Die Causa Assange führt den Rechtsstaat ad absurdum

Julian Assange?
Ist das nicht der pro-russische Spion, der Vergewaltiger, Narzisst, der mutmaßliche Kinderschänder, der völlig enthemmte Typ, der seinen Kot an die Wände der Botschaft schmierte, die ihm lange Zuflucht gewährte?
Was für ein menschlicher Kotzbrocken, nicht wahr?
Das ist das vorherrschende mediale Bild von Assange, und kaum einer kann sich dem entziehen. Auch Nils Melzer, seit 2016 UN-Sonderbeauftragter für Folter, war davon zunächst geprägt, wie er vor einiger Zeit einräumte.
Die öffentliche Charakterhinrichtung, die bei Snowden nicht gelang, zeitigte volle Wirkung bei Assange. Denn Snowden beschränkt sich immer auf sein Kernthema: den Überwachungsstaat. Assange dagegen hat sich zu allen wesentlichen politischen Vorgängen geäußert, bis ihm der Mund gestopft wurde. Wikileaks veröffentlichte wichtige (geheime) politische Dokumente, allesamt echt. Jede Veröffentlichung war für irgendeine Seite ein Tiefschlag in die Magengrube.
So schafft man sich keine Freunde. Wer mag schon den ewigen Dissidenten, der sich überall ungefragt einmischt, die westliche demokratische Ordnung ständig als etwas Unvollkommenes darstellt, Wunden schlägt und dann auch noch öffentlich Salz hineinstreut?
So jemandem schlägt keine Welle offizieller Solidarität entgegen. Auch dann nicht, als unübersehbar wurde, dass Assange von Anfang an zu Recht politische Verfolgung durch die USA befürchtete. Ecuador lieferte schließlich Assange aus, unter dem Druck Washingtons. Und schwupps landete Assange im Gewahrsam der Briten, unter den denkbar harschesten Bedingungen, im Hochsicherheitstrakt, in Einzelhaft. Niemand nahm die Untersuchungen eines Journalisten von La Repubblica ernst, der beweisen konnte, dass die Briten dafür gesorgt hatten, dass die Schweden ihre Untersuchungen zu den Vergewaltigungsvorwürfen (mangels Beweisen) nicht einstellten. In Angelegenheiten von Assange und Wikileaks hören westliche Politiker und Medien lieber weg und zeigen keine Empörung, dass die CIA Assange seit vielen Jahren mit Hilfe einer spanischen Überwachungsfirma ausspionierte, einschließlich seiner Gespräche mit seinen Anwälten in der Damentoilette der Botschaft von Ecuador in London. Die Angelegenheit wird derzeit in Spanien vor Gericht behandelt, wie El Pais berichtete.
Jede Menge sogenannter Verteidiger der Menschenrechte duckten sich regelrecht weg, als Melzer Ende Mai 2019 ein vernichtendes Urteil über den Umgang mit Julian Assange abgab. Melzer sagte wörtlich, er habe es „in seiner ganzen Praxis [noch nie erlebt], dass demokratische Staaten sich miteinander verbünden, um einen einzelnen Menschen über so lange Zeit zu isolieren, zu dämonisieren und zu missbrauchen, mit solcher Geringschätzung für die menschliche Würde und die Rechtsstaatlichkeit“. Melzer erklärte nach seinem Besuch im Hochsicherheitsgefängnis überdies, er sei einem gefolterten Menschen begegnet. Melzer war von zwei Medizinern begleitet worden.
Jüngst gab es eine Anhörung von Assange vor Gericht. Der Guardian vermerkte, dass Assange beunruhigende gesundheitliche Probleme aufweise. Ein Freund von Assange, Craig Murray, fand sehr viel deutlichere Worte, und diejenigen, die mit ihm der Anhörung beiwohnten, bestätigten den dramatischen körperlichen und geistigen Verfall des nicht einmal 50-Jährigen.
Was folgte, ist erbärmliches offizielles Schweigen. Und das ist absolut inakzeptabel. Gleichgültig, ob wir Assange und sein Wikileaks-Projekt gut finden oder verabscheuen, die mutmaßliche Folter eines Menschen ist die Sollbruchstelle. Da reicht es nicht, wie die Bundesregierung, pauschal zu erklären, man habe Vertrauen in die britische Rechtsstaatlichkeit. Nach dem Völkerrecht müssen Foltervorwürfe untersucht werden.
Im Fall Assange geht es heute möglicherweise vor allem darum, ein Leben zu retten. Das Leben eines Menschen, den man vielleicht nicht mag oder gar als Feind ansieht. Doch man kann es drehen und wenden wie man will: Assange ist der Lackmus-Test, wie wir es mit den Menschenrechten halten.
Die Realität ist: Whistleblower zu werden, ist gefährlich. Auch in einer Demokratie. Zumindest dann, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die mit dem diffusen Begriff der „nationalen Sicherheit“ zu tun haben. Und die, die solche Whistleblower unterstützen, werden in der Regel ebenfalls niedergemacht.
Wer fraternisiert unter solchen Umständen schon gerne mit den Ellsbergs, Drakes, Kiriakous, Mannings oder Snowdens dieser Welt? Sie sind gut für ein paar Titelgeschichten und dann werden sie medial fallen gelassen, zur Jagd freigegeben. Die bloßgestellten staatlichen Stellen sind erbarmungslos in ihrem Wunsch nach Vergeltung.
NYT, Spiegel und Guardian publizierten damals in Partnerschaft mit Wikileaks die Enthüllungen von Manning über die dunkle Seite der US-amerikanischen Kriege in Afghanistan und Irak, die dunkle Seite US-amerikanischer Außenpolitik. Manning wurde verhaftetet, gefoltert, verurteilt, von Obama begnadigt. Heute sitzt sie in Beugehaft, weil sie sich nicht an einer Anklage gegen Assange beteiligen will.
Assange ist angeklagt, weil er die von Manning gestohlenen Dokumente veröffentlichte (und weil er ihr angeblich half, sie zu stehlen).
Die damals noch beteiligten Medien überbieten sich darin, so zu tun, als ginge sie das gar nichts an. Ihre Empörung gilt verbalen Presseattacken von Trump, nicht den realen Gefährdungen des Journalismus.
„Democracy dies in darkness“ bläut die Washington Post täglich ihren Lesern ein, aber offenbar gibt es Dunkelheit, die ans Licht gezerrt werden darf und Dunkelheit, die man besser im Dunkeln lässt.
Wikileaks hat weder Atomcodes noch Formeln für chemische und biologische Waffen veröffentlicht, sondern politische Missstände aufgedeckt. Mit mangelndem Respekt für persönliche Daten, wie Snowden zu Recht kritisierte. Aber die heute inkriminierten Veröffentlichungen warfen keine sicherheits- oder verteidigungspolitisch relevanten Probleme auf, wie der Guardian 2011 mit Bezug auf das Pentagon korrekt darstellte. Zudem ist aufgrund von britischen und amerikanischen Richtersprüchen außer Streit, dass Assange ein Journalist und Wikileaks eine Veröffentlichungsplattform ist.
Aber diese Veröffentlichungen schadeten unzweifelhaft dem Ansehen der USA. Dem weißen Ritter, der ewig nobel handelt, wurde die Maske vom Gesicht gerissen. Statt jedoch Lehren aus den Entartungen zu ziehen, die offenbar auch eine Demokratie befallen können, wurde der Bote der schlechten Nachricht zum Hassobjekt. So steht der Fall Assange als Drohung im Raum: Wehe dem, der noch einmal wagt, in die Öffentlichkeit zu bringen, was im Dunkeln begraben bleiben soll.
Nach der Gesetzeslage in den USA sind die Motive eines Whistleblowers nicht wichtig. Nur die Tat. Durch die Anklage von Assange kann sich jeder inzwischen ausrechnen, was Snowden passiert wäre, wäre der nicht in Moskau gestrandet
Es lohnt, sich die Motive solcher Whistleblower wie Manning und Snowden genau anzusehen. Sie erklärten mehr oder minder gleichlautend, dass sie, mit staatlichen Fehlverhalten konfrontiert, zunächst warteten, dass andere den Mund aufmachen würden. Dass sie schließlich erkannten, die Sache selbst in die Hand nehmen zu müssen. Weil es im öffentlichen Interesse lag: Sie wollten einen Krieg beenden oder verhindern (Ellsberg, Drake, Knigthley), staatlich sanktionierte Folter aufdecken (Kiriakou), Kriegsverbrechen offenbaren, despotische Außenpolitik offenlegen (Manning) oder, wie Snowden, der der Massenüberwachung Einhalt gebieten wollte.
Und was wollen wir?