Es war gewiss ein Zufall, dass ausgerechnet am Freitag, dem 13.September 2013, der erste Kandidat für das Amt des Premierministers für die näher rückenden Wahlen zum indischen Unterhaus nominiert wurde. Doch findige Kommentatoren verbanden sofort den Namen des Kandidaten mit dem ominösen Datum, denn hier handelte es sich um Narendra Modi, umstrittenster indischer Politiker des letzten Jahrzehnts, den die hindunationalistische Indische Volkspartei(BJP) auf dieses Podest hob. Von vielen Indern wird dieser Mann als Heilsbringer, gar als Retter für das von Problemen gebeutelte Indien angesehen. Andere hingegen lehnen ihn strikt ab und erwarten unter seiner Führung das Schlimmste für das Land.
Narendra Modi, 64 Jahre, aus bescheidenen Verhältnissen kommend, spaltet seit Jahren die öffentliche Meinung. Seit zwölf Jahren regiert er als Ministerpräsident das Bundesland Gujarat und hat in dieser Zeit seinen Staat kräftig vorangebracht. Eine moderne Infrastruktur wurde geschaffen, die eine schnelle Industrialisierung durch nationale und internationale Konzerne nach sich zog. Heute ist Gujarat mit seinen 60 Millionen Einwohnern der wirtschaftliche Vorzeigestaat in Indien; die rasante Entwicklung wird oft mit China verglichen. Kritiker bemängeln allerdings, dass soziale Fragen, wie auch Bildungs- und Gesundheitswesen auf der Strecke geblieben sind. Trotzdem wird Modi als fähiger Administrator angesehen, der „indische Krankheiten“ wie Bürokratie, Korruption und Cliquenwirtschaft nicht zulässt, Investitionen anzieht und zudem ein Gespür für Innovationen hat. Dafür bekommt er aus dem In- und Ausland Beifall, von den einflussreichen einheimischen Wirtschaftsführern wird er nahezu vergöttert.
Doch das ist nicht der ganze Narendra Modi. Seine Persönlichkeit ist seit früher Jugend durch die hindunationalistische Organisation „Nationale Freiwilligenorganisation“ (RSS) geformt. Diese will ein „wahres Hindutum“ in Indien durchsetzen, was das Zurückdrängen anderer, „fremder“ Volksgruppen, insbesondere der Muslime, beinhaltet. Ganz Indien ist von ihrem hierarchisch stark gegliederten Netzwerk überzogen, die Mitgliederzahl umfasst viele Millionen. Diese werden sportlich-militärischen Aktivitäten sowie ideologischen Schulungen mit streng hindunationalistischer Ausrichtung unterworfen, die fähigsten Kader beschreiten eine Funktionärslaufbahn. So auch Modi, der 1987 in die BJP (diese Partei wird von vielen als der politische Arm der RSS angesehen) wechselte und seitdem dort führende Ämter bekleidet. Im Jahr 2001 wurde er durch seine Partei in das Amt des Ministerpräsidenten von Gujarat eingesetzt, das bereits seit 1987 von der BJP regiert wurde. Als ein Jahr später dort antimuslimische Gewalttaten ausbrachen, die weit über tausend Opfer forderten, versagte Modi jedoch als nationaler Staatsmann. Statt die Unruhen sofort wirksam einzudämmen, verhielt er sich zunächst passiv. Minister seiner Regierung machten sich sogar zu Anführern des hinduchauvinistischen Mobs, und Modi schaute erst einmal weg. Vorwürfe wegen unterlassener Hilfe und gar Begünstigung der Hinduschläger führten zu Gerichtsverfahren gegen Modi, die sich ewig hinzogen und letztendlich nichts erbrachten. Wegen massiver Verletzung der Menschenrechte verhängten die USA und die EU-Staaten damals für ihn eine Einreisesperre, deren Aufhebung gegenwärtig eifrig betrieben wird. Bekannt geworden ist die Haltung des damaligen deutschen Botschafters in Indien, der eine Einladung nach Gujarat mit der Bemerkung ablehnte, dass er keine blutbefleckten Hände schüttele.
Modi bestreitet bis heute eine Mitverantwortung für die Massaker in seinem Staat. Er hofft auf das Vergessen und hat zudem eine enorme Medienkampagne in Gang gesetzt, die ihn als erfolgreichen Staatsmann und gläubigen Hindu zeigt.
Es ist verständlich, dass ein Politiker mit einer derartigen vita im säkularen Indien auf Vorbehalte stößt, die bis in die Führung seiner Partei reichen. Trotzdem wurde er als Spitzenkandidat für den bevorstehenden Wahlkampf nominiert. Das ist nicht nur das Ergebnis einer seit längerer Zeit laufenden geschickten Selbstinszenierung Modis, sondern auch die Entscheidung der Parteigranden von RSS und BJP, die die Zeit für gekommen sehen, in Indien die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Und in der Tat ist dafür die Gelegenheit günstig. Das Land kommt wirtschaftlich nicht voran, das gesellschaftliche Leben scheint wie gelähmt. Dringende Reformen auf allen Gebieten werden durch die gegenwärtige Regierung nicht energisch angepackt, so dass das enorme Potenzial des Landes sich nicht entfalten kann. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist groß, vor allem die Jugend sieht keine Perspektiven. Und so sehen Meinungsumfragen gegenwärtig Modi und seine Partei vor allen anderen politischen Konkurrenten.
Sicherlich wäre es verfehlt, Modi schon heute ein siegreiches Durchmarschieren bis ins Amt des mächtigsten Mannes Indiens zu bescheinigen, zumal die Wahlen erst im April 2014 stattfinden. Doch Modi und seiner Partei ist gegenüber dem Erzfeind, der regierenden Kongresspartei, erst einmal ein Überraschungscoup gelungen. Denn diese traditionsreiche Partei verzettelt sich im politischen Alltag und scheint den strategischen Überblick verloren zu haben. Zudem wiegt man sich in einer trügerischen Sicherheit, indem man auf Rahul Gandhi, den jüngsten Spross der Nehru-Gandhi-Familie, setzt. Doch dieser hat bis heute keine eindeutige Zustimmung zu der ihm zugedachten Rolle als Kandidat für den Premierministerposten signalisiert. Scheu vor politischer Verantwortung, Unerfahrenheit, Bescheidenheit und Zurückhaltung? Rahul Gandhi gibt Rätsel auf, die vom Gegner weidlich ausgenutzt werden. Schon jetzt ist zu erkennen, dass dieser die Wahl zu einem „leadership referendum“ gestalten will, also einer Abstimmung über die Führungsqualitäten der jeweiligen Kandidaten. Und da hat Narendra Modi weit die Nase vorn, zumal er Charisma ausstrahlt, überzeugt reden und natürlich mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen wuchern kann. Die Erfolgsbilanz eines Rahul Gandhi ist dagegen dürftig, er ist nur als fleissiger Parteiarbeiter bekannt, eine Profilierung als nationale Führungspersönlichkeit fehlt. Allein die Herkunft aus der angesehensten Familie des Landes, auf die die Spitze der Kongresspartei baut, dürfte heute nicht mehr genügen.
Narendra Modi hingegen, von seiner Partei und deren Massenorganisationen getragen, betreibt derweil schon fleißig Wahlkampf. Gelegenheit dafür bieten ihm bevorstehende Landtagswahlen in drei Bundesstaaten und dem Unionsterritorium Delhi, in denen nahezu 200 Millionen Menschen leben. Für Modi ist es die beste Gelegenheit, so nicht nur für die BJP auf Bundesstaatenebene, sondern auch für sich zu werben. Und da ist Erstaunliches zu hören. Vor Armeeveteranen zeigte der bisherige Pakistanhasser plötzlich überraschend Verständnis für die Probleme des Nachbarstaates. Und auf einer Kundgebung in Bhopal ließ er 50.000 Plätze für die muslimische Minderheit reservieren, die – damit sie auch gesehen wird – in ihrer traditionellen Kleidung erscheinen musste. Auch Delhi will er für seine Partei und für sich im Sturm erobern. Am 29. September werden zu seiner Großkundgebung 500.000 Teilnehmer erwartet. Zusätzlich sollen durch 100 Grossbildschirme auf den belebtesten Plätzen der Stadt und des Umlandes noch einmal 2,5 Millionen Menschen erreicht werden. Die indische Presse spricht von einem „Blitzkrieg“ Modis zum Wahlauftakt.
Bereits jetzt wird deutlich, dass die hindunationalistischen Kräfte in Indien unter Einsatz aller Mittel in die Offensive gehen, während das übrige Indien vor sich hin dämmert. Für die säkularen Kräfte des Landes könnte es ein böses Erwachen geben. Hoffen wir, dass die Mär vom Wolf, der Kreide frisst, auch in Indien überzeugt. Erste warnende Stimmen vor einem Premierminister Modi sind zu hören. Indien bereitet sich auf einen heißen Wahlkampf vor.