zunehmender Mangelernährung könnten in den kommenden zwölf Monaten zwei Millionen Kinder zusätzlich sterben und die Zahl der Todgeburten um 200.000 zunehmen. In 2020 werden zusätzlich sechs bis sieben Millionen Kinder unter fünf Jahren an Auszehrung oder akuter Mangelernährung leiden, eine Zunahme um 14 Prozent. Vor allem in den Ländern Afrikas südlich der Sahara und in Südasien werden hierdurch jeden Monat 10.000 Kinder zusätzlich sterben. Weltweit sind bis Mitte des Jahres schätzungsweise 150 Millionen Kinder zusätzlich in mehrdimensionale Armut gerutscht - ohne Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Nahrung, sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen."9 Das Kinderhilfswerk geht ferner davon aus, dass "die weltweite Zahl der Kinder, die gar keine Schule besuchen, nochmals um 24 Millionen ansteigen wird"10 (bis 2019 waren das insgesamt etwa 250 Mio.), während zusätzlich 10 Millionen Mädchen von Kinderheirat bedroht seien.11

Verhältnisse in Deutschland

Auch in der reichen Bundesrepublik Deutschland wurde für Millionen Kinder und Jugendliche im Rechtskreis des sog. Bildungs- und Teilhabepakets ab Mitte März und ab Mitte Dezember 2020 von heute auf morgen das kostenlose Mittagessen in Kitas, Schulen und Jugendclubs eingestellt. Auch hier waren hunderttausende von Schüler(innen) vom sog. Homeschooling ausgeschlossen.. Besonders Kinder aus armen Familien und Migrant(inn)en waren benachteiligt, "deren Eltern nicht helfen konnten, deren Wohnungen zu eng waren und denen Endgeräte fehlten. Bis zu 40% der Schüler*innen waren für Lehrkräfte über Wochen nicht erreichbar."12.

Auch die Monitoringstelle zur UN-Kinderrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte bemängelt anlässlich der Corona Pandemie "Rückschritte bei der Verwirklichung der Kinderrechte in Deutschland […] Die Rückschritte [mit Beginn der Corona Pandemie; MK] zeigten sich insbesondere in der anfänglichen Nichtbeachtung der Ansichten von Kindern und Jugendlichen durch Bund, Länder und Kommunen. Gleichzeitig wurden schon bestehende Defizite hinsichtlich des Gewaltschutzes von Kindern, der Bekämpfung von Kinderarmut sowie des Zugangs zu Bildung für alle Kinder verstärkt sichtbar"13. Nach Ansicht der Monitoringstelle sollten die während der Corona-Pandemie gemachten Erfahrungen baldmöglichst ausgewertet werden, um mit der Verwirklichung der Kinderrechte in Deutschland wieder voranzukommen. Dazu gehöre auch "ein gezielter Aus- und Aufbau von Interessenvertretungen von Kindern auf Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen, damit ihre Meinungen nicht erneut ungehört bleiben"14.

Dafür, dass die Kinder und Jugendlichen offenbar eher nachrangig betrachtet wurden und werden, spricht jedoch die Aussage des Bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU), welcher am 27. Oktober 2020 sagte: "Schule und Kita hat ja den Sinn und Zweck, die Wirtschaft am Laufen zu lassen"15. Der sichtbare instrumentelle Charakter, den die genannten Bildungseinrichtungen in den Augen des Landesregierungschefs anscheinend einnehmen, wird deutlich und von Bildung oder Kinderrechten, geschweige denn Kindeswohl ist dabei leider keine Rede. Eine solche Herangehensweise erhöht die Gefahr, Kindeswohlgefährdung - wenn überhaupt - viel zu spät zur Kenntnis zu nehmen, ja womöglich sogar zu begünstigen.

Sogar der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung vom Herbst 2020 kommt zu dem Ergebnis, dass die "Anti-Corona-Maßnahmen […] neben der Verschärfung ungleicher Bildungschancen und einem Digitalisierungsschub mit ambivalenten Folgen, […] zu der Frage nach Mitwirkungsmöglichkeiten für junge Menschen in Krisensituationen [führen]"16. Und der Report fragt weiter: "Wer vertritt eigentlich die Rechte der Kinder und jungen Menschen, wenn die Politik solche weitreichenden Entscheidungen wie einen Lockdown trifft? […] Für die jungen Menschen waren […] praktisch kaum Mitwirkungsmöglichkeiten an den sie betreffenden Entscheidungen möglich. Gerade in den jeweiligen Institutionen hätte man Kinder und Jugendliche stärker einbinden können und müssen, um Lösungen vor Ort gemeinsam zu erarbeiten."17

Die offensichtlich prekäre Lage der Kinderrechte In Deutschland ergab sich für den Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes Heinz Hilgers, da in der Coronakrise schon früh zu beobachten war, "dass die ersten Fitness- und Nagelstudios aufmachten, ehe sich in den Schulen und Kitas etwas tat. Die Rechte von Kindern auf Bildung, auf Spielen, auf Freundschaft, auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und auf Schutz […] werden bis heute sehr viel mehr eingeschränkt als zum Beispiel das Recht auf Gewerbefreiheit. Oder sogar das Recht auf Feiern"18. Daraus schließt Hilgers: "Unsere Gesellschaft hat die Kinderrechte nach wie vor nicht anerkannt, übrigens auch deren Beteiligungsrecht. Umfragen unter Kindern und Jugendlichen zeigen: Sie haben den Eindruck, dass sie überhaupt nicht gefragt werden." und beklagt einen entsprechenden gesellschaftlichen Rückschritt.19

Entsprechend hatte auch das "Factsheet" der Bertelsmann-Stiftung zu "Kinderarmut in Deutschland" von 2020 ein weiteres Mal nachgewiesen, dass sich die Entwicklungen im Bereich Kinderarmut gerade mit der Corona-Krise noch einmal verschärft haben.20 So wachse mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut auf, was immerhin 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren betreffe. Die Kinder- und Jugendarmut verharre seit Jahren auf diesem hohen Niveau. Trotz langer guter wirtschaftlicher Entwicklung seien die Zahlen kaum zurückgegangen. Kinderarmut sei seit Jahren ein ungelöstes strukturelles Problem in Deutschland. "Die Corona-Krise wird die Situation für arme Kinder und ihre Familien weiter verschärfen. Es ist mit einem deutlichen Anstieg der Armutszahlen zu rechnen. Aufwachsen in Armut begrenzt, beschämt und bestimmt das Leben von Kindern und Jugendlichen - heute und mit Blick auf ihre Zukunft. Das hat auch für die Gesellschaft erhebliche negative Folgen"21. Die Vermeidung von Kinderarmut müsse gerade jetzt politisch Priorität haben. Sie erfordert, so die Autorinnen des Bertelsmann-Factsheet, neue sozial- und familienpolitische Konzepte, wozu Strukturen für eine konsequente Beteiligung von Kindern und Jugendlichen und eine Absicherung ihrer finanziellen Bedarfe gehören.22

Zusammenhänge und Ursachen

Die Ungleichheitsprozesse im Pandemieverlauf lassen sich dem Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge zufolge je nach Ebenen präzise analysieren. Er unterscheidet erstens einen gesundheitlich oder pandemiebedingten Polarisierungsprozess, zweitens einen ökonomisch oder rezessionsbedingten Polarisierungsprozess und zum Dritten einen verteilungspolitisch oder subventionsbedingten Polarisierungsprozess. So differieren im ersten Bereich "Infektions-, Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken der einzelnen Bevölkerungsschichten […] zum Teil ganz erheblich, sind mit Abstand am höchsten bei armen und am niedrigsten bei reichen Personen". Zweitens verteilen sich die wirtschaftlichen Kollateralschäden der Pandemie und der Infektionsschutzmaßnahmen des Staates (zweimaliger bundesweiter Lockdown) "nicht gleichmäßig über alle Bewohner:innen der Bundesrepublik. Vielmehr gibt es Gewinner:innen und Verlierer:innen, sowohl in der Wirtschaft (Differenzierung zwischen einzelnen Branchen) als auch in der Gesamtgesellschaft (Polarisierung zwischen verschiedenen Klassen und Schichten)." Schließlich weisen laut Butterwegge im dritten Untersuchungsfeld "die bisherigen Hilfsmaßnahmen, Finanzspritzen und Rettungsschirme des Staates eine verteilungspolitische Schieflage auf, wodurch die sozioökonomische Ungleichheit wächst, statt abgemildert zu werden."23

Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch im Kindes- und Jugendalter vorfinden. Zweifellos haben auch Corona und die Maßnahmen dagegen unterschiedliche Auswirkungen auf unterschiedliche Gruppen von Kindern und Jugendlichen je nach sozialer Herkunft. Die Corona-Pandemie wäre demnach weniger als Ursache zu betrachten, denn als Anlass von verschärften Verarmungsprozessen landes- und weltweit. Auch hier sollte die Pandemie nicht zu vorschnell allein verantwortlich gemacht werden, sondern die darunterliegenden sozio-ökonomischen sowie bildungs- und gesundheits-systemischen Ursachen sind zu beachten, auch wenn sie allzu oft in Medien, Politik und Wissenschaft von der Epidemie drohen überstrahlt zu werden. Genauso problematisch wie die einseitige Kennzeichnung von Kindern als "Armutsrisiko" oder gar "Armutsursache", hat sich in der Corona-Krise die weitgehend wissenschaftlich unbewiesene Beschreibung und Behandlung von Kindern als reine "Viren-Schleudern" erwiesen.24

Die gegenwärtigen Regierungsmaßnahmen verbleiben trotz aller Investitionspakete weiterhin im Rahmen einer neoliberalen Organisation sozialer Ungleichheit zugunsten weniger und zu Ungunsten sehr vieler Menschen. Wenn z.B. Millionen von Menschen bis zum Anfang des Jahres 2021 immer noch keine von der Bundesregierung versprochenen Fördermittel und Hilfspakete erhalten haben, aber unterdessen große Konzerne bereits mit Milliarden von Euros unterstützt wurden, so drückt dies eine ebensolche Schieflage aus. Wenn zudem staatlich geförderte Großunternehmen zehntausende von Beschäftigten in von der Solidargemeinschaft mitfinanzierte Kurzarbeit schicken, aber zugleich Milliarden an Dividenden an ihre Großaktionäre de facto von den Steuer- bzw. Beitragszahler(inne)n finanzieren lassen, deutet sich das gleiche neoliberal strukturierte Muster der Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten an. Wenn zudem die Bundesregierung zum Beispiel die Bedingungen in Kitas und Schulen (Belüftungsmängel und täglich volle Schulbusse, während Reisebusse ungenutzt herumstehen) sowie außerschulischen Bildungseinrichtungen (z.B. der offenen Jugendarbeit) nicht deutlich verbessert, wenn sie in Krankenhäusern und Pflegeheimen, im öffentlichen Personenverkehr und in der Fleischindustrie keine deutliche Korrektur erwirkt, aber zugleich tagtäglich alleine an die private Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger appelliert, um die Corona-Krise zu bewältigen, so wird fortsetzend nach dem neoliberalen Prinzip der Privatisierung aller sozialer und gesundheitlicher Risiken geredet, gehandelt und verordnet. Dass sich ausgerechnet der Bundesgesundheitsminister an seine eigenen Appelle an "Charakter" und "Verantwortung" für Infektionsschutz kaum hielt (z.B. beim Treffen mit anonymen Parteispendern), passt dazu. 2019 wurde die Schließung der Hälfte aller Krankenhäuser von einer Bertelsmann-Studie gefordert. Der für die SPD als Gesundheitsexperte fungierende Karl Lauterbach sagte dazu: "Wir haben schlicht zu viele Krankenhäuser"25. "Ende Februar [2020] noch hatte Gesundheitsminister Jens Spahn mehr Mut bei Krankenhausschließungen empfohlen."26 Die auch von Spahn unterstützten Fallpauschalen und der Marktwettbewerb im Gesundheitssystem führten derweil dazu, dass seit 1991 in der BRD über 500 Krankenhäuser geschlossen wurden. Während der Pandemie 2020 machten über 20 Krankenhäuser dicht. Weitere 600 Krankenhäuser sind insolvenzgefährdet. Über 50.000 Beschäftigte fehlen in der Pflege.27 Die Fallvergütung führte u.a. zur Schließung eines Viertels der Kinderkliniken und -abteilungen. "40 Prozent der kinderklinischen Betten wurden abgebaut. Zeitaufwand und Zuwendung, eine Selbstverständlichkeit besonders in der Kindermedizin, kennt das Fallpauschalensystem nicht. Es kennt, wie der Name schon sagt, nur den Fall", schreibt der ehemalige Chirurg der Klinik in Frankfurt-Höchst, Bernd Hontschik.28 Von diesen gesundheitspolitischen Grundlagen las und hörte und sah man in den letzten anderthalb Jahren leider nur sehr wenig in den großen meinungsbildenden Medien.

Gegenmaßnahmen

Sinnvolle Maßnahmen bestünden zunächst einmal darin, eine ehrliche Bestandsaufnahme dessen vorzunehmen, wie sich Deutschland in der Corona-Krise entwickelt hat. Viele Millionen Menschen wurden in Kurzarbeit geschickt. Durch das wegfallende Einkommen entstehen tendenziell Armutslagen und soziale Polarisierung. Durch Corona-Maßnahmen werden die Bildungsungleichheiten noch zunehmen. Hinzu kommt, dass die in der Regel etwa 20 Prozent höheren Einkommen der Männer wieder deutlicher an Bedeutung gewinnen und die Re-Traditionalisierung geschlechtlicher Arbeitsteilung begünstigen; gerade wenn die Kinder nun wieder zuhause bleiben müssen. Eine Re-Privatisierung sozialer Risiken wird befördert, wonach jeder seines eigenen gesundheitlichen, familiären und gesellschaftlichen Glückes Schmied sei. Dies sind eindeutige Hinweise auf einen gesellschaftlichen Rückschritt im neoliberalen Zeitalter.

Neben einer gründlichen und kritischen Analyse des hegemonialen Diskurses in Medien, Politik und Wissenschaft sollten an Kinderperspektiven anknüpfende Alternativen und Gegenstrategien Konzepte der Armutsbekämpfung, der Partizipation junger Menschen und der Förderung sozialer Infrastruktur vereinen, die den gesellschaftspolitischen Kontext einer sehr reichen Gesellschaft nicht aus den Augen verlieren.29

Anmerkungen

1) Vgl. UNICEF/WHO 2021: Schulen offen halten und sicherer machen. Kopenhagen/Genf/Köln v. 30.8.2021; unter: https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2021/schulen-offen-halten/2473 56.

2)  Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hg.) 2020: Factsheet Kinderarmut in Deutschland. (Antje Funcke/Sarah Menne), Gütersloh.

3) Vgl. C. Katharina Spieß 2020: "Zum Schaden einer ganzen Generation. Es gibt auch Geld für die Kinder im Konjunkturpaket der Regierung. Aber Kita und Schule kommen zu kurz", in: Frankfurter Rundschau v. 6./7.6.2020.; Kinderkommission des Deutschen Bundestages 2020: "Bedürfnisse und Rechte von Kindern in der Corona-Pandemie nicht aus dem Blick verlieren", in: Pressemitteilung  v. 7.5.2020, Berlin; UNICEF/Save the Children 2020: "COVID-19: BIS ZU 86 MILLIONEN KINDER ZUSÄTZLICH KÖNNTEN IN FOLGE DER PANDEMIE BIS JAHRESENDE IN ARMUT ABRUTSCHEN" in: Pressemitteilung  v. 28.5.2020, Köln/Berlin; Gerda Holz / Antje Richter-Kornweitz 2020: Corona-Chronik. Gruppenbild ohne (arme) Kinder. Eine Streitschrift, Frankfurt a.M. / Hannover.

4) Süddeutsche.de v. 23.3.2021.

5) Sophie Vorgrimler 2021: "Endlosschleife aus Langeweile und Einsamkeit. Wer mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, sieht klare Zeichen für eine gestiegene psychische Belastung der jungen Menschen", in: Frankfurter Rundschau v. 13./14.2.2021: 2.

6) Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2021: Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Corona-Pandemie, Wiesbaden: 72.

7) Ebd.

8) Deutsches Institut für Menschenrechte 2020: "Corona-Pandemie/Kinder müssen bei der Entwicklung staatlicher Maßnahmen gehört werden/Internationaler Kindertag am 1. Juni 2020", in: Pressemitteilung v. 29.05.2020, Berlin.

9) UNICEF 2020: Eine verlorene Covid-19 Generation verhindern, New York / Köln v. 19.11.2020.

10) UNICEF v. 12.1.2021.

11) UNICEF.de v. 8.3.2021.

12) Anne Ratzki 2021: "Schule nach Corona", in: Zeitschrift forum der GEW Köln/Rhein-Berg-Kreis 1/2021: 16-17; hier: 16; vgl. auch Michael Klundt 2020: Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement? Eine Studie zu Auswirkungen der Corona-Krise auf die Lebensbedingungen junger Menschen, Berlin. Unter: https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_up load/200608_Studie_Corona_Kinderland.pdf: 9.

13) Monitoringstelle 2020: 1.

14) Ebd.

15) GEW Bayern 2020: "Staatsregierung proklamiert: Bildung wird zur Nebensache - es geht nur noch um Betreuung! GEW übt scharfe Kritik", in: Pressemitteilung Nr. 55/ 2020 v. 28.10.2020: 1.

16) Siehe Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) 2020: 16. Kinder- und Jugendbericht - Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter und Stellungnahme der Bundesregierung, Berlin: 522.

17) Ebd.

18) Vgl. Heinz Hilgers 2020: "Für die Kinder in unserem Land wird gute Bildung zum Lotteriespiel". Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, im Interview von Silke Fokken, in: SPIEGEL.de v. 24.08.2020.

19) Ebd.

20) Vgl. Bertelsmann-Stiftung 2020: 1.

21) Ebd.

22) Vgl. ebd.

23) Christoph Butterwegge 2021: "Das neuartige Virus trifft auf die alten Verteilungsmechanismen: Warum die COVID-19-Pandemie zu mehr sozialer Ungleichheit führt", in: ZBW - Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft. Wirtschaftsdienst Nr. 101 (2021): 11-14; hier: 13.

24) Vgl. Pamela Dörhöfer 2020: "Wie infektiös Kinder sind", in: Frankfurter Rundschau v. 7.5.2020.

25) Main Post v. 16.6.2019.

26) ZEIT v. 7.4.2020.[/i]

27) Vgl. Oliver Rast 2021: "Globale Gesundheitspolitik. Rette sich, wer kann", in: junge Welt v. 08.04.2021: 1.

28) Bernd Hontschik 2021: "Ware Fürsorge. Kein Herz für Kinder", in: FR v. 27./28.2.2021: 47.

29) Vgl. Michael Klundt 2020 (s. Anm. 12): 15f.

Michael Klundt, Dr. päd., ist Professor für Kinderpolitik am Fachbereich für Angewandte Humanwissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal und leitet dort den Master "Kindheitswissenschaften und Kinderrechte". In Kürze erscheint von ihm: Michael Klundt 2022: Vergleichende Kinderpolitik-Wissenschaft. Kinderrechte und Kinderarmut in Corona-Zeiten. Beltz Juventa: Weinheim / Basel. Er ist Mitglied im Beirat des BdWi.