Die unsichtbaren Inder

Und plötzlich sahen wir sie … nicht nur Hunderte oder Tausende, sondern Millionen. Aber sie waren schon lange da, wir waren aber so an sie gewöhnt, dass sie keinen Platz in unseren Augen und Denken einnahmen … wir sahen sie nicht. Für uns waren sie unsichtbar.“ Mit diesen fast poetischen Worten legt der ehemalige Mitherausgeber der Times of India, Jug Suraiya, seine Gefühle – man möchte sie Schuldgefühle nennen – für die durch die Pandemie entwurzelten Wanderarbeiter in seinem Land dar. „Über Nacht wurden sie sichtbar. Sie sind unsere Mitbürger, Indiens riesige Arbeiterschaft im Privatsektor“, heißt es weiter.

Das Schicksal der migrant workers, der Wanderarbeiter, die von heute auf morgen in eine ausweglose Situation gestoßen wurden, bewegt Indien fast noch stärker als die Pandemie mit ihren vielen Erkrankungen und Todesfällen. Doch während die Krankheit wie ein Naturereignis über das Land fiel, besteht das soziale Problem der Wanderarbeiter schon viele Jahre. Niemand weiß genau, wie viele es in Indien gibt. Eine Statistik gibt ihre Gesamtzahl mit 139 Millionen an, diese umfasst aber auch die Arbeitsmigration innerhalb der Unionsstaaten. Diejenigen, die jedoch weit entfernt von ihrer Heimat arbeiten, werden mit 42 Millionen angegeben. Es ist diese Gruppe, die durch den Ausbruch der Pandemie unerbittlich getroffen wurde. Oft unqualifiziert werden sie in den übervölkerten Unionsstaaten des Nordens angeworben und irgendwo im Land als billige Arbeitskräfte beschäftigt. Sie haben keine Sozialversicherung und sind gewerkschaftlich nicht organisiert. Niemand vertritt ihre Rechte. Man findet sie überall in Indien, in der Landwirtschaft, kleinen Betrieben, großen Baustellen, Restaurants und als Haushaltshilfen.

Die meisten von ihnen erfuhren von der am 24.März in ganz Indien verhängten strengen Ausgangssperre erst, als diese schon in Kraft war. Die Regierung hatte sie nur vier Stunden vorher bekanntgegeben und damit die Lage großer Bevölkerungsschichten total ignoriert. Das Land wurde mit einem Schlag lahm gelegt. Das gesamte Transportwesen arbeitete nicht mehr, die Mehrheit der Fabriken stellten ihre Arbeit ein. Ein Großteil der Wanderarbeiter verlor seinen Job, die Menschen verfielen in Panik. Oft mittellos, ohne Arbeit und Unterkunft hatten sie nur ein Ziel, nach Hause, in ihre oft weit entfernten Dörfer zu kommen. Wir kennen die Bilder aus den Medien: Große Züge von Menschen zu Fuß auf den Landstraßen, ihre Habseligkeiten gebündelt, zogen sie aus den Metropolen wie Delhi davon. Für viele war es ein Leidensweg, denn unterwegs wollte sie niemand haben. Städte und Dörfer verbarrikadierten sich, die Polizei hinderte sie am Weiterziehen. Es war das Chaos, das Millionen betraf und für das niemand die Verantwortung übernehmen wollte. Erst als sich eine größere humane Katastrophe andeutete, wurden Sammellager eingerichtet, eine Grundversorgung eingeleitet und erste Transportmöglichkeiten organisiert.

Die Lage hat sich bis heute nicht normalisiert. Schließlich musste das Oberste Gericht Indiens eingreifen. In einem Urteil vom 9.Juni verpflichtete es die Zentralregierung und die Regierungen der Unionsstaaten zu konkreten Maßnahmen. So ist die Anzahl der noch gestrandeten Arbeiter festzustellen, der Rücktransport in ihre Heimat hat innerhalb von 15 Tagen zu erfolgen. Sonderzüge sind bereitzustellen. Die Behörden müssen bekanntgeben, wie sie für die Rückkehrer sorgen. Das betrifft Nahrungsmittel, Dinge des täglichen Bedarfs sowie Arbeitsstellen. Die Polizei wurde angewiesen, alle bei ihr angezeigten Verstöße von Wanderarbeitern gegen die lockdown-Regeln fallen zu lassen.

Nahezu ein Vierteljahr und nur auf Druck der Justiz hat es gedauert, um für das ganze Land geltende Maßnahmen zum Schutz der Wanderarbeiter festzulegen. Aber noch ist überhaupt nicht abzusehen, welche Spuren die Pandemie insgesamt hinterlassen wird. uch in Indien werden politische, wirtschaftliche und kulturelle Auswirkungen erwartet. Doch wie tief werden diese sein, und werden sie langfristig zu bleibenden Veränderungen führen? Werden sie auch das soziale Gefüge der Gesellschaft erfassen?

Dazu gibt es interessante Untersuchungen von Soziologen. Sie wollen feststellen, wie sich die schlimmen Erfahrungen der Wanderarbeiter auf das gesellschaftliche Bewusstsein und das soziale Gefüge auswirken. Der Sozialhistoriker Badri Narayan befragte Wanderarbeiter zu dem heiklen Thema der Kastenzugehörigkeit, bekanntlich ein tief verwurzeltes Merkmal der hinduistischen Religion und Lebensweise. Oft am Rande des Existenzminimums lebend sind die Wanderarbeiter in den Metropolen und großen Industriegebieten gezwungen, ihre Kastenidentität zu leugnen oder falsch anzugeben. Im Kampf ums Überleben – so B. Narayan – wird die Kastenzugehörigkeit nicht so rigide und bestimmt gehandhabt, wie es die Tradition und religiöse Eiferer verlangen. Stattdessen wird sie je nach Bedarf von ihren Trägern als Instrument eingesetzt, flexibel gehandhabt. Das betrifft alle Kasten sowie auch die Kastenlosen, die Dalits.

Auf den Trecks in ihre Heimat, in den Lagern und der Quarantäne verlor die Kastenzugehörigkeit hingegen vollkommen ihre Bedeutung. „In diesen schwierigen Zeiten wurden wir alle eine Kaste – die Kaste der Unglücklichen“, erzählte ein Befragter. So gab es auch keine Unberührbarkeit mehr. „Wasser, Nahrungsmittel, Dinge des täglichen Bedarfs gingen von Hand zu Hand, ohne dass nach der Kaste gefragt wurde“, erzählte ein anderer. Ein Fakt, der im normalen Leben Indiens kaum möglich ist. Der Soziologe schlussfolgert aus seinen Befragungen, dass Hilfe und emotionale Unterstützung untereinander das Verhalten der Wanderarbeiter bestimmten. Und er stellt weiter fest, dass es eines absoluten Notstandes wie der Pandemie bedarf, um ein tief verwurzeltes soziales System zu erschüttern. Normales und Routine werden durchgerüttelt, aus den Leiden in Notzeiten entsteht ein „emotionales Kapital“, das Teil unserer Identität für eine lange Zeit bleiben wird und langsam dazu beiträgt, Kastenunterschiede mit ihrer Ungleichheit und Abgrenzung zu mildern, so Narayan.

Doch wird sich diese Erkenntnis auch bei denen durchsetzen, die in Indien politisch und wirtschaftlich das Sagen haben und nach wie vor von Kastenunterschieden und Wanderarbeitern profitieren? Vor allem die erniedrigende Behandlung der Kastenlosen, der Dalits, lässt bezweifeln, dass sich hier schnell etwas ändert. Fast täglich werden haarsträubende Fälle bekannt. So wurde in Gujarat ein Dalit getötet, weil er auf einem Pferd reiten wollte. Das gleiche geschah einem Unberührbaren in Uttarakhand, der es wagte, von der Hochzeitstafel Kastenangehöriger zu essen. Obwohl die indische Verfassung Kastengleichheit garantiert, wirken alltäglich immer noch die uralten Vorschriften aus der Hindu-Mythologie. Angeblich hat sie der göttliche Gesetzgeber Manu verfasst. Im Manusmriti, seinem Gesetzbuch, das aber offensichtlich von Brahmanen-Priestern geschaffen wurde, werden Verhaltensregeln für die Hindus festgelegt. Hier wird die Kastenhierarchie mit ihrer Ungleichheit festgeschrieben. Strenge Strafen bis zur Todesstrafe drohen denen, die diese Ordnung missachten. Das gilt besonders für die kastenlosen Hindus, die Unberührbaren oder Dalits. Es klingt wie Hohn, dass trotz einer modernen Gesetzgebung in Rajasthan durch die dort regierende hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) eine Statue zu Ehren Manus aufgestellt wurde – und das ausgerechnet vor dem Gebäude des Obersten Gerichts des Unionsstaates!

Es gibt auch in Indien Menschen, die die weltweite Bewegung „Black Lives Matter“ unterstützen. Doch angesichts der Verbrechen gegen die Dalits, die von der Polizei oft toleriert werden, sollte man in Indien für „Dalits Lives Matter“ eintreten, schreibt S. A. Aiyar, einer der Herausgeber der Economic Times.

Die Wanderarbeiter, von denen viele Unberührbare sind oder niedrigen Kasten angehören, werden nach und nach wieder an ihre Arbeitsstellen zurückkehren. Nicht ganz unbegründet stellt der eingangs erwähnte Jug Suraiya die Frage, ob sie in der Nach-Corona-Zeit wieder aus dem Gesichtskreis verschwinden und wie vorher wieder unsichtbar werden.