Dialektik des Kommunistischen und Bürgerlichen

Die sozialismustheoretischen Grundlagen der Ästhetik Lothar Kühnes

Erst jetzt, da sich die Staubwolken über den Trümmern des sowjetischen Staatssozialismus gelegt haben, kann sich der Blick dafür öffnen, wie gelebt, gedacht, gehofft wurde in den Gehäusen des teils verordneten, teils selbst gewählten, teils einfach vorgefundenen Sozialismus. Die Klärung über die Ursachen des Scheiterns ist erfolgt. Die Abrechnung hat stattgefunden. Rechtfertigungen hat es gegeben. Dreißig Jahre danach muss weder besonders schwarz gemalt noch weiß gewaschen werden. Wer sich die Mühe macht, in die Schichten aus Dokumenten, Artikeln, Büchern, Briefen derer einzudringen, die sich als Intellektuelle diesem Sozialismus verpflichtet hatten, kann sie auf sehr gegensätzliche Weise lesen – verzweifelnd über das Maß an Selbsttäuschung, wütend über den Grad der Apologie, erstaunt über die Größe der Hoffnungen oder auch schlicht einfach neugierig über das, was hier gedacht wurde unter den nach 1945 vorgefunden weltpolitischen und nationalen Bedingungen. Aber das Verstehen wird wichtiger und langsam entsteht das Bedürfnis bei ganz Unbeteiligten, bei denen, die nach 1990 geboren sind, zu fragen, ob sich irgendetwas finden lässt, was wichtig sein könnte für ihre eigene Zukunft.

Im März 1991 fand im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin eine Veranstaltung „In Memoriam Lothar Kühne“ statt. Die Beiträge dieses Kolloquiums sind noch heute lesenswert (Brie, Hirdina 1993). Es war Erinnerungsarbeit in Zeiten des Umbruchs, des äußeren wie vor allem auch des inneren. Es ging um Selbstfindung und um Fortführung der durch Lothar Kühnes Tod jäh unterbrochenen Diskussion mit ihm. 2018, fast drei Jahrzehnte später, hatte Thomas Flierl die Initiative zu einer Veranstaltungsreihe im Berliner Max-Lingner-Haus ergriffen, die sich dem Werk von Lothar Kühne zuwandte. Und wieder fragt sich: Ist ein Dialog mit dem Werk von Lothar Kühne heute überhaupt noch möglich? Kann es etwas Bleibendes geben von einem streitbaren Denker, wenn das, womit er sein Denken untrennbar verbunden hatte, der Sozialismus sowjetischer Prägung, schon eine vergangene Vergangenheit geworden ist? Oder aber umgekehrt: Beginnt erst jetzt die Möglichkeit, mit Kühne einen wirklich in die Zukunft hinein offenen Dialog zu beginnen, da das Vergangene so ganz und gar abgetan ist und uns dafür die Gegenwart um so drängender fordert. Lothar Kühne hatte an sich wie an andere die Aufgabe gestellt, „durch ihr solidarisches Dasein für andere die zeitliche Grenze ihres Lebens zu überschreiten“. Er fügte hinzu: „So wird der Tod von einer Verleitung zur Unterwerfung, zu einer Herausforderung des Lebens selbst.“ (Kühne 1981: 203)

Für mich war der Vortrag in der von Thomas Flierl gestalteten Reihe die dritte intensive Begegnung mit dem Werk von Lothar Kühne. Begegnet bin ich Lothar Kühne zuerst Ende der 1970er Jahre, als er in der Humboldt-Universität zu Berlin an den Bereich Historischer Materialismus der Sektion Marxistisch-Leninistische Philosophie versetzt wurde – ohne Möglichkeit der Lehre, von Krankheit gezeichnet. Er hat durch viele Gespräche die Arbeit an meiner Dissertation B zu philosophischen Fragen des Eigentums im Sozialismus gefördert. Er war es, der mich ermutigte, ein so umstrittenes Thema anzupacken. Wesentliche Elemente der in dieser Arbeit entwickelten Sozialismusauffassung (Brie 1990) sind im Dialog mit Kühnes Werk entstanden. Zuletzt traf ich ihn am 16. Oktober 1985, als ich ihn in seiner Wohnung in Berlin-Grünau besuchte. Er schenkte mir sein Buch „Haus und Landschaft“ mit gesammelten Aufsätzen und schrieb hinein: „Für Michael in Freundschaft, hoffend auf weitere Gemeinsamkeit, wenn meine Kräfte noch taugen. Gute Wünsche von Lothar Kühne“. Wenig später ging er ins Wasser der kalten Ostsee – am 68. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution.

Meine zweite, nun nur noch intellektuelle Begegnung mit Kühne war 1991. Zu diesem Zeitpunkt stand für mich die Spannung zwischen Kühnes kommunistischem Anspruch und den Widersprüchen der staatsparteisozialistischen Moderne (Brie 1993) im Vordergrund. Jetzt, älter geworden als es Kühne vergönnt war, hat sich die dialogische Frage an sein Werk erneut verschoben. Es ist eine dritte Begegnung. Ich suche zu verstehen, welche Leitfrage Kühne in „Gegenstand und Raum“ und damit verbundenen Texten verfolgte, und welche Forschungsstrategie er dabei entwickelte. Vielleicht kann dies helfen, Forschungsstrategien für Fragen im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Das Folgende kann nur eine Skizze sein. Noch fehlt eine Biografie. Die Artikel und Bücher Kühnes aus rund 25 Jahren sind der Quantität nach überschaubar. Es gab Vorlesungsmitschriften, sicherlich viele. Aber sie sind nicht erfasst. Dabei war Kühne vor allem Lehrender, bis ihm dies verwehrt wurde bzw. Krankheit ihm dies unmöglich machte. Sein Hauptwerk also, seine Lehre, ist der Forschung deshalb gegenwärtig nicht zugänglich.

Grafik

Um mich Kühnes Werk zu nähern, werde ich auf die Leitfrage eingehen, die diesem Werk zugrunde lag. Max Weber sprach von „Wertideen“ als jenen „Gestirnen“, die allein der wissenschaftlichen Arbeit „Sinn und Richtung zu weisen vermögen“ (Weber 1922: 214). Sie werfen das Licht. Dieses Licht muss zweitens durch ein Forschungsprisma hindurch. In der Konstruktion dieses Forschungsprismas liegt die eigentliche originäre Arbeit eines Wissenschaftlers. Es hat drei Pole – (1) die Forschungsmethodologie, (2) das kategoriale Modell und (3) die empirischen Forschungsfelder. Die Resultate der Arbeit stellen das „Licht“ der Wertideen da, wie sie im Forschungsprisma gebrochen wurden. Es sind sozialwissenschaftliche Erzählungen, durch die erst der Anschluss an die soziale Praxis hergestellt wird (Kleeberg 2017: 203f.) (Grafik 1). Dabei bin ich mir bewusst, dass ich den damit verbundenen Aufgaben auch deshalb nur sehr begrenzt gerecht werden kann, da mir jene Bildung auf den Feldern von Architektur, Kunst und Ästhetik fehlt, über die Kühne in so hohem Maße verfügte. Ich werde mich vor allem auf Lothar Kühnes Leitfrage konzentrieren.

Ein wissenschaftlicher Forschungsprozess ist gesellschaftliche Praxis. Die Akteure verfolgen sinnhafte Ziele und sind eingebettet in die Produktion bedeutungsvoller Erzählungen, die ihrerseits beeinflusst sind durch die Reflexionsprozesse einer Gesellschaft und in diese eingreifen. Für einen Gesellschaftswissenschaftler wie Lothar Kühne, der sich als Marxist-Leninist verstand und im Rahmen der Institutionen des Marxismus-Leninismus wirkte, bis dies unmöglich wurde, gilt das exemplarisch.

Lothar Kühnes Leitfrage

1981 erschien Kühnes Hauptwerk „Gegenstand und Raum. Über die Historizität des Ästhetischen“ im Dresdner Verlag der Kunst in der wunderbaren Fundus-Reihe, die in der DDR ein Fenster in die Welt des freien Denkens darstellte. Das Buch basierte auf seiner B-Dissertation, die 1971 vorlag und erst 1975 verteidigt werden konnte. Noch einmal sechs Jahre dauerte es bis zur Veröffentlichung als Buch. Im Anhang dieses Buches findet sich eine knappe Information über den Autor. Sie beginnt mit dem Satz: „Lothar Kühne, geboren 1931, stammt aus einer Arbeiterfamilie in Lauchhammer.“ (Kühne 1981: 287) Sein Vater war Mitglied der KPD gewesen. Lothar Kühne war 14 Jahre alt, als Deutschland bedingungslos kapitulierte. 1947 wurde er Funktionär der FDJ, erst im Kreis Liebenwerda, dann Sekretär der Landesleitung Sachsen. Später, bis zum Ende der 1960er Jahre, hat Kühne immer wieder Wahlfunktionen in der SED und Leitungsfunktionen im marxistisch-leninistischen Grundstudium übernommen. Sieht man genauer hin, erkennt man, dass er die Karriereleiter hinaufsprang und immer wieder hinuntergedrängt wurde, bis er von allen Ämtern ausgeschlossen war. Er hatte sich dem Projekt des Aufbaus des Sozialismus in der DDR verschrieben und mit der SED als leninistischer Partei identifiziert. Aber genau dieser bekennende Leninismus brachte ihn in den sich zuspitzenden Konflikt mit dieser Partei. Denn es war ein dezidiert kommunistischer Leninismus, der ihn antrieb, ein Leninismus, der die Staatspartei vor allem als Kraft der Selbstaufhebung durch umfassende gesellschaftliche Transformation sah.

Am 15. Juli 1953 verfasste Lothar Kühne, damals 22-jähriger Philosophiestudent an der Humboldt-Universität zu Berlin, einen Leserbrief für das „Neue Deutschland“. Im Brief heißt es u. a., dass die Ursache dafür, dass die DDR am 17. Juni „an den Rand des Abgrundes“ geraten war und es sowjetischer Panzer bedurfte, um „die Arbeiterregierung vor der rebellierenden Arbeiterklasse“ zu schützen, nicht nur bei Agenten des Westens gesucht werden könne: „Da gibt es noch trifftigere Gründe zu nennen, als nur eine falsche Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung, die selbst ja nur das Resultat einer irrigen ideologische Grundkonzeption darstellt. Da sollte Gen. Ulbricht sich äußern, was er sich dachte, als in der Zeit, in der es den Arbeitern immer schlechter ging, er von wachsendem Wohlstand und von großen nahenden Verbesserungen schwafelte.“ (Kühne 1953: 1) Der Brief schließt mit den Worten: „Der neue Kurs muss mit einer neuen, einer wahrhaft bolschewistischen Einstellung zur Wahrheit beginnen, sonst ist alles nur ein zum Scheitern verurteiltes Manöver.“ (Kühne 1953: 2) Der Parteiausschluss erfolgte prompt und erst 1956 begann eine neue zweijährige Zeit als Kandidat der SED.

Hier scheint jener Riss auf, der über die folgenden Jahrzehnte zur Kluft wurde, zum Abgrund sich öffnete, obwohl für ihn der Bruch mit der SED und dem Staatsparteisozialismus der DDR bis zuletzt undenkbar blieb. Die Identifikation mit dem Bolschewismus relativierte sich, wurde rationalisiert und zeigte in den frühen 1980er Jahren Tendenzen der Auflösung. Zunächst aber suchte Kühne nach einer Form der reflektierten Vermittlung der nicht nur am 17. Juni 1953 sich auftuenden Widersprüche. In den folgenden anderthalb Jahrzehnten entfaltete Kühne jene Leitfragen, die seinen bedeutenden Schriften der 1970er und frühen 1980er Jahre Jahre zugrunde liegen: Wie kann die entstandene sozialistische Gesellschaft als werdende kommunistische Gesellschaft gestaltet werden? Welches sind die Maßstäbe, welches die Triebkräfte, welches die hemmenden Formen? Was bedeutet dies für eine kommunistische Ästhetik und Architektur des Sozialismus?

Es scheint heute völlig bedeutungslos, ob der sowjetische Sozialismus in seiner DDR-Prägung als werdender Kommunismus gedacht wurde oder nicht. Für die handelnden Akteure, die ihr Leben mit dem Projekt des Aufbaus des Sozialismus in der DDR verbunden hatten, konnte dies aber entscheidend sein. Welche Legitimation besaß ein Gesellschaftssystem, das mit so offenen Problemen behaftet war? Ohne den Legitimitätsglauben (vgl. Meuschel 1992: 22f.) der mit der unmittelbaren Ausübung der politischen, geistigen und ökonomischen Herrschaft beauftragten Dienstklasse und ihrer bewaffneten Fraktionen wären weder Aufbau noch jahrzehntelanger Erhalt dieses Staatsparteisozialismus möglich gewesen (Brie 1998: 40ff.). Dieser Glaube aber musste erzeugt und reproduziert werden. Er war notwendiger Weise widersprüchlich. Eine der Dimensionen des Legitimitätsglaubens in leninistischen Systemen war die Überzeugung, dass diese sich als werdender Kommunismus erweisen (siehe Chrustschow 1961). Es ging um Transformation, eine heute wieder aktuelle und zugleich radikal veränderte Fragestellung.

Im Vorwort zu „Gegenstand und Raum“ sprach Kühne von seinem „Versuch, Ästhetik auf die marxistisch-leninistische Konzeption der Gestaltung des Sozialismus zu beziehen, Theorie des Ästhetischen als Bestandteil kommunistische Revolutionstheorie zu skizzieren“ (Kühne 1981: 7). Die besondere Ausstrahlungskraft von Kühnes Werk beginnt mit eben dieser Leitfrage, die in den 1960er Jahren immer deutlicher formuliert und dann bis 1985 ständig weiter angereichert und und geschärft wurde. Kühne war sich der Bedeutung der normativen Leitfrage für die Theoriebildung sehr bewusst. Wie er 1968 schrieb: Die Theorie „muss zum Normativen vorstoßen, wenn sie ihre Lebenskraft bewahren will. Von ihm geht sie indirekt schon aus. Denn das Normative gesellschaftlicher Theorien äußert sich auch in der Selektion und Präparation des Gegenstandes.“ (Kühne 1993b: 80) Kühne versicherte sich des „Normativen“ einerseits durch den intensiven Rückbezug auf Marx’ Schriften, nicht zuletzt auf die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ von 1844 oder die „Kritik des Gothaer Programms“ von 1875. Andererseits werden Ansätze der frühen kritischen Theorie zunehmend positiv aufgenommen und die ökologische Frage, die Frage der Erde als Heimat, als konstitutiver Bezugspunkt integriert. Kommunismus wurde so zu einer konkreten gehaltvollen und sinnstiftenden Vision.

In dem Artikel „Ökonomie und Politik in der sozialistischen Gesellschaft“ von 1970, auf den ich im Weiteren noch zurückkommen werde, formuliert Lothar Kühne präzise: „Indem das Proletariat revolutionär ist, verhält es sich nicht nur negativ gegenüber der Kapitalistenklasse, sondern zugleich gegen sich selbst als Lohnproletariat. […] Im Gegensatz zum Revolutionismus der Bourgeoisie ist der des Proletariats radikal, weil er auf das eigene Wesen bezogen, und permanent, weil auf die Aufhebung der Klassen überhaupt gerichtet.“ (Kühne 1970: 572) Dieser radikale und auf Dauer gestellten „Revolutionismus“ ist nur möglich, wenn ein Zielhorizont aufgespannt ist. Heinz Hirdina sprach in diesem Zusammenhang auch vom „kommunistischen Fluchtpunkt“ Kühnes (Hirdina 1993: 10). Dieser schrieb in „Gegenstand und Raum“: „Die wirkliche kommunistische Bewegung hat das kommunistische Ideal zur Voraussetzung. Aber sie ist nicht einfach Verwirklichung und Erfüllung, sondern auch ständige Erweiterung und Vertiefung dieses Ideals.“ (Kühne 1981: 69) Kühne sprach auch von der „transzendierenden Idealität“ (Kühne 1981: 267) dieses Ideals, das „nie bloß identifizierend“, sprich: unkritisch und apologetisch, sein könne: „Es ist im Wesen des begründenden Reichtums kommunistischer Verhältnisse, der Persönlichkeit als konkrete gesellschaftliche Universalität des menschlichen Individuums, gesetzt, dass dessen Werden unabschließbar ist. Die Fähigkeit der Individuen und ihr Drang, den Widerspruch von Ideal und Wirklichkeit unablässig neu zu setzen, ist eine subjektive Reproduktionsbedingung kommunistischer Verhältnisse.“ (Kühne 1981: 266f.) Kommunismus wird als „Poesie der Zukunft“ (Kühne 1985d: 77) verstanden.

Kühnes radikaler Revolutionismus hatte eine konservative Seite. Wie er in dem zitierten Artikel von 1970 schrieb: „Der Konservatismus des Proletariats ist die Bejahung und Verteidigung jeder Stufe der selbst errungenen gesellschaftlichen Entwicklung, er ist absolut gegen die Vergangenheit, relativ zur Zukunft, weil selbst Bedingung der Revolution.“ (Kühne 1970: 572) Die Oktoberrevolution, die Macht der kommunistischen Staatsparteien in der Sowjetunion oder DDR waren für ihn bedingungslos zu verteidigen und zugleich mussten sie sich in Relation auf das kommunistische Ideal bewähren, indem sie sich stets von Neuem als Voraussetzung des kommunistischen Werdens erweisen.

Verfolgt man die Schriften Kühnes in ihrer zeitlichen Reihenfolge, so wird die Kritik an dem Ausbleiben der realen Bewegung des kommunistischen Werdens immer deutlicher. Die Auseinandersetzung um die Ornamentisierung im Bereich der Architektur und Ästhetik, an den neuen „Wohnblöcken“ und leeren „Wohngebieten“, der „Verdatschung“ und „Verkunstung“, der Entwicklung einer autozentrierten Gesellschaft wurde schärfer. Kühne schuf die Figur des „friseurkünstlerischen Architekten“, der versucht, die Monotonie zu beheben, und doch nichts sei als ein „Maskenbildner gesellschaftlicher Spontaneität“ (Kühne 1985c: 15). Es wurde eine kleinbürgerliche Regression konstatiert. Das politische Pendant, die Verwaltung des immer haltloseren Status quo durch die SED bei Verlust jeder Ausstrahlungskraft und immer kleinlicherer Repression, blieb in den schriftlichen Dokumenten ausgespart. Die Möglichkeiten, Gedanken zu entwickeln, „die es wert sind, über den Augenblick hinaus im Sozialismus, für den Sozialismus zu wirken“ (Kühne 1985e: 7), schwanden insgesamt und für Lothar Kühne im besonderen. Und gleichzeitig gewann bei ihm das transzendierende kommunistische Ideal an Größe und Tiefe. Was die kommunistische Leitidee an Verankerung in der Wirklichkeit verlor, gab Kühne ihr an hoffender Wortkraft: „Die Endlichkeit des individuellen Lebens ist durch den schöpferischen Alltag in der Gattung aufhebbar geworden. Die Sehnsucht nach Verwirklichung bedarf nicht mehr eines besonderen Raumes, keines besonderen Hauses, weil die Landschaft der Raumgrund der Universalität, der innere Kreis der Selbstverwirklichung ist. So nimmt das Haus die in der Kirche abgesonderten und herrschaftlich verkehrten Werte in sich zurück. Es ist nicht herrschaftlich, sondern häuslich und wunderbar.“ (Kühne 1985c: 40) Aus dem Fluchtpunkt am Horizont wurde, völlig unerträglich für Kühnes existentiell gelebten Kommunismus, die Flucht in den kommunistischen Horizont, der ihn zugleich in heftige Konflikte mit jenen trieb, die wie er – aber anders – dem Sozialismus in der DDR zunehmend kritisch begegneten und nach neuen Möglichkeiten suchten.

Marx’ Vision kommunistischer Unmittelbarkeit

Kühnes kommunistisches Ideal war tief im Marxschen Denken gegründet. Es war damit radikal emanzipatorisch, offen in seinen Bezügen im Verhältnis von Mensch und Natur, zum Reichtum menschlicher Individualität und humanen sozialen Beziehungen sowie ihrer räumlichen und ästhetischen Gestaltungen und sehnsuchtsvoll (Petruschat 1993: 60). In diesem durch Marx begründeten Verständnis von Kommunismus liegt aber zugleich ein Problem. Dieses Problem artikulierte sich in Formulierungen wie den folgenden: „Sich selbst universell entfaltend, ist das Individuum […] stets wesentlich mit der Gesellschaft befaßt, das ist seine kommunistische Bestimmung.“ (Kühne 1981: 267) „Das Poetische funktionaler Gestaltung soll mit dem Begriff der Perspektive erschlossen werden. Perspektive, das ist die Resurrektion der Natur für den Menschen und vor allem harmonischer, solidarischer Zusammenschluss des Menschen mit der Menschheit.“ (Kühne 1985b: 179)

Hier und in vielen Darstellungen Kühnes wird Kommunismus wie bei Marx als unmittelbare Gesellschaftlichkeit frei bestimmter Vergesellschaftungszusammenhänge der Individuen und werden die kommunistischen Vergesellschaftungszusammenhänge unmittelbar als Verwirklichungszusammenhänge freier Individualität verstanden. Die Existenz von Vermittlungsformen erscheint als Phänomen des Noch-nicht-völlig-Kommunistischen. Dies hatte auch Konsequenzen für Kühnes Ästhetik. Wer sie verstehen will, muss deshalb Marx verstehen.

Marx hatte ausgehend von der Auflösung der Hegel-Schule und den eigenen Erfahrungen als Redakteur der „Rheinischen Zeitung“ nach einem Weg gesucht, wie die wirklichen Verhältnisse wirklicher Menschen so umgestaltet werden können, dass das Wesen der Menschen, vernünftig frei zu sein, als eigenes Werk eben dieser Menschen auch zur Wirklichkeit, und das Wesen des Menschen und seine gesellschaftliche Existenzweise zur Übereinstimmung gebracht werden. Marx’ vielleicht wichtigste Entscheidung war, dass er universelle Emanzipation als Doppelprozess zu fassen begann. Man kann dies auch als seine kommunistische Richtungsentscheidung bezeichnen. Emanzipation wurde erstens als Prozess der umfassenden bewussten Organisation aller gesellschaftlichen Kräfte und zweitens der Umwandlung dieser Kräfte in freie Entwicklungsweisen der Individuen als „Gattungswesen“ verstanden. Es ging ihm um eine Lösung der Zeitprobleme, die radikal ist, die an die Wurzel geht. Dazu brach er mit Hegels Versuch, eine Vermittlung der Widersprüche zwischen Familie (und dem Menschen in seiner Konkretheit), bürgerlicher Gesellschaft (und dem Menschen als Bourgeois) und dem Staat (und dem Menschen als Citoyen) zu suchen. Er war nicht bestrebt, neue Bearbeitungsformen dieser Gegensätze zu finden, sondern suchte nach einem Weg, diese Gegensätze selbst in ihrem Grund aufzuheben und damit jede sachliche Vermittlung prinzipiell überflüssig werden zu lassen. Marx reformulierte deshalb den Begriff der Emanzipation und schrieb in „Zur Judenfrage“: „Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst. […] Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch […] in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ (Marx 1843: 370) Marx wies in dieser gedrängten Formulierung auf einen Doppelprozess hin – das wirkliche empirische Leben der wirklichen Individuen soll ein Leben als Gattungswesen geworden und die eigenen individuellen Kräfte sollen als gesellschaftliche Kräfte organisiert worden sein.

Der von Marx konzipierte „Verein freier Menschen“ kennt keine Komplexität von gegensätzlichen Verhältnissen, wie sie Rousseau noch formulierte, als er citoyen und bourgeois, Gesellschaftsglied und Privatindividuum unterschied. Marx’ Lösung war radikal: Er ging davon aus, dass innerhalb „der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft“ (Marx 1875: 19) eine unmittelbare Interessenidentität zwischen Allen gemeinsam und jeder und jedem Einzelnen hergestellt werden kann. Wenn jeder dann nach seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten handelt, wenn er als Teil der „eine[n] gesellschaftliche[n] Arbeitskraft“ wirkt, gibt es, diesem Verständnis nach, keine wesentlichen Interessenkonflikte mehr. Es existiert nur noch ein Produktionsverhältnis: das Eigentum aller als Gesellschaftsglieder an den gemeinsam verwalteten Produktionsmitteln, das sich zugleich als freie Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums durch die Individuen erweist. Anstelle von Politik bliebe, wird angenommen, bloße Verwaltung, die keine widerstreitenden Interessen berührt.

Marx ging davon aus, dass einerseits der Besitz der Produktionsmittel notwendige Bedingung von Freiheit ist, diese aber andererseits in einer komplexen arbeitsteiligen Gesellschaft nur noch in „kollektive[r] Form“ (Marx 1880: 238) möglich ist. Wenn alle gemeinsam genossenschaftlich über die Produktionsmittel verfügen, würde auch das „individuelle Eigentum“ (Marx 1890: 791) durch tiefgreifende Umwälzung der Produktionsweise auf neuer Grundlage hergestellt werden können. In dieser Tradition schien es dann vielen marxistisch geschulten Sozialisten zwingend, dass auch die Rechte der Einzelnen durch die Delegation dieser Rechte an „Alle“ am besten geschützt seien. Es gab keinen Platz für die Vorstellung, dass es fundamentale Rechte der Einzelnen geben könne, die gegen die in Gestalt der Diktatur des Proletariats vereinigten Gesellschaftsglieder geschützt werden müssten, und deshalb gerade nicht delegiert werden dürften. Dass die Einzelnen für sich grundlegende Rechte behalten, die sie nicht an ihre gemeinsame Macht übertragen würden, war undenkbar und wurde als kleinbürgerliches Vorurteil denunziert. Es käme doch gerade darauf an, sich gemeinsam zu stärken, um auf dieser Grundlage dann auch für jede und jeden Einzelnen die Bedingungen freier Entwicklung zu schaffen. Der kommunistische Intellektuelle verschrieb sich so mit Seele und Leib jener Macht, die er selbst als Bedingung der radikalen Emanzipation legitimierte.

Sozialismus zwischen Kommunistischem und Bürgerlichem

Lothar Kühne hat sein Werk mit einem „Gerüst“ verglichen, „welches demjenigen, der sich daran hinauf gearbeitet hat, etwas mehr Übersicht ermöglicht, wenn es trägt“ (Kühne 1981: 7). Sozialphilosophisch basierte dieses Gerüst auf einem an Marx und Lenin orientierten Verständnis von Sozialismus. Kategorial bestimmte Kühne ihn als werdenden Kommunismus, der in seinem Werden das Bürgerliche aufhebt. Er folgte dabei strikt der oben dargestellten Vorstellung von Marx. Eine verdichtete gesellschaftsphilosophische Form hat die Frage nach dem kritischen Verständnis von Sozialismus als werdendem Kommunismus in Kühnes schon erwähntem Artikel „Ökonomie und Politik in der sozialistischen Gesellschaft“ von 1970 gefunden. Sie wurde dann in „Gegenstand und Raum“ und weiteren Schriften präzisiert und ausgeführt.

Schon das von Lenin entlehnte Motto des Artikels verwies auf das zentrale Anliegen: „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.“ (Lenin 1978: 379) In Kühnes auf Marx zurückgehendem Verständnis ist jede Formation vor allem das Resultat des historischen Wirkens einer Klasse, die sich zur herrschenden Klasse erheben will und dazu die dafür notwendigen Bedingungen politisch, ökonomisch und kulturell, als Produktions-, Herrschafts- und Lebensweise zu verallgemeinern sucht. Davon ausgehend kontrastierte Kühne die Genesis der bürgerlich-kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft. Die sozialökonomischen Bedingungen der Klassenherrschaft der Bourgeoisie, so Kühnes Ausgangsthese, entstünden im Schoße des Feudalismus. Die Bourgeoisie sei deshalb im Wesen konservativ, im Prozess evolutionär und politisch nur unter sehr besonderen Bedingungen auch revolutionär: „Die revolutionäre Bourgeoisie entwickelt ihre Aktion von der Voraussetzung einer ihrem Klassenwesen und ihren Klassenzielen entsprechenden Basis, sie bedurfte, um revolutionär zu sein, keiner theoretischen Konstruktion eines zu erreichenden Gesellschaftszustandes, da sie selbst in dem Zustand war, den sie nur aus der Besonderheit in die Allgemeinheit heben wollte.“ (Kühne 1970: 572)

Das Proletariat dagegen, so Kühne, wolle durch seine eigene Herrschaft sich selbst und die Klassengesellschaften insgesamt aufheben. Dies aber sei nur möglich, wenn Klassenhandeln theoretisch vermittelt sei. Ohne die „theoretische Konstruktion eines zu erreichenden Gesellschaftszustandes“ könne die Arbeiterklasse anders als die Bourgeoisie, so die Annahme, ihr eigenes Wesen nicht verwirklichen. Wie anspruchsvoll diese Denkfigur ist, wird deutlich, wenn man sich bewusst wird, dass ein Akteur darauf angewiesen ist, dass die durch eigenes Handeln vermittelte (Selbst-)Aufhebung theoretisch antizipiert wird. Verwirklichung des Klasseninteresses ist zugleich die Negation der eigenen Klassenexistenz durch Hervorbringung eines gesellschaftlichen Zustandes, der im völligen Gegensatz zur Gegenwart steht. Die Theorie dieser revolutionären Negation und Aufhebung wird zur unverzichtbaren Bedingung der Praxis. Daraus ergibt sich auch das Primat der Politik als Permanenz des Prozesses des Werdens des Kommunismus, durchgesetzt unter Führung einer Partei, die sich ihrerseits auf eine Theorie der historischen Mission der Arbeiterklasse stützt. Es ist das Primat einer am Kommunismus orientierten Politik und nur als solches zu legitimieren.

Die Gesellschaft, in der Kühne lebte, verstand er „zuerst und wesentlich als Kommunismus“: Der Sozialismus sei „zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus kein Drittes, obgleich er in einer gewissen Hinsicht so erscheint“ (Kühne 1981: 170). Kühne folgte dabei Marx, der in der „Kritik des Gothaer Programms“ vorausblickend schrieb: „Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt.“ (Marx 1875: 20) Es sei eine kommunistische Gesellschaft, die die ihr adäquate Produktions- und Lebensweise und Bedürfnisstruktur noch nicht selbst hervorgebracht habe. Deshalb sei auch der Widerspruch zwischen den Einzelnen als „Gesellschaftsgliedern“ und „Privatindividuen“ noch nicht aufgehoben. Dafür müssten erst die notwendigen Bedingungen geschaffen werden. Diese Bedingungen sind nach Marx das Verschwinden der „knechtende[n] Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit“, das Werden der Arbeit zum „erste[n] Lebensbedürfnis“ sowie ein Prozess, bei dem „mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“ (Marx 1875: 21). Dann gelte: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ In einer frühen Phase, so Marx also, werden noch bürgerliche Prinzipien gebraucht. Genauso argumentierte dann auch Lenin in „Staat und Revolution“, wenn er folgerte: „Das bürgerliche Recht setzt natürlich in Bezug auf die Verteilung der Konsumtionsmittel unvermeidlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen. So ergibt sich, dass in diesen Vorstellungen im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern sogar auch der bürgerliche Staat – ohne Bourgeoisie!“ (Lenin 1974: 485)

Daran schloss Lothar Kühne unmittelbar an. Er fügte dem Marxschen Insistieren auf dem bürgerlichen Moment im Leistungsprinzip und Lenins These von bürgerlicher Staatlichkeit als Moment der Diktatur des Proletariats die architektonische und gestalterische Dimension und die Wirkungen in der Lebensweise hinzu. Er schrieb: „Ein wesentlicher Widerspruch des Sozialismus ist der zwischen dem kommunistischen Charakter seiner gesellschaftlichen Verhältnisse und den diesem nicht voll entsprechenden gegenständlichen und räumlichen Lebensbedingungen.“ (Kühne 1981: 172) Kühne bildete ein ästhetisches kategoriales Gerüst, das dem des Verhältnisses von Kommunistischem und Bürgerlichem in Marx’ „Kritik des Gothaer Programms“ entsprach. Im Sozialismus ginge es darum, die kommunistischen Raumbeziehungen, einen dem Kommunismus adäquaten persönlichen gegenständlichen Reichtum der Individuen, die darauf drängende ästhetische Emotionalität hervorzubringen. Grundmotiv ist dabei die Aussage: „Das Privateigentum, seine Bedürfnisse und seine Gegenstände trennen, das kommunistische Eigentum, seine Bedürfnisse und seine Gegenstände vereinen, assoziieren die Menschen.“ (Kühne 1981: 67).

Zentral für Kühnes marxistische Ästhetik, wie sie sich in den 1960er Jahren immer klarer herausbildete, war die Bestimmung des Funktionalismus als kommunistisches Gestaltungsprinzip. Es werden dabei zwei Prinzipien entfaltet: (1) „Funktionalismus als sozialistisches Gestaltungsprinzip gegenständlicher und räumlicher Lebensbedingungen zielt auf die funktionelle Totalität des spezifischen Gegenstandes oder Raumes.“ (2) „Funktionalistische Gestaltung organisiert die materiellen Lebensbedingungen unter dem absoluten Vorrang der praktischen Erfordernisse des menschlichen Lebens.“ (Kühne 1981: 74) Sie dürfe dabei keineswegs auf „erbarmungslose praktische Funktionserfüllung“ zielen, sondern müsse „auch praktisch funktionieren“ (Kühne 1981: 75). In kommunistischer Reinheit formuliert: „Die wesentlichste, werthöchste Form des ästhetischen Genusses praktischer Lebensbedingungen ist der Genuß des durch diese vermittelten Gebrauchs, der Genuß der praktischen Lebenstätigkeit selbst.“ (Kühne 1981: 75) Dazu bedürfe es auch einer funktionalistisch gebildeten Sinnlichkeit (siehe Kühne 1981: 76).

Von Gegenständen entlastete, durch Behutsamkeit im Gebrauch geprägte Räumlichkeit bildete für Kühne den kommunistischen Pol der Gestaltung im Sozialismus. Die in solidarischen Beziehungen sich bestätigende Individualität der Einzelnen sollte sich vor allem in der je besonderen Nutzungsweise und Kombination seriell erzeugter, funktional gestalteter Gegenstände entfalten. Wie Kühne schrieb: „das industrielle Gesetz der Serie hat die Tendenz, den Gegenstand ästhetisch als allgemein zu fassen“ (Kühne 1981: 166). Er sprach auch von der „kommunistischen Potenz der Serie“ (Kühne 1981: 198) und sah die Widersprüchlichkeit des individuellen kommunistischen Eigentums in der „Beziehung von konkreter individueller Zuordnung, Aneignung und realer gesellschaftlicher Allgemeinheit des Gegenstandes“ (Kühne 1981: 196). Die Gegenstände sollten prinzipiell für alle verfügbar sein.

Dem Funktionalismus stellte Kühne mit geradezu überschießender Lust die Kritik an der Ornamentik gegenüber (Kühne 1985d). Fassadisierung, Ornamentisierung, Kitsch und Mode wurden für ihn zum Inbegriff des Bürgerlichen in der Moderne als dem anderen Pol, teils rückwärts gewandt, teils hypermodern: „Die einfache Übersetzung des vergesellschafteten Gegenstandes in die Gestalt vorkapitalistischer Bürgerlichkeit ist der Kitsch, die dem Kapital wesenhafte Form der Unterwerfung des produktionsmäßig vergesellschafteten Gegenstandes unter seine Verwertungserfordernisse ist eine Zwischengestalt dieser beiden Ästhetiken, die Mode.“ (Kühne 1981: 166)

Gestaltung der Räume und Gegenstände im Sozialismus stellten sich für Lothar Kühne als widersprüchlicher Prozess der Entfaltung der kommunistischen Potentiale und gleichzeitige Zurückdrängung der bürgerlichen Formen dar, wobei letztere – wie auch Ware-Geld-Beziehungen – zugleich noch als Vermittlungsformen des werdenden Kommunismus reproduziert werden würden. Dies sei schon deshalb unvermeidlich, weil es ein Unbehagen und Leiden an den noch nicht kommunistisch entfalteten Produktions- und Lebensbedingungen gibt. Die Individuen würden deshalb auch Weisen des Begehrens entfalten, die sich im Bürgerlichen bejahen.

Die erste Frage, die sich mir beim Lesen dieser Positionen heute aufdrängt, ist die, ob Kühne nicht doch, bei aller Vorsicht, die er walten ließ, das Kommunistische zu sehr an die industrielle Massenproduktion gebunden hat. Diese selbst erweist sich schon jetzt als Durchgangstufe. Es erfolgt der Übergang, noch zögernd, von seriell hergestellten zu individualisierten Produkten, selbst zu biologisch-organischen Formen, von denen bisher nur erste Andeutungen erkennbar sind. Kühne geht mit guten Gründen davon aus, „daß auf der Grundlage moderner Gestaltungskonzeptionen Räume durch standardisierte Elemente individuell charakteristischer zu bilden sind als durch kunstig individuierte Gegenständlichkeit“ (Kühne 1985a: 205). Es könnte sich aber erweisen, dass sich die gesellschaftliche Allgemeinheit des Gegenstandes zunehmend nicht mehr in der Standardisierung und Austauschbarkeit zeigen wird, sondern vor allem in dem allgemeinen Zugang zu je konkreten Gegenständen in konkreten Räumen, die auf der Basis allgemein zugänglicher Herstellungsverfahren erzeugt werden und doch jeweils unikal sind. Auch hier könnten Tendenzen einer Negation der Negation wirken, die auf vorkapitalistische Produktions- und Lebensweisen zurückverweisen. Von einer „Standardisierung der individuellen Lebensbedingungen“ (Kühne 1981: 199) kann so auch wieder Abschied genommen werden. Das Ornament, die Fassade, selbst der Kitsch wären so auch als vorgreifende Sehnsucht verstehbar.

Zweitens könnte sich erweisen, dass Lothar Kühne Marx überhaupt darin folgte, im Bürgerlichen nur das Vergehende, Absterbende zu sehen und nicht auch jene Elemente zu erkennen, die bleibende Bedingungen von solidarischer Emanzipation sind. Wenn Marx in den Menschen- und Bürgerrechten nur das Rechtsbewusstsein der Privateigentümer und Akteure im Austauschprozess des Marktes sah (Marx 1843: 366, 1890: 189), so hatte ein Jahrhundert später Ernst Bloch nach den Erfahrungen des Stalinismus eingewandt: „Überall […] soll es das gleiche Banner der Menschenrechte sein, welches die Werktätigen als Widerstandsrecht in kapitalistischen Ländern erheben, welches sie in sozialistischen durch Aufbau des Sozialismus, Kritikrechte, ja Kritikpflicht in diesem Aufbau vorantragen. Sonst würde ja – contradictio in adjecto – autoritärer Sozialismus gelten, indes doch die Internationale das Menschenrecht erkämpft: organisierte Mündigkeit.“ (Bloch 2007: 204) Es klingt für mich heute zu glatt, wenn es bei Kühne heißt: „Der individuelle Raum ist persönlich für die Menschen in dem Maße entfaltet und auch psychisch gesichert, wie er zum gemeinschaftlichen hin aufschließbar und aufgeschlossen ist.“ (Kühne 1981: 197) Die Worte „aufschließbar“ und „aufgeschlossen“ sind nicht dasselbe. Ersteres impliziert auch die Möglichkeit des Abschließbaren und damit des je nach Situation, Zeit, Bedürfnis Geschlossenen. Es ist doch auch das Umgekehrte richtig: Die psychische Sicherung verlangt den Schutz und die individuelle Kontrolle über den Zugang zu den individuellen Räumen – leiblich wie seelisch. Dies muss sich auch architektonisch niederschlagen. Ganz falsch scheint es mir zu werden, wenn Kühne schrieb, dass es „der tragende Widerspruch des persönlichen Raumes“ sei, „dass er nur durch die gesellschaftliche Allgemeinheit der ihn wesentlich bildenden gegenständlichen Elemente konstituiert ist“ (Kühne 1981: 200 – Hervorhebung M. B.). Der Funktionalismus einer Gesellschaft jenseits der industriellen Massenproduktion kann auch bezogen auf die Elemente individuell oder gruppenspezifisch sein.

Apodiktisch und meines Erachtens falsch war auch die folgende Position: „Keiner hat das Recht und den Trieb, diese Gegenständlichkeit durch ein individuelles Zeichen zu belasten, weil sie von dem freien und assoziierten Handeln der ganzen Gemeinschaft des Volkes, der Gemeinschaft von Völkern und schließlich der Menschheit zeugt.“ (Kühne 1981: 206) Es könnte sich erweisen, dass diesem Trieb geradezu die Zukunft gehört, weil Individualität und Allgemeinheit Beziehungen eingehen werden, die die räumlichen wie gestalterischen Differenzen radikal erhöhen. Behutsamkeit erhielte damit zugleich einen viel engeren und intimeren gegenständlichen Halt. Kaum jemand wird zögern, einen „Wohnblock“ abzureißen, während man vor dem Wegbaggern jedes Bauernhauses, in das Individual-, Familien- und Dorfgeschichte eingearbeitet ist, zurückscheut wie vor einem Frevel. Kühne folgt am Ende einer Tendenz der Verabsolutierung des Gesellschaftlichen, so sehr er – wie Marx – die freie Entwicklung des Individuums auch betont. Dies drückt sich aus in Formulierungen wie der folgenden: „Sich selbst universell entfaltend, ist das Individuum […] stets wesentlich mit der Gesellschaft befaßt, das ist seine kommunistische Bestimmung.“ (Kühne 1981: 267) Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird zu unmittelbar gedacht, die Widersprüche und ihre notwendigen Vermittlungen geraten aus dem Blick oder – problematischer noch – werden als „bürgerlich“ abgewertet.

Drittens: In Kühnes Werk „Gegenstand und Raum“ heißt es fast abschließend: „Der praktische Gegenstand ist eine auf das Individuum bezogene Setzung der gesellschaftlichen Assoziation, und das Kunstwerk ist eine auf die Assoziation bezogene individuelle Setzung.“ (Kühne 1981: 271) Schaudernd wandte sich Kühne ab, als Herbert Letsch und Karla Scharf diesen Satz so reformulierten: „Der praktische Gegenstand, beziehungsweise die serielle und standardisierte Gegenständlichkeit, ist eine auf das Individuum als Träger kollektiver, gleichartiger, gemeinsamer Bedürfnisse bezogene Setzung der gesellschaftlichen Assoziation, und das Kunstwerk ist eine auf die Assoziation bezogene Setzung der besonderen Individualität.“ (zitiert in Kühne 1985a: 202) Kühne widersprach der kategorialen Teilung der Individuen und betonte, dass das Individuum „immer Einheit von Allgemeinem und Besonderem, insofern auch Einmaligem“ (Kühne 1985a: 203) sei. Er selbst, so Kühne, würde die Entfaltung einer „Gemeinschaft der Menschen“ denken, „die eben nicht nur in der Austauschbarkeit der Individuen beruht, deren Produktivität vielmehr im Widerspruch der individuellen Charaktere gegründet ist“ (Kühne 1985a: 205). Das „nur“ verweist aber auf ein sprachlich verdecktes Problem: Die Austauschbarkeit war real und die Individualität wurde – auch ästhetisch – in der DDR nicht nur deshalb „als gefährdet empfunden“, „weil sich die bürgerliche Individualität bedrängt sieht“ (Kühne 1985a: 206). Das „Monotonie- und Ödeerleben“ (Kühne 1993a: 160) war verbreitet, die Spaltung in „Durchschnittsindividuen“ und „Persönlichkeit“ manifest. Kühne wusste dies, wollte aber vor allem den Prozess der werdenden Aufhebung und weniger die neuen, auch auf Emanzipation zielenden Differenzen sehen.

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Lothar Kühne hatte ein wissenschaftlich-philosophisches Projekt marxistischer Ästhetik entwickelt, das deshalb bleibende Bedeutung hat, weil es eine radikale Suche formuliert. Durch seine Konsequenz zeigt es auf, was im Rahmen dieses Paradigmas Großes möglich ist und wo die Grenzen liegen. Dies kann helfen, heute die Leitfragen zu reformulieren, die Methodologie neu zu fassen, den kategorialen Rahmen zu verändern und sich der transformierten ästhetischen Wirklichkeit anders zu stellen – belehrt und bereichert durch das Erbe, das Lothar Kühne hinterlassen hat. Dazu aber muss es erst einmal umfassend erschlossen werden.

Erschienen in: Initial - Berliner Debatte Heft 2019/ 2 "Die Ästhetik des Kommunismus - Lothar Kühne"

 

Literatur

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Brie, Michael (1993): Die Tragödie eines kommunistischen Intellektuellen zwischen Mauer und Menschheitsutopie. In: Brie, Michael; Hirdina, Karin (Hg.): In memoriam Lothar Kühne. Von der Qual, die staatssozialistische Moderne zu leben. Berlin: GSFP – Edition Berliner Debatte, S. 35-53.

Brie, Michael (1998): Staatssozialistische Länder Europas im Vergleich. Alternative Herrschaftsstrategien und divergente Typen. In: Wiesenthal, Helmut (Hg.): Einheit als Privileg? Frankfurt a. M., New York: Campus, S. 39-104.

Brie, Michael; Hirdina, Karin (Hg.): (1993): In memoriam Lothar Kühne. Von der Qual, die staatssozialistische Moderne zu leben. Berlin: GSFP – Edition Berliner Debatte.

Chrustschow, Nikita S. (1961): Der Triumph des Kommunismus ist gewiss. Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXII. Parteitag der KPdSU über das Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Oktober 1961. Berlin: Dietz.

Hirdina, Heinz (1993): Verspätetes Porträt. In: Brie, Michael; Hirdina, Karin (Hg.): In memoriam Lothar Kühne. Von der Qual, die staatssozialistische Moderne zu leben. Berlin: GSFP – Edition Berliner Debatte, S. 8-11.

Kleeberg, Bernhard (2017): Wirtschaft. In: Martínez, Matías (Hg.): Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 203-209.

Kühne, Lothar (1953): Brief an die Redaktion des Neuen Deutschlands, 15. Juli 1953 (im Nachlass).

Kühne, Lothar (1970): Ökonomie und Politik in der sozialistischen Gesellschaft. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Ges.-Sprachwiss. R. XIX, S. 571-582.

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Kühne, Lothar (1985d): Ornament – Poesie der Erinnerung und Ästhetik kommunistischer Praxis. In: Haus und Landschaft. Dresden: Verlag der Kunst, S. 47-86.

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Meuschel, Sigrid (1992): Legitimation und Parteiherrschaft: Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Petruschat, Jörg (1993): Häuslichkeit ist in aller Geschichte. In: Brie, Michael; Hirdina, Karin (Hg.): In memoriam Lothar Kühne. Von der Qual, die staatssozialistische Moderne zu leben. Berlin: GSFP – Edition Berliner Debatte, S. 60-68.

Weber, Max (1922): Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr, S. 146-214.