Nach der Revolution ist vor dem Putsch

Hefteditorial iz3w 388 (Januar/Februar 2022)

Wie steht es um den ‚Arabischen Frühling‘? Seit den unterschiedlich erfolgreichen Protesten 2011 ringen in Nordafrika und Westasien Revolution und Konterrevolution. Die zwei neuen Umbrüche: In Tunesien entließ Präsident Saied am 25. Juli 2021 die Regierung und das Parlament (iz3w 387). Inzwischen ist Najla Bouden Romdhane, als erste Frau, Regierungschefin. Sie und ihr Kabinett nahmen im Oktober die Arbeit auf. Gleichzeitig bleibt das Parlament suspendiert und Saied kündigte an, per Dekret zu regieren. Im Sudan begann eine Konterrevolution, als das Militär im Oktober 2021 den zivilen Teil der Übergangsregierung absetzte. Nach großen Protesten wurde Premier Hamdok am 21. November wieder ins Amt berufen, die Reaktionen darauf sind gespalten (Seite 4).

Ein Regime, das im Moment weniger Aufsehen erregt, in der Region aber großen Einfluss hat, ist Ägypten. Ein gewisser Gewöhnungseffekt hat gegenüber der staatlichen Repression unter Präsident al-Sisi eingesetzt – schließlich ist die Lage ruhig, die touristischen Küsten attraktiv und das Militärregime ein verlässlicher Partner. Das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen bleibt unbeachtet, die Haftbedingungen der circa 65.000 politischen Gefangenen scheinen eine Nebensache zu sein. Immerhin eine gut dokumentierte: Menschenrechtsorganisationen veröffentlichen immer dramatischere Berichte über Isolation, Verweigerung von Kontakt zu Familie und Anwält*innen und physische sowie psychische Misshandlung.

Das ägyptische Regime ist gut darin, Prestigeprojekte mit internationalem Anklang zu verwirklichen: Erst im Oktober 2021 wurde ein Mega-Gefängnis »nach amerikanischen Standards« eröffnet, im September wurde eine »Nationale Menschenrechtsstrategie« verabschiedet. Dort werden Gründe für die schlechte Menschenrechtslage benannt – fehlende »Kultur der Menschenrechte« und Partizipation der Zivilgesellschaft, die schwache Wirtschaft und der Terrorismus. Der Staat selbst wird nicht erwähnt. Passenderweise rief al-Sisi 2022 zum »Jahr der Zivilgesellschaft« aus. In Italien kommen derweil auch ägyptische Migrant*innen an, so beispielsweise am zweiten Novemberwochenende, als über 600 von ihnen vor den Küsten Italiens gerettet wurden.

Die Lage in Ägypten ist auch für die politische Situation in anderen nordafrikanischen Ländern relevant. Das Regime in Kairo hat kein Interesse an breit mobilisierenden Demokratiebewegungen in der Nachbarschaft, schließlich könnte der Funke wie schon 2011 überspringen. Die Präferenz Ägyptens ist angesichts der politischen Konstellation im Sudan klar: Auf der einen Seite das sudanesische Militär, das in der Wirtschaft und Gesellschaft großen Einfluss hat und seine Privilegien verteidigt. Auf der anderen Seite eine Zivilbevölkerung, die für Zugang zu international verbrieften Rechten und für bessere Lebensbedingungen kämpft. Und so fanden bilaterale Gespräche nach dem Sturz al-Baschirs 2019 nur mit dem militärischen Teil der sudanesischen Übergangsregierung statt. Auch Saudi-Arabien, die Vereinigten Emirate sowie Israel setzen auf Kontinuität und sehen diese im Militär verkörpert.

In Tunesien wiederum spielt das Militär eine untergeordnete Rolle. Dankbar ist man al-Sisi dort trotzdem: Die neue Premierministerin kündigte Mitte November an, »die Erfolgsgeschichte Ägyptens unter der inspirierenden Führung al-Sisis« zum Leitbild ihrer Regierungszeit zu machen. Wie auch Saudi-Arabien und die Vereinigten Emirate hatte al-Sisi zuvor Saieds Machtübernahme als wichtigen Schlag gegen den politischen Islam gefeiert. Die damit de facto einhergehende Änderung der Staatsform Tunesiens ist für die offen antidemokratischen Regime keinen Kommentar wert.

Die Frage ist nun, welches internationale Gegengewicht besteht. Wer unterstützt die prodemokratische Zivilgesellschaft in Tunesien und Sudan? Neben der Afrikanischen Union sind das zumindest rhetorisch auch UN, EU und USA. Wie sudanesische Gewerkschaften jedoch anprangern, war diese Unterstützung schwach: Die internationale Politik hätte sogar zum Putsch des Militärs beigetragen, da nach dem Sturz al-Baschirs kein Schuldenerlass kam und die immer angespanntere wirtschaftliche Lage der Revolution keine Chance ließ.

Die Kämpfe in der Region inspirieren sich gegenseitig, aber sie warnen einander auch – so rieten ägyptische Aktivist*innen bereits 2019 zur Vorsicht vor konterrevolutionären Taktiken des sudanesischen Militärs. Doch auch die autoritären Regime lernen voneinander und von Fehlern ihrer Vorgänger, die relative Freiheiten zuließen. Die Revolutionen und der antirevolutionäre Backlash sind Teil eines anhaltenden Prozesses. Kein einfaches ‚Zurückfallen‘ in eine Art ‚Naturzustand‘, sondern der Kampf um Demokratie, Teilhabe und Rechte. Der Prozess ist auch mit dem Tauziehen internationaler Interessen verbunden. So sollten prodemokratische Menschen und Regierungen ihren zivilen Einsatz erhöhen.

die redaktion

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