Beunruhigende Meldungen kommen in diesen Wochen aus dem Nordosten Indiens. Hier, wo sich sieben der 28 indischen Bundesstaaten befinden, kam es zu blutigen Zusammenstössen verschiedener Bevölkerungsgruppen. Es gab Dutzende von Toten, niedergebrannte Dörfer, Plünderungen und Hunderttausende von Flüchtlingen. Die Armee musste eingreifen, Ausgangssperren und Flüchtlingslager einrichten. Doch damit nicht genug: auf der Suche nach Arbeit und Studium halten sich viele Nordostler in den grossen Städten wie Bangalore, Mumbai und Chennai auf. Massive Morddrohungen gegen sie und die Gefahr von Gewaltakten führten zu einer panikartigen Flucht zurück in die Heimat. Allein aus Bangalore waren es in zwei Tagen über 15.000 Menschen, die in überfüllten Sonderzügen die tausende Kilometer lange Zugfahrt nicht scheuten, um bei ihren Familien zu sein. Premierminister Manmohan Singh musste seine Landsleute beschwören, Ruhe zu bewahren und eine Eskalation der Gewalt nicht zuzulassen.
Die Region im äussersten Nordosten ist seit jeher ein Sorgenkind Indiens. Dabei könnte der Nordosten eine Idylle sein. Unverwechselbar ist die Natur mit Himalaya-Gipfeln, dem Brahmaputra-Becken, einer seltenen Fauna und Flora im regenreichsten Gebiet der Erde. Man braucht schon eine gute Landkarte, um Arunachal Pradesh, Assam, Manipur, Meghalaya, Mizoram, Nagaland und Tripura zu finden. Auf 254.000 Quadratkilometern leben hier 45 Millionen Menschen, zu einem grossen Teil ethnische Gruppen und Stammesbewohner, die in Indien „Adivasis“, die „ersten Bewohner“ genannt werden. Das Gebiet ist fast vollständig von den Nachbarstaaten Bangladesh, Myanmar, China und Bhutan umgeben und nur durch einen schmalen Korridor mit dem Hauptland verbunden. Hier ist auch eines der grossen Probleme mit China angesiedelt: Arunachal Pradesh, immerhin 83.000 Quadratkilometer gross, wird von China beansprucht. Es war sogar nach Kampfhandlungen mit indischen Truppen 1962 von der chinesischen Armee kurzfristig besetzt. Die isolierte Lage und damit schicksalhafte Verbundenheit trugen den nordöstlichen Staaten die Bezeichnung „Die sieben Schwestern“ ein.
Aber nicht China bereitet gegenwärtig Sorge, sondern die schwierige Integration der Nordostregion und seiner Bewohner in den indischen Staatenverbund. Der Reichtum des dünn besiedelten Gebietes mit seinen „unterentwickelten“ Stämmen zog in der Vergangenheit immer wieder Invasoren und Einwanderer aus der indischen Tiefebene an. Der indo-arische Kulturraum reicht nur knapp über Bengalen hinaus, der sich daran anschliessende Lebensraum hat tibetische und südostasiatische Wurzeln. Lebensweise und Kultur sind hier nord- und ostwärts gewandt, nicht westwärts nach Indien. Die Sprache ist tibetisch-birmesischen Ursprungs, die des Stammes der Khasis sogar mit Khmer und Vietnamesisch verwandt. Vorurteile im Hauptland Indien gegen die Nordostler haben hier ihre Ursache. Im noch immer kastengeprägten Mutterland sind offene und versteckte Diskriminierung dieser Menschen, die sich schon durch ihre Gesichtszüge – von tibetisch bis südostasiatisch – vom Durchschnittsinder unterscheiden, zu spüren. Bereits vor Jahrhunderten mussten die Ureinwohner ihre Eigenständigkeit und ihr Land gegen Invasoren und Einwanderer aus der indischen Tiefebene verteidigen. Die englische Kolonialmacht setzte unzählige Male das Militär gegen die Einheimischen ein. Trotz aller Gegenwehr wurden immer mehr Inder angesiedelt, in Assam entstanden grosse Teeplantagen. Amerikanische Freikirchen betrieben eifrige Missionstätigkeit, so dass heute 18 Prozent der Bevölkerung Christen sind ( in ganz Indien sind es nur 2,3 Prozent).
Das unabhängige Indien erbte die Probleme aus der Kolonialzeit und war nach der Staatsgründung mit dem Streben nach Autonomie und gar Unabhängigkeit konfrontiert. Menschenrechtsorganisationen zufolge forderten Militäreinsätze allein im Naga-Aufstand 1956-1963 bis zu 100.000 Opfer. Die offene Rebellion gegen den Staat ist heute weitgehend gebannt, da Autonomiebestrebungen legitimiert wurden. Von Assam wurden wiederholt Siedlungsgebiete mit Stammesbevölkerung abgetrennt und neue Bundesstaaten geschaffen. So Nagaland 1963, Meghalaya und Manipur 1972 sowie Mizoram 1987.
Nach wie vor hält aber der Zustrom von Einwanderern an, meist aus dem übrigen Indien, oft aber auch illegal aus dem übervölkerten Bangladesh. Mitte Juli entluden sich die Spannungen im Südteil von Assam. Hier wehrt sich seit Jahren die Volksgruppe der Bodo gegen Ansiedlungen und besteht auf ihren Landrechten. Berichten zufolge wurden zuerst muslimische Siedler getötet; die Muslime schlugen zurück, Opfer waren hinduistische Bodos. Der Konflikt eskalierte, er hat längst Merkmale von Pogromen und Banditentum angenommen. Im Trüben fischen auch Gruppen mit maoistischem Gedankengut, die sich wie vor Jahrzehnten zu „Befreiungsfronten“ stilisieren möchten. Im jetzigen Konflikt hat angeblich eine „Kamtapuri Befreiungsorganisation“ die ersten Schüsse abgegeben. Die Volksgruppe der Kamtapuris lebt im nördlichen Westbengalen und dem daran angrenzenden Assam. Sie fordert offizielle Anerkennung ihrer Sprache sowie einen eigenen Staat. Gleich nebenan operiert die „Vereinigte Befreiungsfront von Assam“, die mit geschätzten 3.000 bis 6.000 Kämpfern ihre Basen in Dschungelgebieten an den Grenzen zu Bhutan und Bangladesh hat und mit Anschlägen, Attentaten und Entführungen auf sich aufmerksam macht. Militante Splittergruppen gibt es auch unter den Nagas. Ihr Lebensraum erstreckt sich über mehrere Bundesstaaten sowie Myanmar, demzufolge wird ein von Indien unabhängiges Gross-Nagaland gefordert. Die Separatisten finanzieren sich zunehmend durch Drogenhandel, der von Myanmar westwärts durch ihr Gebiet verläuft.
Im gesamten indischen Staatsgebiet gibt es eine Stammesbevölkerung von 80 bis 85 Millionen Menschen, organisiert in 460 Völkern und Gemeinschaften. Die Adivasis leben von Ackerbau und Viehhaltung, die Wälder sind ihre Lebensgrundlage. Gemeinsam mit den Kastenlosen, den Dalits, gelten sie als die Benachteiligsten und Ärmsten des Landes. Etwa 90 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, zehn Millionen allein in den Slums der Grossstädte. In der Verfassung werden sie als „scheduled tribes“ – registrierte Stämme – geführt und als förderungswürdig angesehen. Es gibt dazu Gesetze, Programme, Quotenregelungen. Obwohl sich an ihrer Lage wenig geändert hat, ruft das immer wieder den Neid und den Widerstand anderer bedürftiger Gruppierungen hervor. Dabei werden auch heute noch Bergbau, Industrieansiedlung und Infrastrukturvorhaben auf Kosten der Adivasis vorgenommen, die umgesiedelt oder einfach vertrieben werden. Schärfster Kritiker dieser Praktiken ist die Schriftstellerin Arundathi Roy, uns vor allem durch ihr Buch „Der Gott der kleinen Dinge“ bekannt.
Die aktuelle Lage in der Nordostregion wirft natürlich Fragen über die zukünftige Entwicklung auf. Verständlicherweise hütet der indische Staat die territoriale Integrität der Region wie seinen Augapfel. Militärische Aktionen gegen Rebellen finden immer wieder statt, aber zugleich laufen ständig Verhandlungen und gibt es Abkommen mit Stammesverbänden. Auch fließen beträchtliche finanzielle Mittel, um separatistischen Bestrebungen den Boden zu entziehen. Die vielen selbsternannten „Befreiungsfronten“ mit ihren divergierenden Interessen schaffen zwar Probleme, stehen aber letztendlich auf aussichtslosem Posten. Bleibt das Rätsel der panikartigen Flucht von Zehntausenden Nordostlern aus dem Süden Indiens in ihre Heimat. Diese soll mittels massenweise versandter SMS-Botschaften ausgelöst worden sein. Der Innenminister machte zwar sofort Pakistan dafür verantwortlich, nach Medienanalysen waren jedoch in der Vergangenheit für das verantwortungslose Schüren von Konflikten zwischen ethnischen und religiösen Minderheiten meist hinduchauvinistische Kräfte verantwortlich. Auch jetzt gebe es entsprechende Hinweise. Nur sie hätten gegenwärtig Interesse daran, die Regierung in Neu Delhi in Schwierigkeiten zu bringen. Die Parlamentswahlen 2014 lassen grüssen, so glaubwürdige Kommentare.