Minusvisionen in der Mittelklasse.

Soziale Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand als Leitbegriffe neuer sozialer Ungleichheiten.

Die Lage und die Zukunft der Mittelklasse[1] kehren auf die Bühne der Zeitdiagnostik und in die Arena politischer Verteilungskonflikte zurück. Erworbene soziale und berufliche Positionen verlieren an Stabilität und Gewissheit. Die mittleren Lagen der Gesellschaft, die Facharbeiter, Techniker und Ingenieure in der industriellen Fertigung bzw. in industrienahen Dienstleistungen, aber auch die Fachangestellten in der Wohlfahrtspflege und der öffentlichen Verwaltung sehen sich mit neuen sozialen, beruflichen und wirtschaftlichen Gefährdungen konfrontiert. Dieser Problematik versucht die gesellschaftswissenschaftliche Debatte gerecht zu werden, wenn sie seit einigerZeit von sozialer Verwundbarkeit und Prekarität spricht. In diesen beiden Formelnkristallisieren sich neue Prozesse sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit. Die Veränderungen der Arbeitswelt kommen in den Blick, aber auch wichtige Umbautender wohlfahrtsstaatlichen Architektur. Nervositäten und Ängste, den sozialen,materiellen oder beruflichen Halt zu verlieren, werden sichtbar. Doch wie, wo und wodurch und mit welchen Folgen für das Gesamtgefüge der Gesellschaft istdie Mittelklasse bedroht? Drei Fragen sind zu stellen: Wie steht es um die Mitte der Gesellschaft? Wer ist in der Mitte der Gesellschaft gefährdet? Welche Gestalt nimmt die soziale Mitte an?

 

Wie steht es um die Mitte der Gesellschaft?

Die Sozialforschung entdeckt in zahlreichen Studien der jüngeren Zeit eine mehr und mehr von Gegenwartsbesorgnis und Zukunftsangst gezeichnete Mittelklassegesellschaft – überall in Europa(vgl. Chauvel 2006; Heitmeyer 2006; Vester 2005 oder Paugam/Gallie 2002). In diesen Besorgnissen spiegeln sich nicht nur gefühlte oder vermutete Ungleichheiten,sie haben gute Gründe und eine realwirtschaftliche wie auch politische Basis. Auf der einen Seite wächst das soziale Niemandsland der Armut, der Arbeitslosigkeitund der Gelegenheitsjobs. Auf der anderen Seite vermehren sich Einkommen und Vermögen exponentiell. Kein Wunder, dass in der Mitte der Gesellschaft Anspannung und Nervosität regieren (vgl. Vogel 2009). Die hoffnungsfrohe Karriereplanung und der aussichtsreiche Zugewinn stehen für viele schon lange nicht mehr an der ersten Stelle der Tagesordnung. Die Mehrheit der Bevölkerung scheint angestrengt um Wohlstandssicherung und Klassenerhalt bemüht zu sein. Ins Zentrum politischer Konflikte treten mithin die Fragen nach der Gewährleistung und der Verteilung des Wohlstands. Die statusbewusste Mittelklasse bemerkt die Verwundbarkeit ihrer sozialen und beruflichen Positionen und die wachsende Prekarität ihres Wohlstands und ihrer Konsumkraft.

Tatsächlich deutet vieles daraufhin, dass sich das Ungleichheitsgefüge nach unten öffnet. Abwärtsbewegungengewinnen an Kraft. So zeigen die Analysen des Datenreports des Statistischen Bundesamtes zur Entwicklung der „sozialen Mobilität“, also zu den sozialen Auf-und Abstiegen, dass im Zeitraum von 1976 bis 2004 die vertikale Mobilitätgegenüber der horizontalen Mobilität deutlich zugenommen hat (StatistischesBundesamt 2006: 597ff.). Hinter verstärkter vertikaler Mobilität verbergen sichin erster Linie soziale Abstiegsprozesse. Aktuelle Studien zurEinkommensentwicklung in der Mittelklasse unterstreichen die Dynamik dieser Prozesse  (vgl. Horn u.a. 2008sowie Grabka/ Frick 2008). Doch was sind die Gründe für die Verstärkung derAbwärtsmobilität? Die Eckpfeiler der Mittelklassewelt – die Familie, die Bildung und die Erwerbsarbeit - haben an struktureller Tragfähigkeit, aber auchan normativer Überzeugungskraft verloren. Wenn Grübeleien übers Kinderkriegenoder Streitigkeiten um Sorgerechte den Familiensinn eintrüben, wenn Pisa-Studien und Elitedebatten die Bildungshoffnungen zermürben, oder wenn einstmals solide betriebliche Mittelstandsmotoren wie Siemens, Allianz, Opel oderVolkswagen ins Stottern kommen, dann geraten Status und Wohlstand derer inGefahr, die sich noch vor Kurzem auf der sicheren Seite des sozialen undwirtschaftlichen Fortschritts wähnten.

Nach wie vor ist die Erwerbsarbeitder zentrale Ort sozialer Integration, materieller Lebensführung, symbolischerAnerkennung und personaler Identitätsstiftung. Doch prekäre Arbeitsformengewinnen Raum, sozialpartnerschaftlich und wohlfahrtsstaatlich gesicherte Zonendes Arbeitens schrumpfen (vgl. Oschmianski 2007; Böhnke 2005). Die Leiharbeit durchsickert seit einigen Jahren die industriellen Stammbelegschaften. Die Ein-Euro-Jobber machen sich in öffentlichen Diensten breit. Die Befristung von Arbeitsverträgen ist in nahezu allen Branchen des Wirtschaftslebens ebenso neue Normalität wie das allgemeine Praktikantenwesen. Aber nicht alleine die Verluste an Substanz und Tragfähigkeit der Familie, des Bildungssystems und derErwerbsarbeit lassen in der Mitte der Gesellschaft Abstiegsängste und Deklassierungsfurcht wachsen. Die sozialen Gefühlslagen der Verwundbarkeit undder Prekarität sind in besonderer Weise mit der Umgestaltung und Neuordnung des Wohlfahrtsstaates verknüpft. Denn das wohlfahrtsstaatliche Arrangement  war neben der Erwerbsarbeit derzentrale Aufstiegsgarant und Integrationsmotor der vergangenen Jahrzehnte.

Der Kernpunkt der aktuellenreformpolitischen Neujustierungen ist zweifelsohne die Abkehr vom staatlichgarantierten Prinzip der Status- und Lebensstandardsicherung. Ein wichtiges Schlüsselelement war hier die Statussicherung im Falle des Arbeitsplatzverlustes. Doch im Rahmen der „Hartz-Reform“ wurde dieses Ziel aufgegeben. Die seit 2002 in Gang gesetzte Reformpolitik wagte sich mit derAbkehr von der Statussicherung in Verbindung mit Prinzipien der stärkeren Selbstbeteiligung und Eigenleistung in der Alterssicherung, derGesundheitsvorsorge oder im Bildungssystem an die Privilegien der Mittelklasse.Mit der Umsetzung der „Agenda 2010“ wird die Neujustierung des Wohlfahrtsstaates nicht mehr nur zu Lasten der gesellschaftlichen Randlagenbetrieben. Die staatlichen Reformmühen werden „mittelklasserelevant“. Ist die soziologische Analyse für diese Veränderungen gerüstet?

Die Begriffe der sozialen Verwundbarkeit und des prekären Wohlstands können weiterhelfen, wenn es darum geht, die faktischen und diewahrscheinlichen Veränderungen der Mittelklasse zu diskutieren. DerBegriff der Verwundbarkeit bringt die gefühlte soziale Ungleichheit ins Spiel(vgl. Castel 2005, Chambers 2006, Vogel 2008). Zugleich geht es aber auch um eine strukturelle Komponente. Das Terrain sozialer Gefährdungen lässt sich nun abstecken und die soziologische Aufmerksamkeit konzentriert sich stärker auf die Kipppunkte derUngleichheitsstruktur und auf die Grenzzustände des Sozialen. Wir bekommen eine breite Zone sozialer Wahrscheinlichkeiten in den Blick. Hier finden sichAbstiegsdrohungen und Deklassierungssorgen, aber auch Aufstiegshoffnungen und Etablierungsbemühungen.

Weit prominenter als der Begriffder Verwundbarkeit ist die Kategorie der Prekarität bzw. des prekären Wohlstands. Ursprünglich war die Redevom prekären Wohlstand in der Analyse der Einkommensverteilung und derBestimmung materieller Armutsrisiken zu Hause. In einer empirischen Studie im Auftrag der „Caritas“ machte der Sozialwissenschaftler Werner Hübinger Anfangder 1990er Jahre auf eine statistisch relevante Einkommenszone aufmerksam, diezwischen verfestigter Armut und gesicherten Wohlstandspositionen angesiedeltist (Hübinger 1996). In dieser Einkommenszone zu „wirtschaften“ und zu „haushalten“ fällt schwer. Das Auskommen mit dem Einkommen wird zu einemProblem. Der erreichte Lebensstandard ist gefährdet. Der Begriff des prekärenWohlstands signalisiert zum einen, dass sich finanzielle Sorgen nicht erst inden verarmten und arbeitslosen Randlagen der Gesellschaft finden lassen. Zumanderen steht er aber auch für ambivalente Erfahrungen und Selbstdefinitionen sowie für die lebens- und arbeitsweltlich erfahrbare Spannung zwischen sozialer Unsicherheit und materiellem Wohlstand.

 

Wer ist in der Mitteder Gesellschaft gefährdet?

Mit den Begriffen der sozialenVerwundbarkeit und des prekären Wohlstands treten in erster Linie die Minusvisionen der Mittelklasse in den Vordergrund.Abwärtsbewegungen werden sichtbar, die als materielle und symbolische Verluste oderals verminderte arbeits- und tarifrechtlicher Schutzrechte daherkommen.Spezifische Konstellationen und Figuren der Bedrohung treten in den Vordergrund: Beispielsweise Alleinverdienerhaushalte, die ihr familiäres Budgetin prekärer Balance zu halten versuchen; Mehrfachbeschäftigte, die mittels „Job-Mix“ ihr Auskommen bestreiten; qualifizierte Fachkräfte, die alsLeiharbeiter den Anschluss an die Arbeitswelt halten wollen; Beschäftigte inKleinbetrieben, die durch den Verzicht auf Lohn und Arbeitnehmerrechte deneigenen Arbeitsplatz zu stabilisieren versuchen; Existenzen prekärer Selbstständigkeit,die sich von Auftrag zu Auftrag hangeln; oder auch Angestellte im öffentlichenDienst, deren berufliche Hoffnungen in den neuen Steuerungskonzepten deröffentlichen Verwaltung ihr Ende fanden. Sie alle repräsentieren nicht die Randlagender Gesellschaft, sondern deren Zentrum.

Im Kern handelt es sich um zwei zentrale Mittelklassemilieus, die in besonderer Weise unter Druck und in Anspannung geraten sind. Die gesellschaftspolitische Brisanz dieser neuen Verschiebungen im Ungleichheitsgefüge besteht darin, dass diese beiden Milieus zentraleTrägerschichten der bundesrepublikanischen Wohlstandsökonomie und ihres politischen Gemeinwesens repräsentieren. Es handelt sich auf der einen Seite um das gewerkschaftlich organisierte Milieu der industriellen Facharbeiterschaft, das sich in den vergangenen Jahrzehnten auf der sozialpolitischen undarbeitsrechtlichen Grundlage tarifvertraglicher Disziplin, gemeinwohlorientierter Mitbestimmung und kompromissbereiter Leistungsbereitschaft etabliert hatte (vgl. Vester u.a. 2007). Auf der anderen Seite attackieren die staatlichen und arbeitsgesellschaftlichen Veränderungenin starkem Maße das Mittelklassemilieu öffentlicher Dienste, das auf klargeordneten Berufslaufbahnen, moderater, aber sicherer Entlohnung und wechselseitigerLoyalität ruht. Insbesondere dieses öffentliche Dienstklassenmilieu verdient andieser Stelle etwas mehr Aufmerksamkeit. Denn prekäre Soziallagen verfestigensich keineswegs nur in industriellen oder in transnationaler wirtschaftlicher Konkurrenz stehenden Arbeitswelten, sondern gerade auch im Bereich deröffentlichen Beschäftigung: im Bildungs- und Gesundheitswesen, in der staatlichen Verwaltung und in den Betrieben der technischen und sozialenDaseinsvorsorge (vgl. Czerwick 2007). Von veröffentlichter Meinung und wissenschaftlicher Expertise weitgehend unbemerkt wird die Gestaltung desgesellschaftlich Allgemeinen mehr und mehr in die Hände eines neuenDienstleistungsprekariats gelegt. In den Diensten und Sorgeleistungen der kommunalen oder staatlichen Verwaltung treffen wir auf die systematische Prekarisierung der Prekaritätsbearbeiter, auf die Verunsicherung der Unsicherheitsbewältiger und eine materielle Abwertung der Armutsverhinderer (vgl.Vogel2009). Doch der öffentliche Dienst ist nicht irgendeine Branche derVolkswirtschaft, in der irgendwelche Güter zu besonderen Bedingungen und mitbestimmten Preisen hergestellt und vertrieben werden. Jugendhilfe,Schulbildung, Krankenpflege, öffentliche Sicherheit oder Leistungen dertechnischen Daseinsvorsorge sind allgemeine Angelegenheiten und keine privaten Kaufentscheidungen wie Küchengeräte, Mobiltelefone oder Automobile. DiePrekarität der Mittelklassemilieus öffentlicher Dienste berührt auch dennormativen Haushalt der Gesellschaft. Die Verschärfung sozialer Ungleichheit andiesen Orten der Gesellschaft droht die Maßstäbe des Gemeinwohls und der öffentlichen Verantwortung zu verschieben bzw. zu demontieren.

Mit Blick auf das soziale Ganze der Mittelklasse liefern uns schließlich aktuelle empirische Studien  interessante Hinweise: Das DeutscheInstitut für Wirtschaftsforschung (DIW) konnte in einer Studie im Frühjahr 2008zeigen, dass sich die Schicht der Bezieher mittlerer Einkommen in Deutschlandzwischen dem Jahr 2000 und 2006 deutlich verringert hat. Die Einkommensmitteder Gesellschaft dünnt aus (vgl. Grabka/Frick 2008). Während in den 1980er Jahren noch annähernd zwei Drittel der Bevölkerung zur Einkommensmitte zählten,sind es heute nur noch etwas mehr als die Hälfte. Interessant für die Entwicklungder Mittelklasse ist vor allem die Tatsache, dass die Abwärtsmobilität in derEntwicklung der Einkommensverhältnisse deutlich überwiegt. Die Mittelklasse „franst“ nach unten aus. Der Einsatz von Leiharbeit, Minijobs und geringfügiger Beschäftigung insbesondere in den Bereichen der Facharbeit und der Fachangestelltentätigkeitforcieren diese Abwärtsbewegungen. Eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) weist deutlich auf diese Entwicklung hin (vgl.Horn u.a. 2008). Sie zeigt, dass die durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushaltevom wirtschaftlichen Aufschwung seit dem Jahr 2006 nicht nur nicht profitieren konnten, sie hatten sogar leichte Einkommenseinbußen zu verkraften. Auch nach Auffassung der IMK-Studie liegen die Gründe für diese Entwicklung in der „Dekonstruktion“d der Arbeitswelt,deren Merkmale die abnehmende Tarifbindung, die Flexibilisierung und Vervielfältigung von Beschäftigungsverhältnissen und die beschäftigungspolitische Deregulierung sind. Die Mittelklasse konnte von der konjunkturellen Aufhellungder Vergangenheit nicht profitieren. Im Gegenteil, mehr und mehr Gruppen derberuffachlichen Arbeitnehmerschaft sehen sich mit prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert. Kein Wunder, dass sich anhand der „subjektiven Indikatoren“ der DIW-Mittelschichtstudie zeigt, dass die empfundenen ökonomischen Unsicherheitenwachsen: „Der Anteil der Menschen, die sich ‚keine Sorgen’ machen, lag in den80er Jahren noch über 40 Prozent, in den 90er Jahren in Gesamtdeutschland bei rund30 Prozent und jüngst, also auch in den wachstumsstarken Jahren 2006 und 2007,nur noch bei rund 23 Prozent“ (Grabka/Frick 2008). Vieles spricht dafür, dassalle diese Entwicklungen – die Unsicherheit der Arbeitsplätze, die Brüchigkeitvon Berufskarrieren und die Einbußen in der Einkommensentwicklung – infolge der Finanzkrise, des Wettlaufs um staatliche Subventionen strauchelnder Unternehmenund der damit verknüpften Überspannung der Staatshaushalte noch deutlich an Schärfe gewinnen wird.

 

Welche Gestalt erhält die Mittelklasse?

Zahlreiche aktuelle Untersuchungenzeigen, dass die Sorge, wenig gewinnen, aber viel verlieren zu können, nichtnur ein vages Gefühl sozialer Bedrohung ist, sondern sehr real ein Gutteil der Gesellschaft beschäftigt. Arbeitnehmer sehen sich bedroht und gefährdet, dievor Jahren noch auf der gesicherten Seite des wirtschaftlichen undgesellschaftlichen Umbruchs standen. Doch kein gesellschaftlicher Wandel, dernur Verlierer und Absteiger kennt. Die Marktorientierungstaatlichen Handelns, die steigende Nachfrage nach Beratung, Therapie oder Mediation inprivaten und öffentlichen Betrieben eröffnen qualifizierten Fachkräften neueberufliche Perspektiven, Gelegenheiten und Karrierefelder. Die Veränderungen der Professionen und der organisatorischen Ausrichtung der Arbeitsweltformieren die Mittelklasse neu. Insbesondere der reformbereite Wohlfahrtsstaatist hier ein interessantes und in der Regel unterschätztes Tätigkeitsfeld. Jetzt machen unter den Rahmenbedingungen einer „schlankeren“ und stärker aufwirtschaftliche Effizienz hin orientierten Staatlichkeit neue LeitfigurenKarriere – die Controller, dievom neuen betriebswirtschaftlichen Effizienzdenken in der öffentlichenVerwaltung profitieren, ebenso die Projektentwickler,die auch außerhalb des akademischen Feldes rege Nachfrage in zahlreichenöffentlichen wie privaten Dienstleistungen finden, oder die Therapeuten, die sich im Zuge der weit umsich greifenden Psychologisierung sozialer und beruflicher Beziehungenwachsender Nachfrage erfreuen. Als neue Arbeitnehmertypen erscheinen zudem die Case-Manager, die sich zum Beispiel in den neu eingerichteten Job-Centern der Bundesagentur für Arbeit oder im Gesundheitssektor finden. Das Bemerkenswerte in diesem wohlfahrtsstaatlich forcierten Strukturwandel derMittelklasse ist freilich: Es bieten sich zwar neue Gelegenheiten undKarrieremöglichkeiten, doch haben sich der Preis der Gelegenheiten und die Karrierekosten im Vergleich zur Expansionsphase des sorgenden Wohlfahrtsstaatesin den 1960er und 1970er Jahren deutlich erhöht. Nicht nur die Verlierer, auch die Gewinner dieser Neuformierung der Erwerbssphäre und der Arbeitsmärkte sindmit größerer Beschäftigungsunsicherheit und geringerem arbeitsrechtlichen Schutz konfrontiert. Die Grundlagen beruflicher und sozialer Laufbahnen werden selbst für diejenigen brüchiger und instabiler, die über eine nachgefragte fachliche Qualifikation verfügen (vgl. Zunz u.a. 2002).

Alles in allem wird deutlich, dass die Veränderungen in der Mitte der Gesellschaft besondere Konfliktfelderrepräsentieren (vgl. Herbert-Quandt-Stiftung 2007). Hier stellen sich neuesoziale Fragen nach Statuserhalt und Wohlstandssicherung, auf diegesellschaftspolitische und –wissenschaftliche Antworten gefunden werden müssen. Doch zunächst einmal gilt es zu klären, wer den Takt im Wandel der(Arbeits-)Gesellschaft schlägt? Wer befindet sich aktuell im Aufwind? Wessen Sichtweisen sozialer und politischer Problematiken sind legitim und durchsetzungsfähig? Welche Modelle der Lebensführung, der professionellen Gestaltung der Erwerbsarbeit und der Alltagsbewältigung erhalten hegemoniale Qualitäten? Wessen Anstrengungen laufen ins Leere? Welchen Aktivitäten fehlen soziale Anknüpfungspunkte? Zeigen sich Dispositionen, die keine Resonanz mehr finden? Gesellschaftliche Konflikte sind niemals nur politische oder rechtliche Kämpfe zwischen verschiedenen Klassen oder Klassenfraktionen, sondern vor allen Dingen symbolische Klassifikationskämpfe um die angemessene Repräsentation, um Sichtbarkeit und Selbstbehauptung. Insbesondere die Mitte der Gesellschaft – dort, wo sich die Wege der Aufsteiger und der Absteiger, der Statusverbessererund Statusgefährdeten, der Anerkennungsbedürftigen und der Stabilitätskämpferkreuzen -  ist ein bevorzugter Ort permanenter sozialer Klassifizierungen und Klassifizierungsbemühungen. Indiesem strukturellen und mentalen Wimmelbild der Sozialordnung finden stetsmehr oder minder offen ausgetragene Auseinandersetzungen um wirksameBewertungen und Beurteilungen, um Rangzuweisungen und Maßregeln, um gültige Maßstäbe und Ordnungsvorstellungen statt. Die Schule und die vielfältigenBildungsmärkte, die Publizistik und die Medien, aber auch die auf Leistungorientierte Kleinfamilie, in der es um berufliche Selbstbehauptung der Elternbei optimaler Nachwuchsförderung geht, sind paradigmatische Feldermittelständischer Lebenswelten und fruchtbare Nährböden permanenter Klassifikationskämpfe. Diese Kämpfe um Rangordnungen und Positionen, die vonder Sozialstrukturforschung theoretisch, begrifflich, aber auch empirischbeschrieben werden, sind Klassenkämpfe in der und um die soziale Mitte derGesellschaft.

Was heißt das nun für die weitere Entwicklung in der Mitte der Gesellschaft? Die soziale Mitte zerfällt oderverschwindet nicht. Sie bietet vielmehr ein Kaleidoskop neuer sozialer Ungleichheit und Unsicherheit. Eines ist freilich gewiss: Die Zeit der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ ist lange vorüber. Wer heute von derMitte spricht, der thematisiert Konflikte, Deklassierungssorgen undAufstiegsfrustrationen. In der Mitte der Gesellschaft geht es um Verwundbarkeitenund Verletzungen, um Rücksichtslosigkeit und Schutzbedarf, um Gelegenheiten und Gefährdungen, um Durchsetzungsvermögen und Hilflosigkeit. Die Mitte ist ein Ort neuer Anforderungen und Beanspruchungen geworden. Das muss kein Schaden sein. Gleichwohl findet sich hier - in den Worten Oswalds von Nell-Breuning – derStabilitätskern der „gegenseitigen Verantwortung“ und des „hilfreichen Beistands“ (vgl. Nell-Breuning 1968). Wer diesen Stabilitätskern politisch undwirtschaftlich unter Druck setzt, riskiert den Zusammenhalt der Gesellschaft. Eine Politik der Prekarisierung der Arbeitswelt und der Ökonomisierung öffentlicher Dienste und Sorgeleistung spielt mit diesem Risiko. Dieses Risikospiel mag kurzfristigen Gewinn für Wenige versprechen, doch garantiert es langfristigen Nutzen für Viele? Bestimmte Gruppen und Milieus der Mitte der Gesellschaft können in Anspruch genommen werden, sie sind zahlungskräftig und bedürfen weniger staatlicher Unterstützung als sie selbst oft reklamieren. Dochfür eine wachsende Zahl von Personen und Familien in der Mittelklasse sind dieVeränderungen in der Arbeitswelt und in der Wohlfahrtspflege kaum zuverkraften. Sie sind staatsbedürftig, sie erwarten eine Politik, die klüger, gerechter und ungleichheitssensibler ist als hohle Marktrhetorik und sie lehnen ein Gesellschaftsmodell ab, das sich von einer Gewinner-Verlierer-Mentalitätleiten lässt.

 

Literatur

Böhnke, Petra (2005): Teilhabechancen undAusgrenzungsrisiken in Deutschland, in: AusPolitik und Zeitgeschichte 2005, 37, S. 31-36.

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Chambers,Robert (2006): Vulnerability, Coping and Policy (Editorial Introduction), in: IDS Bulletin, Vol. 37, 2006, No. 4, S.33-40.

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Czerwick, Edwin (2007): Die Ökonomisierung desöffentlichen Dienstes. Dienstrechtsreformen und Beschäftigungsstrukturen seit1991, Wiesbaden.

Grabka, Markus M./Joachim R. Frick (2008): SchrumpfendeMittelschicht – Anzeichen einer dauerhaften Polarisierung der verfügbarenEinkommen? DIW-Wochenbericht 10/08 vom 5. März 2008.

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Hübinger, Werner (1996): Prekärer Wohlstand. NeueBefunde zu Armut und sozialer Ungleichheit, Freiburg.

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Paugam, Serge/Duncan Gallie (Hg.) (2002): SozialePrekarität und Integration. Bericht für die Europäische Kommission.Generaldirektion Beschäftigung. Eurobarometer 56.1, Brüssel 2002.

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Vester, Michael (2005): Die „Eieruhr-Gesellschaft“. DieWohlstandsmitte bröselt auseinander, und die Furcht vor sozialem Abstiegwächst, Frankfurter Rundschau vom 20.Mai 2005, S. 7.

Vogel, Berthold (2008): Prekarität und Prekariat – Signalwörterneuer Ungleichheiten, in: Aus Politik undZeitgeschichte, Heft 33-34 vom 11.8.2008, Beilage zur Wochenzeitung „DasParlament“, S. 12-18.

Vogel, Berthold (2009): Wohlstandskonflikte. SozialeFragen, die aus der Mitte kommen. Hanburg.

Zunz,Oliver/Leonard Schoppa/Nobuhiro Hiwatari (Hg.) (2002): Social Contracts underStress. The Middle Classes of America, Europe, and Japan at the Turn of theCentury, New York.



[1] Im vorliegenden Text (wie auch anderen Orts, vgl. Vogel 2009) wird der sozialstrukturanalytische Begriff der Klasse (und nicht etwa der „Schicht“ oderder „Lage“) verwendet. Im Begriff der Klasse kommt zum einen diesozialökonomische Fundierung der Ungleichheit in erwerbsarbeitszentrierten Gesellschaften zum Ausdruck; zum anderen spiegeln sich im KlassenbegriffHerrschafts- und Machtverhältnisse, mithin die politische Formierung derGesellschaft; und schließlich enthält der Klassenbegriff stets das Moment der Klassifizierung, er ist daher akteursbezogen und berücksichtigt die symbolischeDimension gesellschaftlicher Ungleichheit.