Es sieht nicht gut aus

In der Corona-Krise erstarkt ein autoritärer Politikmodus

Es herrscht gespenstische Leere auf dem Platz, dort wo sonst Straßenverkäufer*innen ihre Waren anpreisen und mobile Essenstände die Leute mit Mahlzeiten versorgen. Nur vereinzelt huschen einsame Gestalten durch die umliegenden Gassen und versuchen Kontakt zu anderen einsamen Gestalten aufzunehmen, um ihnen etwas unter der Hand zu verkaufen. Ein Mannschaftswagen der Polizei fährt mit quietschenden Reifen vor, es springen mehrere Polizisten heraus. Mit Schlagstöcken prügeln sie auf alle ein, derer sie habhaft werden, aund bedrohen sie: »Du sollst zuhause bleiben, du Nichtsnutz! Gehorche der Regierung, sonst erschießen wir dich.«

Was wie eine etwas allzu plakativ geratene Schilderung aus einem dystopischen Roman wirkt, ereignet sich derzeit alltäglich in Kenia, Südafrika, Nigeria, Indien oder auf den Philippinen. Das Netz ist voll mit Handyvideos davon. Die Liste der Länder, in denen Corona-Ausgangssperren mit brutaler Gewalt und geradezu sadistischer Grausamkeit von den Ordnungskräften durchgesetzt werden, ist zu lang, um sie hier wiedergeben zu können. Menschenrechtsorganisationen sind entsetzt, wie schnell grundlegende Bürger*innenrechte gekippt wurden, um Kontaktverbote und ähnliches durchzusetzen – mit dem Argument, nur so die Verbreitung des Coronavirus bremsen zu können. Die Willfährigkeit, mit der die massiven Maßnahmen durchgesetzt werden, lässt die Bekämpfung des Virus jedoch oft wie einen willkommenen Vorwand aussehen, um die Souveränität des starken Staats endlich einmal voll ausspielen zu können. Carl Schmitt lässt grüßen. Der nationalsozialistische Staatsrechtler schwärmte in seiner »Politischen Theologie«: »Souverän ist, wer über das Ausnahmerecht entscheidet.«

Gezwungen, unvernünftig zu sein

Eine Krise ruft gesellschaftliche Spaltungen und Konfliktlagen in der Regel nicht hervor. Diese sind tief verankert in den Gesellschaften, entsprechende Praxen und ideologische Muster sind langjährig eingeübt. Doch eine Krise wirkt als Verstärker. Das, was sonst nur latent oder punktuell das Gesellschaftliche bestimmt, kann jetzt dominant werden. Die Corona-Krise bringt den autoritären Charakter sowohl der Staaten als auch der Individuen, die seinen Machtanspruch exekutieren, in einem Ausmaß ans Tageslicht, das man sich noch vor wenigen Wochen nicht annähernd ausgemalt hätte.

Epidemiologische Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, wie etwa die Vermeidung des direkten Kontakts zu anderen Menschen, sind derzeit zweifelsohne medizinisch und damit auch politisch geboten. Sie können Ausdruck von Solidarität sein, etwa gegenüber Älteren und Angehörigen von Risikogruppen. Jeder vernünftige Mensch sieht das ein und wird solche Maßnahmen freiwillig umsetzen. Doch müssen die Einzelnen auch die Chance zum freiwilligen vernünftigen Handeln bekommen. Die Macht der Verhältnisse zwingt viele jedoch dazu, unvernünftig zu handeln – wie etwa jene indischen Wanderarbeiter*innen, die sich nicht ins Homeoffice zurückziehen können, sondern sich immer wieder zu verzweifelten Menschenmengen sammeln, um in Überlandbusse oder an ein Essenspaket zu gelangen.

Das derzeit fast überall zu beobachtende überschießende Moment bei der staatlichen Corona-Krisenbewältigung führt zu einem autoritären Politikmodus, in dem Rationalität, Freiwilligkeit und individuelle Rechte nichts mehr zählen. Der ukrainische Präsident Wolodymor Selenskyi bringt diesen neuen illiberalen Ungeist so auf den Punkt: »Die Erfahrungen aus China zeigen, dass harte Entscheidungen das Virus überwinden und Leben retten können. Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass Weichheit und Liberalität Verbündete des Virus sind.« Auf die naheliegende Idee, dass der Hauptverbündete des Virus der Mangel an Schutzausrüstung und an medizinischen Kapazitäten ist, kommt der binnen weniger Monate vom Komiker zum Kraftmeier gereifte Selenskyi nicht.

Typologie der autoritären Coronapolitik

Eine vorläufige Typologie der autoritären Strategien in der Corona-Krise fördert mindestens sechs Typen zu Tage. Da ist zum ersten der Ansatz des Leugnens, Ignorierens und Vernachlässigens. Im Westen standen Boris Johnson und Donald Trump für diese Form von Realitätsverleugnung gemäß der Devise, dass nicht sein kann, was nicht sein darf – und waren sich darin solange mit dem iranischen Regime einig, bis sie alle angesichts explodierender Infiziertenzahlen umsteuern mussten. In Brasilien verharmloste Jair Bolsonaro in einem Ausmaß, dass selbst Twitter einige seiner Posts löschte (ein kleiner Hoffnungsschimmer ist, dass erhebliche Teile der brasilianischen Politik und selbst das Militär Bolsonaro die Gefolgschaft verweigerten). Auf die Spitze treibt es Turkmenistans Präsident Gurbanguli Berdymuhamedow. Er wies die Medien an, das Wort »Corona« gänzlich zu meiden. Wer in der Öffentlichkeit über die Pandemie spricht, riskiert eine Festnahme. Zum Typus des Leugnens zählen übrigens auch die Verschwörungstheorien, die Corona für eine Erfindung der Pharmaindustrie halten oder jüdische Machenschaften wittern.

Ein zweiter viral gehender Typus zeigt sich in Grenzziehungen und der Betonung des nationalen Eigennutzes. Das Schließen von territorialen und sonstigen Grenzen hat zwar zur Eindämmung des Coronavirus nichts beigetragen. Doch fast kein Nationalstaat konnte der Versuchung widerstehen, auf diese Weise nach innen und außen Souveränität zu demonstrieren. Ausgrenzungserfahrungen, die bislang Migrant*innen vorbehalten waren, wurden nun auf alle EU-Bürger*innen ausgeweitet. Das Denken in nationalen Kategorien zeigt sich auch in der Beschlagnahme von Schutzmasken, die für andere Länder bestimmt waren, und in der schrillen Diskussion darüber, man müsse nun dringend wieder nationale Produktionskapazitäten in systemrelevanten Branchen aufbauen. Internationale Kooperation, gleich auf welcher Ebene, wird zum Auslaufmodell aus der Vor-Corona-Ära.

Besonders rücksichtslos ist der dritte Corona-Typus: die Diskriminierung von Minderheiten und marginalisierten Gruppen. Obwohl es medizinischer Expertise Hohn spricht, werden Geflüchtete stärker denn je in Lagern eingesperrt, sie werden als bloße Bedrohung wahrgenommen. Obwohl der internationale Reiseverkehr fast vollständig zum Erliegen kam, gehen Abschiebungen mancherorts weiter. So flogen zum Beispiel die USA Ende März 120 Geflüchtete nach Guatemala aus, darunter sogar positiv Getestete. Ebenfalls keine singuläre Form der Diskriminierung ist die Praxis südosteuropäischer Behörden gegenüber Roma. Von diesen bewohnte Stadtviertel wurden abgesperrt, was die durch Einkommensverluste ohnehin entstandene Notlage noch verschärft. Vergeblich forderte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma südosteuropäische Regierungen und die EU auf, »nicht zuzulassen, daß Roma erneut als Sündenböcke von Nationalisten und Rassisten mißbraucht werden«.

Ein vierter Typus ist die Unterbindung von Opposition. Viktor Orbáns Durchregieren in Ungarn ist ein naheliegendes Beispiel, aber er ist bei weitem nicht der einzige, der die Gunst der Stunde zur Ausschaltung unliebsamer politischer Bestrebungen nutzt. Auch in Algerien, Libanon, Irak oder in lateinamerikanischen Ländern werden Protestbewegungen in einem Maße niedergeschlagen, das mit der Eindämmung der Pandemie nicht zu rechtfertigen ist.

Ein fünfter Typus ist die Rhetorik des Kriegszustandes. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron setzte den Ton als erster, ihm folgten unzählige Staatchefs. Mittels Zeltlagern und Lazarettschiffen wird das Militär als Retter in der Not inszeniert, auch die Bundeswehr nutzt die Chance zur Imageverbesserung. Die nächste Eskalationsstufe dürfte die bewaffnete Durchsetzung von Grenzziehungen aller Art sein.

Der sechste und gewiss nicht letzte Typus autoritärer Coronapolitik ist die Durchsetzung des digitalen Überwachungsstaates durch die Nutzung von Big Data. China und Südkorea gaben den Vorreiter, westliche Staaten ziehen nach. Beispiel Österreich: Ohne dass es eine Gesetzesgrundlage oder eine Diskussion darüber gegeben hätte, erstellte die Bundesregierung Bewegungsprofile der Bevölkerung. Der größte Mobilfunkanbieter des Landes, A1, hatte in vorauseilendem Gehorsam die Daten von fünfeinhalb Millionen Nutzer*innen übermittelt. Fast überall auf der Welt wird nun die Nutzung von Location Tracking als alternativlos angepriesen, um Infektionsketten zu unterbrechen. Es dürfte äußerst schwierig werden, bisherige Standards von Daten- und Persönlichkeitsschutz wieder durchzusetzen.

Von der Dystopie zur Realität

Es wird sich in den kommenden Monaten bis zum Sommer weisen, ob der autoritäre Krisenmodus ungehindert weiter geht – oder ob das Rad zurückgedreht werden kann. Ehrlich gesagt: Es sieht nicht gut aus. Es mangelt fast allerorts auf dieser Welt an einer starken linken oder liberalen Opposition, soziale Bewegungen sind erst recht marginalisiert. Es wird zwar scharfe soziale Auseinandersetzungen geben, etwa in Form von Brotrevolten. Aber selbst wenn es gut läuft, werden sie nur punktuell Not lindern und kaum etwas an der himmelschreienden Verteilungsungerechtigkeit ändern. Die Corona-Krise hat das Potential, die EU vollends zu spalten und die UNO endgültig handlungsunfähig zu machen. Noch profitieren rechte Parteien nicht von alledem, aber auch das kann sich bald ändern.

Das Erschreckende an Dystopien ist, wie schnell sie manchmal zu adäquaten Realitätsbeschreibungen werden können.

Christian Stock ist Mitarbeiter im iz3w.