Cycy, die futuristische Geisterjägerin

Postkoloniales Theater in München und Lomé

Koloniale Verbrechen und post-koloniale Verstrickungen, politische Patronage und wirtschaftliche Expansion: für all das stehen die deutsch-togolesischen Beziehungen. 1984 wurde dennoch 100 Jahre Freundschaft zwischen diesen Ländern gefeiert. Als Strippenzieher galt der damalige Ministerpräsident Franz-Josef Strauß. Als Holzmarionette bringen ihn die Münchener Kammerspiele nun auf die Bühne. Schauspieler*innen aus Deutschland und Togo arbeiten das gemeinsame Erbe auf und zeigen eine postkoloniale Utopie.

Ein großer Wirtshaustisch bestimmt das Bühnenbild. Hier wird Politik gemacht. Hier setzen sich gierige Geschäftemacher in Szene, hier begießen skrupellose Politiker mit ihren Saufkumpanen Verträge. Hier treffen Vergangenheit und Zukunft aufeinander. Der Tisch ist der symbolreiche Ausgangspunkt eines Theaterstücks, in dem Schauspieler*innen aus München und Lomé darüber sprechen, was die koloniale Vergangenheit heute bedeutet und welche Zukunftsperspektiven sich daraus ergeben. Eine Schlüsselfrage ist: Was passiert, wenn Nachfahren der Kolonisatoren und Kolonisierten sich in der Gegenwart dem gemeinsamen Erbe stellen?

Verbindende Erinnerungen

Komi Mizrajim Togbonou, der das Stück gemeinsam mit Jan-Christoph Gockel konzipierte und auch selbst auf der Bühne steht, erzählt: »Die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte war schon in meiner Kindheit präsent. Denn mein Großvater sang das Kaiserlied und mein Vater kam 1952 aus Togo nach Deutschland.« Um diese Verbundenheit aufzuzeigen, lud Togbonou seine Münchner Kolleg*innen nach Togo ein: »Sie konnten sich dann vor Ort anschauen, was deutsche Ahnen angerichtet hatten. Vielen ist nicht bewußt, dass Deutschland Kolonien hatte. Togo(land) zählte von 1884 bis 1914 dazu. Vieles, was in der Shoa geschah, wurde in Afrika trainiert. In Togo(land) – offiziell eine Musterkolonie – wurden die Leute mit Zwangsarbeit, Nilpferdpeitschen, Totschlag und Mord angetrieben, das Kaiserreich zu finanzieren. Togolesische Autoritäten (Chiefs) beschwerten sich darüber, doch ihre in deutscher Sprache verfassten Protestbriefe wurden nie an die Verantwortlichen im Kolonialapparat weitergeleitet.« Togbonou schließt daraus: »Umso wichtiger ist die gemeinsame Aufarbeitung für beide Seiten. Dafür bietet das Theater einen idealen Begegnungsort und Resonanzraum. Es kann klären, was politisch nicht zu klären ist. Theater hat den Auftrag für ein anderes Miteinander.«

So kommen im Stück persönliche Geschichten und die politische Geschichte zusammen. Im ersten Schritt wurden (post)koloniale Zusammenhänge erarbeitet und recherchiert. Togbonou erläutert: »Die koloniale Macht war sehr monumental. Der frühere Gouverneurspalast und das Amtsgericht zeugen noch immer davon. Gebaut wurde auf Kosten und auf den Rücken der lokalen Bevölkerung. Deshalb haben wir beispielsweise die rostigen Reste eines Landungsstegs am Meer in das Stück integriert. Diese schweren gusseisernen Anlagen aus dem Ruhrgebiet mussten lokale Träger transportieren, die gesundheitlichen Folgen waren katastrophal. Auch zuvor hatten Europäer vom Sklavenhandel profitiert.«

Togbonou kritisiert auch nachkoloniale Kontinuitäten: »Nach der politischen Unabhängigkeit Togos 1960 wurde der erste demokratisch gewählte Präsident Sylvanus Olympio in einem Militärputsch gestürzt. Gnassingbé Eyadéma kam an die Macht, auf eine neue Art und Weise verkaufte er sein eigenes Volk. Das hatte Methode. Eyadémas Sohn Faure übernahm einfach die Macht seines Vaters. So bildeten sich neue Muster heraus, wobei Europäer mit solchen einflussreichen Familien Geschäfte machten.« Zu den Profiteuren in Bayern zählte das expandierende Rosenheimer Fleischunternehmen Marox des Josef März.

Der damalige bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß pflegte in den 1970er- und 1980er-Jahren enge Beziehungen zu Eyadéma und zelebrierte ungeachtet der kolonialen Gewalt und Ausbeutung die hundertjährige deutsch-togolesische Freundschaft. Auf seinen Ausspruch: »Wir Schwarzen müssen zusammenhalten« antworten die Schauspieler*innen nun mit einer Erwiderung.

Afro-Astronautin als Geisterjägerin

Im Stück wird die Protagonistin Cycy mit Lichtgeschwindigkeit und wie durch Schallwellen historischer Redefetzen ins koloniale Funkzentrum Kamina – beziehungsweise dessen verrostete Überreste – katapultiert. Togbonou erläutert: »Kamina ist ein Ort, wo das Unternehmen Telefunken in den Jahren 1911 bis 1914 die größte Funkstation der Welt errichtete. Das war Realität. In diese Geschichte wollten unsere afrikanischen Kolleg*innen futuristische Elemente einbringen und zum Empowerment von Frauen beitragen. So entstand im Arbeitsprozess mit ihnen die Figur Cycy. Sie kann herausfinden, was in der Kolonialzeit falsch gelaufen ist und in eine Utopie führen.« Nancy Mensah-Offei spielt die Afro-Astronautin, deren Kostüm bzw. Raumanzug im Stil einer Comic-Superheldin von der togolesischen Designerin Ayanick Nini Nicoué entworfen wurde. Cycy trifft im Stück den Funker Siegfried Gaba Bismarck aus der Kaiserzeit, der von Togbonou selbst gespielt wird: »Die Figur gab es so in der Realität nicht: Einen schwarzen Reichskolonialfunker, der Deutscher sein will, aber zwischen den Welten bleibt.«

Die futuristische Geisterjägerin Cycy kämpft gegen koloniale Phantome und richtet ihr Leuchtschwert auf das Dickicht skandalöser politisch-ökonomischer Verstrickungen bis in die Jetztzeit, die sie angesichts der bruchlosen Kontinuität von Rassismus, Ausbeutung und Korruption fast verzweifeln lassen. Sie findet nicht nur Details zu Geschäften in Togo heraus, sondern nimmt eine globale Perspektive ein. Denn neben dem Fleischhandel in Togo zählten lukrative Geschäfte mit Militärdiktatoren in Lateinamerika und der DDR-Regierung zu den Machenschaften des bayrischen Marox-Konzerns. Zum Verständnis der weitverzweigten Korruptionsnetzwerke konsultierte das Theaterteam in der Recherche für ihr Stück den früheren Steuerfahnder, der damals gegen Strauß ermittelte.

Mit viel Kraft gelingt es Cycy, die Marionette Strauß zum Zwerg schrumpfen zu lassen. Togbonou ist überzeugt: »Die Holzpuppe Strauß gibt dem Ganzen eine noch größere Aufmerksamkeit und Tragweite. Eine weitere dominante Figur ist die eines Sohns der März-Familie, gespielt von Martin Weigel. Sie steht für alle Besitzer des Marox-Unternehmens mit ihrer bayerischen Wirtshausmentalität. Doch im Stück ist Cycy die Chefin.«

Am Meer will sich die Protagonistin – eine starke und komplexe Figur – von der erdrückenden Last ihrer Tränen befreien, die ihren Kopf herunterziehen und sie kaum noch atmen lassen. Diese Szene spielt vor der gusseisernen Landungsbrücke, auf der bewaffnete Soldaten einst ins Land marschierten und wo nun verschiedene Zeiten verschmelzen. Togbonou erklärt: »Künstler*innen aus München und Lomé entwickelten das Stück gemeinsam. Das war uns ganz wichtig, ebenso legten wir Wert auf einen vorbereitenden Anti-Rassismus-Workshop für das Team.«

Multiperspektivität

Die Auseinandersetzung der Münchener Kammerspiele mit diesen Machenschaften ist eine furiose und mehrfach gebrochene Zusammenschau aus starken Bühnenszenen und kompliziertem Puppenspiel, eingeblendeten schnellen Comicbildern und dokumentarischen Filmsequenzen, die in Togo an Originalplätzen der kolonialen Machtdemonstration vorproduziert wurden. Schauspieler*innen aus Lomé, die live zugeschaltet werden, übermitteln erkenntnisreiche Erklärungen und Reflexionen zum langlebigen Zusammenwirken kolonialer Ausbeutungsstrukturen und zu den Reaktionen der Kolonisierten.

Mehrere Kameras zeichnen das Ganze auf – das Bühnenbild und die integrierten Filmsequenzen. So können Zuschauer*innen überall in Togo und Deutschland das Stück gleichzeitig digital sehen. Auf diese Weise schaffen die Theatermacher*innen eine Zwischenwelt, um hiesige Sehgewohnheiten und eurozentrische Prämissen selbstkritisch zu überprüfen. Das Stück fordert also durch viele Blick-, Szenen- und Zeitenwechsel in jeder Hinsicht heraus.

Viele Stimmen verschaffen sich Gehör, Mehrsprachigkeit prägt das gesamte Stück. Die von Elemawusi Agbédjidji geschriebenen, fragenden und das Unrecht anklagenden Texte des Stücks werden immer auf Deutsch und Französisch gesprochen oder untertitelt. Sie öffnen einen Reflexionsraum, in dem das Publikum über verschiedene Standpunkte nachdenken kann. Für Agbédjidji heißt das auch: Wenn Menschen in der Gegenwart mit Blick auf Veränderungen handeln, verändert das die Welt.

Die thematisch passenden und technisch perfekten Comics zeichnete das Team um Paulin Koffivi Assem. Als Puppenspieler halten Danaye Kalanféi und Michael Pietsch die Fäden in den Händen, Jan-Christoph Gockel führt die Regie. Pietsch und Gockel haben schon früher mit afrikanischen Kolleg*innen kooperiert, beispielsweise in der Demokratischen Republik Kongo und in Burkina Faso.

Geplant ist, die Partnerschaft mit togolesischen Kolleg*innen zu verstetigen und sie an weiteren Produktionen in München aktiv zu beteiligen. Im Idealfall hat diese zukunftsorientierte Kooperation Vorbildcharakter für andere Bühnen in Deutschland, die mit antirassistischen Ansätzen noch ganz am Anfang stehen.

                                                                         

Rita Schäfer arbeitet in der iz3w-Redaktion.