Die getarnte Spekulation

Worst Case-Analysen und imperiale Hegemonie im neokonservativen Diskurs

Alexis de Tocqueville, früher Begründer der modernen politischen Wissenschaft, breitet am Ende seines ersten, 1835 erschienenen Bandes „Über die Demokratie in Amerika" völlig überraschend und scheinbar kontextlos die Vision einer zweigeteilten Welt aus: „Es gibt heute auf Erden zwei große Völker", schreibt er, „die dem gleichen Ziel zuzustreben scheinen: die Russen und die Angloamerikaner [...]. Ihr Ausgangspunkt ist verschieden, ihre Wege sind ungleich; dennoch scheint jeder von ihnen nach einem geheimen Plan der Vorsehung berufen, eines Tages die Geschicke der halben Welt in seiner Hand zu halten" (Tocqueville 1987a: 613f.). Wirklich beeindruckend ist dieses Fazit, wenn man sieht, dass sich gut einhundert Jahre später eine bipolare Welt im Kalten Krieg formierte, die genau dieser Trennung folgte. War doch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt durch das sicherheitspolitische Szenario eines militärischen Showdowns, der bei seinem Eintritt die absolute Vernichtung der Welt bedeutet hätte. Unter der Ägide der USA und Russlands prallten zwei ideologische Welten aufeinander, die sich militärisch jeweils gegenseitig zu übertrumpfen suchten.

Ein Nachfahre des Tocqueville'schen Visionismus ist der US-amerikanische Publizist und Politologe Robert Kagan. Auch Kagan - und mit ihm weite Teile der neokonservativen außenpolitischen Denker der USA - denkt bevorzugt in „Blöcken", auch wenn seine Axiomatik und Methodologie sich wesentlich von denen Tocquevilles unterscheiden. Kagan gehört zu jenen außenpolitischen Ideologen, die militärisches Handeln, Unilateralismus, amerikanische Werteüberlegenheit und imperiale Hegemonie ins Zentrum ihres außenpolitischen Denkens stellen. Seit Anfang der 1980er Jahre haben sie in der US-amerikanischen Sicherheitspolitik kontinuierlich an Einfluss gewonnen, bis sie zuletzt unter George W. Bush maßgeblich die ideologischen Vorlagen für die Irak-Invasion 2003 lieferten.1 Angesichts eines wahrscheinlichen Machtwechsels in den USA, der ihren politischen Einfluss beenden könnte, tauchten die Postulate der Neokonservativen noch einmal mit vermehrtem Eifer in Publikationen und Zeitungen auf - wollten sie doch ihr außenpolitisches Erbe sichern.

Schon immer waren die Neokonservativen Sprachhandelnde.2 Ihre Artikel, obwohl im wissenschaftlichen Kontext publiziert, strotzten oft vor zynischer Hemdsärmligkeit gegenüber Andersdenkenden. Sie legten es ziemlich unverblümt auf die Gestaltung politischen Handelns an, auch indem ihre Artikel finale, unausweichlich erscheinende Szenarien entwarfen. Zuletzt diagnostizierte Kagan, der Gründer des neokonservativen Think-Tanks Project for the New American Century, eine weitreichende sicherheitspolitische Hilflosigkeit westlicher Demokratien - insbesondere des postmodernen europäischen Staatenbunds - gegenüber den stärker werdenden Autokratien im Osten, wie China und Russland. In seinem Artikel „Kampf der Jahrhunderte - Neues Europa, altes Russland" (Süddeutsche Zeitung vom 9./10.02.2008) fordert er - vor dem Hintergrund der Konflikte Moskaus mit der Ukraine, Georgien und dem Baltikum - die verstärkte militärische Konfrontation Russlands durch Europa. Kagan konstatiert dass „militärische Macht wieder zum Kern russischer Außenpolitik" gehöre und Europa darauf weder institutionell noch psychologisch vorbereitet sei.3 Der institutionelle Staatenbund des 21. Jahrhunderts sehe sich mit einer Großmacht des 19. Jahrhunderts konfrontiert, die sich nur mit ihren eigenen Waffen schlagen lasse. Alle europäische „soft power" sei vor diesem Szenario nichts als kalter Rauch, schließlich befinde man sich am Beginn eines neuen Zeitalters der Geopolitik: „In jedem Fall wird ein Konflikt Russlands mit der Ukraine oder mit Georgien eine neue Weltordnung begründen - vielleicht auch eine sehr alte Weltordnung", so Kagan (ebd.). Warum aber sieht Kagan hier eine neue Weltordnung heraufziehen? Warum meint er, das postmoderne Europa sei der alten Weltordnung nicht gewachsen? Und was ist seine eigene Rolle bzw. die einer neokonservativen Außenpolitik innerhalb dieser Konstellation?

Alexis de Tocqueville kann hier helfen - inhaltlich, methodologisch sowie als sprachhandelnder Wissenschaftler: Sieht man sich dessen visionären Gedanken eines Wettlaufs Amerikas mit Russland um die Vorherrschaft in der Welt genauer an, entpuppt er sich als Resultat einer Spekulation, die eine klare Absicht verfolgt. Vor dem Hintergrund seiner eigenen, noch aristokratisch sozialisierten Weltsicht erblickt Tocqueville jenseits des Atlantiks eine neue demokratische Lebensform, die sich fundamental von allem in Europa bekannten sozialen Dasein unterscheidet. Die amerikanischen Bürger seiner Zeit, gleich an Rechten und unmittelbar an der Gestaltung ihrer Lebenswelt beteiligt, sind dem Prinzip der Gleichheit unterstellt. Und diese Gleichheit hat es Tocqueville angetan. Ob man ihn nun als Freund der Volkssouveränität und Gleichheit liest oder aber als vor Zentralismus und dem Verlust persönlicher Freiheit Warnenden - seine Methode beim Verfassen von „Über die Demokratie in Amerika" ist die Anwendung der Gleichheit auf alle Belange des Staates und des Individuums in Amerika. Und je mehr er in seinem Werk fortschreitet, desto mehr neigt er zu einer idealtypischen Kontrastierung demokratischer mit aristokratischen Lebensweisen. Zu den Letzteren rechnet er - widerwillig, aber dennoch - auch die des im absolutistischen System gleichgeschalteten Adels, der mit einer Aristokratie als lokaler Verwalterin der Belange ihrer Untergebenen und mittelnder Gewalt gegenüber der Staatsspitze nur mehr wenig zu tun hat.4 Als rückständigstes Beispiel dieser höfisch-aristokratischen Lebensweise erscheint ihm derweil das zaristische Russland. Die herrschaftlichen Auswüchse des feudalistischen Zentralismus sind für Tocqueville im Ergebnis mit den Gefahren demokratischer Herrschaft vergleichbar: In beiden Herrschaftssystemen sieht sich der einzelne Mensch mit einem übermächtigen und paternalistischen Staatsgebilde konfrontiert, dem er, seiner persönlichen Freiheit beraubt, ohnmächtig gegenübersteht. Idealtypisch kontrastiert er somit zwei Gesellschaftssysteme, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Und gerade das macht den Ambivalenzdenker Tocqueville so modern: Er schafft eine Dialektik gesellschaftlicher Gleichzeitigkeit, die er nicht aufzulösen trachtet. Das Ausbleiben eines Showdowns, die Offenheit des Endes lässt seine Analyse über weite Teile der „Demokratie in Amerika" kühl, klar und umfassend erscheinen.5 Nur selten verfällt er darauf, die Spannung seiner Dialektik nicht mehr auszuhalten. Dann driftet er ins Visionäre. So auch seine Spekulation um die großen Antipoden, „die Russen und die Angloamerikaner". Sein Visionismus gründet auf einer getarnten Spekulation, die Evidenz nur vorgibt. Tocqueville verfolgt mit ihr ein klares Ziel: „Hört her", ruft er uns zu, „was ich euch sage, ist wichtig und bestimmt den Fortgang unserer Welt!" Er fordert eine „neue politische Wissenschaft", die den sich verändernden politischen Bedingungen gerecht wird.

Ähnlich ernst ist es auch Robert Kagan mit seinem „Kampf der Jahrhunderte". Seine Vision eines „neuen Zeitalters" will zunächst einmal Aufmerksamkeit. Sie will uns sensibilisieren für außenpolitische Bedrohungen einer sich verändernden Welt, die derzeit noch außerhalb unserer Wahrnehmung liegen. Doch ähnlich wie bei Tocqueville bewegt sich Kagans Bedrohungsanalyse - und nicht nur diese, sondern auch die der meisten anderen neokonservativen Denker - auf der Ebene getarnter Spekulation.

Jede Bedrohungsanalyse hat durch ihren Bezug auf Zukunft einen spekulativen Gehalt, der Raum bietet für normative Aufladung. Bedrohungsanalysen gehören zum alltäglichen Handwerkszeug der Außen- und Verteidigungspolitik von Staaten, und sie gehören zu jeder umfassenderen Analyse im Forschungsfeld der Internationalen Beziehungen. Staaten bauen auf Bedrohungsanalysen strategische Ausrichtungen in Diplomatie und Verteidigungspolitik auf, Wissenschaftler haben in der Arbeit mit ihnen die Möglichkeit, unterschiedlichen Zukunftsszenarien eine Vielfalt von Bedrohungskonstellationen zu unterlegen. Robert Kagan, William und Irving Kristol, Charles Krauthammer, Condoleezza Rice und andere Vordenker neokonservativer Außenpolitik haben sich jedoch auf eine ganz spezielle Art von Bedrohungsanalyse spezialisiert: nämlich die des größten anzunehmenden Unfalls.

Diese Worst Case-Analysen, die zwischenzeitlich zum Markenzeichen der neokonservativen Denkströmung wurden, sind aber gleichzeitig die größte Schwäche ihrer sicherheitspolitischen Ratschläge. Als getarnte Spekulation können sie deshalb gelten, weil sie als absolute Gewissheiten präsentiert werden. Die getarnten Spekulationen in Form von einseitigen Bedrohungsanalysen invisibilisieren systematisch den visionären Gehalt der Zukunftsprojektionen dieser Denkrichtung sowie den normativen Gehalt neokonservativer Axiomatik. Auf diese Weise erhöhen sie den manipulativen Gehalt ihrer sprachhandelnden Aussagen mit dem Ziel, auf die Dringlichkeit politischen Handelns im Sinne ihrer Ideologie hinzuweisen. Die Setzung der Worst Case-Bedrohungsanalysen in einen visionären Begründungszusammenhang verfolgt also das Ziel, die Axiomatik und die Einseitigkeit neokonservativer Analysen zu verschleiern und eine scheinbar ausweglose Situation heraufzubeschwören. Eine Zukunft nämlich, die sich als „neues Zeitalter" präsentiert, erscheint nur dann unhinterfragbar und ausweglos, solange sie sich ausreichend fingierter Objektivität bedient.

Im Unterschied zum Visionismus von Alexis de Tocqueville sind die projektiven Zukunftsanalysen der Neokonservativen aber nicht das Ergebnis einer idealtypischen Verdichtung im Rahmen von großer Theorie. Ganz im Gegenteil: In ihrer Absolutheit sind die Bedrohungsanalysen der Neokonservativen ihrem Zweck, nämlich ihrer Austauschbarkeit zur Generierung unterschiedlicher außenpolitischer Handlungsmöglichkeiten, nicht gewachsen. Um dieses Versäumnis zu vertuschen, kommen sie oft im Gewand der großen Zeitenwende daher. Die Eindeutigkeit und scheinbare Ausweglosigkeit ihrer durch getarnte Spekulationen konstituierten Projektionen bietet den Raum, um die normative Programmierung einer akteurszentrierten Wissenschaft, deren Mitspieler sie sind, zu verschleiern. Im Sinne des psychoanalytisch inspirierten Theorems von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis6 schaffen die getarnten Spekulationen auf der Ebene des Diskurses erst das Ausmaß an außenpolitischer Bedrohung, das die imperiale Hegemonie Amerikas als zentrale Forderung der neokonservativen Denker legitimiert.

Einige Beispiele: Charles Krauthammer sieht unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein neues „Zeitalter der Massenvernichtungswaffen" (Krauthammer 1991: 31) heraufziehen. Er stützt seine Einschätzung des Gefahrenpotenzials von „weapon states", die im Mittelpunkt seiner These stehen, allein auf eine Aussage Dick Cheneys, damals Verteidigungsminister unter George Bush Sr., und spekuliert: „Im Jahr 2000 werden mehr als zwei Dutzend Entwicklungsländer Raketenabwehrsysteme haben. 15 dieser Länder werden technisch dazu in der Lage sein, diese selbst herzustellen. Die Hälfte dieser Länder wird dann schon selbst Atomwaffen besitzen oder zumindest kurz davor stehen. 30 Länder werden über chemische Waffen verfügen, und zehn werden die Möglichkeit besitzen, biologische Waffen einzusetzen." (Cheney; in ebd.: 30) Warum aber spielt Krauthammer nicht mit weiteren möglichen Zahlen und berücksichtigt damit auch prozessuale Veränderungen innerhalb des prognostizierten Zeitraums? Sind Hochtechnologien für länderübergreifende Raketenträgersysteme wirklich hinterrücks von heute auf morgen zu beschaffen und zum Einsatz zu bringen? Wo sind die für Bedrohungsanalysen notwendigen unterschiedlichen Bedrohungsmodelle? Warum spielen Wirtschaft und Institutionalismus, die nicht-militärischen Parameter der Außen- und Sicherheitspolitik, und deren Umsetzung in multilateralen Verträgen keine Rolle? Warum finden die UN und ein Weltstrafrecht keinen Platz? Warum also werden ganze Politikfelder der Internationalen Beziehungen ausgeblendet?

Auch Robert Kagan und William Kristol beschränken sich in ihren Texten auf pessimistische Bedrohungsanalysen, wie z.B. in ihrem 2000 erstmalig erschienenen Text „National Interest and Global Responsibility": „Innerhalb der nächsten zehn Jahre könnten wir zu entscheiden haben, ob wir Taiwan gegen den Chinesen verteidigen. Wir könnten einem weiteren Versuch des wiederbewaffneten Saddam Hussein gegenübersehen, die Ölfelder Kuwaits zu erobern. Und ein autoritäres Regime in Russland könnte es darauf anlegen, sich einiges von dem zurückzuholen, was es 1991 verloren hat." (Kagan/Kristol 2004: 60) Sie rechnen damit, dass Irak, Iran, China und Nordkorea bis zum Jahr 2010 Atomwaffen besitzen (ebd.). Diese Bedrohungseinschätzung begründen sie historisch: „Diese Bedrohungen und Herausforderungen erschöpfen nicht die Möglichkeiten, denn die Geschichte zeigt, dass wir wahrscheinlich auch im nächsten Jahrzehnt mit Gefahren konfrontiert sein werden, die wir uns heute nicht vorstellen können. Sehr viel kann in zehn Jahren passieren." (Ebd.) Als Beispiel für die unkalkulierbare Ferozität der Geschichte dient ihnen die Zeit von 1788 bis 1798 in Frankreich - der Wechsel vom Absolutismus Ludwigs XVI. über die Französische Revolution bis hin zu Napoleon. Andere Bedrohungsszenarien als derart pessimistische erscheinen ihnen verantwortungslos. Das Autorenpaar lehrt uns mit der Denkfigur des vorausschauenden Rückblicks dementsprechend das Fürchten: „Es wäre schrecklich, wenn wir auf die Gegenwart zurückschauen müssten als große, aber flüchtige Chance, die fahrlässigerweise ungenutzt blieb. Alles hängt davon ab, was wir jetzt tun." (Ebd.: 61)

In den Bedrohungsanalysen von Krauthammer, Kagan und William Kristol findet sich eine Logik des permanenten Ausnahmezustands. Alle drei Autoren stemmen sich gegen die These vom Staat Amerika als „a Normal Country in a Normal Time", die Jeane Kirkpatrick 1990 zum Ende des Kalten Krieges aufstellte. Sie verweigern einen „return to normalcy" im Sinne einer amerikanischen Fokussierung auf innenpolitische Herausforderungen. Für Kagan und Kristol liegt die Normalität amerikanischen außenpolitischen Handelns im „American exceptionalism" (1996: 19) und ist jederzeit zu belegen.7 Die These der „Rückkehr zur Normalität" hingegen gefährde das, was keine Selbstverständlichkeit sei: negativen Frieden auf der Basis amerikanisch-hegemonialer Abschreckung. „Die Amerikaner nehmen die Früchte ihrer Hegemonialstellung inzwischen als gegeben hin. [...] Sie sehen nicht, dass potenzielle Herausforderer durch Amerikas Macht und Einfluss abgeschreckt werden, bevor sie überhaupt über eine Konfrontation nachdenken." (Ebd.: 22f.) Die vorbeugende Bedrohungsbekämpfung durch militärische Abschreckung ist bei ihnen nicht nur die Voraussetzung für die Sicherheit ihres Landes, sondern auch für den Weltfrieden. Die amerikanische Sonderrolle des Weltabschreckers verträgt sich nicht mit dem Begriff der Normalität. Sie ist hegemonial angelegt. Sie verzichtet auf Einbindung in internationale Organisationen wie die UNO und lehnt diese als ordnungspolitisches Steuerungsinstrument ab. Ihre Legitimität beruht einzig auf der Annahme eines permanenten internationalen Ausnahmezustandes - eine internationale Anarchie, die den agierenden Staaten stets ein hobbesianisch-pessimistisches Handlungsmuster unterstellt. Dieser Ausnahmezustand wird durch die ständige Aktualisierung von immer neuen Worst Case-Bedrohungsanalysen gestützt. Die Verteidigung US-amerikanischer Hegemonie und die Schaffung immer neuer Bedrohungen bedingen sich also gegenseitig. Nur auf der Basis der verschleierten Worst Case-Analysen kann noch ein diskursiver Kontext im Wissenschaftsbereich der Internationalen Beziehungen geschaffen werden, der nicht als explizit politisch zu erkennen ist. Die getarnten Spekulationen verschleiern also den manipulativen Gehalt der neokonservativen außenpolitischen Analysen, die durch die Einseitigkeit ihrer Bedrohungsszenarien sowie durch die Eingeschränktheit des neokonservativen Repertoires außenpolitischer Mittel bestechen. Sie dienen der Schaffung, Legitimierung und Fortschreibung eines imperialen Konzepts US-amerikanischer Außenpolitik.

So auch bei Charles Krauthammer. Er operiert mit einer antipodischen Verdichtung, die außenpolitische Handlungsoptionen auf zwei Möglichkeiten reduziert: „The alternative to unipolarity is chaos" (1991: 32), schreibt er, und: „If America wants stability, it will have to create it" (ebd.: 29). Dieser Wahl zwischen amerikanischer Imperialhegemonie und dem absoluten Verlust internationaler Sicherheit geht die binäre Unterscheidung zwischen normalen und abnormalen Zeiten voraus. Für Krauthammer kann es auch nach dem Ende des Kalten Kriegs keine normalen Zeiten geben: „Wir leben in ungewöhnlichen Zeiten. Unsere größte Hoffnung auf Sicherheit in solchen Zeiten liegt im Vertrauen auf Amerikas Stärke und seinen Willen, eine unipolare Welt zu führen, ungeniert die Regeln für eine Weltordnung festzulegen und diese gegebenenfalls auch durchzusetzen." (Ebd.: 33) Die unterkomplexe argumentative Polarisation schafft erst den scheinbar alternativlosen Bedarf für die globale US-amerikanische Hegemonialpolitik. Führte er eine differenzierte Bedrohungsanalyse durch, bedingte diese auch eine differenziertere Sicherheitsdoktrin. Krauthammers Festlegung auf den permanenten Ausnahmezustand (i.e. „abnormal times") ist jedoch die Arbeit mit einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, die in ihrer andauernden diskursiven Fortschreibung die hegemoniale Attitüde legitimieren soll.

Auch europäische Politikwissenschaftler vertreten zunehmend die These von der Ausweglosigkeit amerikanischer imperialer Hegemonie im internationalen Sicherheitsgefüge. Unter ihnen ist der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der in seinem Buch „Imperien. Die Logik der Weltherrschaft" (2005) den autopoietischen Charakter imperialer Herrschaft hervorhebt. Seine Imperientheorie ist von politischen wie militärischen Interventionszwängen im internationalen Staatensystem getragen. Analog zu einer Interpretation des Melierdialogs bei Thukydides, die ein Neutralitätsverhalten Athens im Peloponnesischen Krieg als nachhaltigen Legitimitätsverlust für das damalige Imperium versteht, sieht Münkler das amerikanische Weltimperium der Gegenwart dazu gezwungen, Gefolgschaft einzufordern sowie Abtrünnigkeit zu sanktionieren: „Ein Imperium kann sich gegenüber den Mächten, die zu seinem Einflussbereich gehören, nicht neutral verhalten, und dementsprechend hat es eine starke Neigung, ihnen diese Möglichkeit ebenfalls nicht zuzugestehen. [...] Ein Imperium [...], das bei Konflikten innerhalb seiner ‚Welt‘ oder an deren Peripherie fortgesetzt neutral bleibt, verliert zwangsweise seinen imperialen Status", schreibt Münkler (2005: 30). Damit findet sich auch bei ihm jene Logik, die Machtexpansion als vorderstes Ziel außenpolitischen Sicherheitshandelns betrachtet - legitimiert durch den imperialen Interventionszwang, eingefordert durch machtpolitische Polarisation: „Seid für oder seid gegen mich!" ruft das Imperium nachfolgenden Staaten zu, von Neutralität aber spricht es nicht. Diese imperiale Perspektive ist dem Bedürfnis der Mehrheit mittlerer und kleinerer Mächte nach militärischem Status quo sowie deren Wunsch nach Neutralität (d.h. dem Sich-nicht-verhalten-Müssen) entgegengesetzt; so auch den Meliern im Peloponnesischen Krieg.

Ebenso wie Münkler hob der neokonservative Politologe Irving Kristol schon 1990 den dem Imperium immanenten Interventionszwang hervor. Er verdeutlicht ihn an der Haltung des britischen Empires zum Sklavenhandel Mitte des 19. Jahrhunderts: „Eine Großmacht ist für das verantwortlich, was sie zu tun versäumt, obwohl sie es könnte, wie für das, was sie tut. Macht bringt Verantwortung mit sich. Britannien hatte aus sich heraus keinen Grund, seine Seemacht gegen den internationalen Sklavenhandel einzusetzen, in den es selbst schon mehrere Jahrzehnte nicht mehr involviert war. Nach damals geltendem Völkerrecht hatte es nicht einmal die Berechtigung dazu. Dennoch hat es seine Flotte für genau diesen Zweck genutzt - einzig aus dem Grund, mit solch einem Einsatz aufzuzeigen, was für eine Art von Großmacht es sein wollte." (Kristol 1990: 21)

Die Logik imperialer Weltherrschaft und der ihr innewohnende Interventions- und Polarisationszwang zur fortgesetzten Durchherrschung der außenpolitischen Welt werden bei Münkler - im Gegensatz zu den Neokonservativen - auf einer systemischen Ebene gedacht. Es ist ein imperialer Zwang, und nicht normative Attitüde zur Festigung amerikanischer Imperialhegemonie. Dennoch reden beide - die normativen Argumentationen der neokonservativen Autoren sowie der systemische Zwang in Münklers Imperientheorie - der Ausweglosigkeit imperialer Handlungslogik und somit der Ausweglosigkeit US-amerikanischer Hegemonie und imperialer Intervention das Wort. Beide Herangehensweisen zeigen den komplexitätsreduzierenden Charakter der imperialen Perspektive in der Außenpolitik. Sie blendet pluralistische außenpolitische Ansätze aus; sei es, weil ihr nicht-staatliche Akteure als nicht anschlussfähig oder aber als irrelevant erscheinen. Damit aber untermauern beide Herangehensweisen außenpolitisches Handeln, das sich in seinem Kern den vordemokratischen hobbesianischen Pessimismus vom „Menschen als des Menschen Wolf" auf der Ebene zwischenstaatlichen Handelns zur Vertragsgrundlage gemacht hat. Ist aber die politische Philosophie von Thomas Hobbes tatsächlich ohne das soziale Menschenbild des Aristoteles denkbar?

Wie so oft in den Debatten der Internationalen Beziehungen, steht hier ein scheinbar realistisches Weltbild einem idealistischen gegenüber, auch wenn diese Unterscheidung in diesem FAll keineswegs deckungsgleich mit den klassischen Schulen der internationalen Politik erfolgt. Lediglich durch den methodologisch-rhetorischen Coup der getarnten Spekulation bemächtigt sich die neokonservative Denkströmung in den Internationalen Beziehungen eines ausschließenden Deutungsanspruchs, der dazu auffordert, einen kompetitiven Militarismus als vorrangige Lösung zur Sicherung von Frieden zu sehen und andere Vorgehensweisen als unrealistisch abzutun. Multilaterale Institutionen wie die Vereinten Nationen, der internationale Strafgerichtshof und eine durch NGOs stärker werdende Weltöffentlichkeit finden in den neokonservativen Debatten keinen Raum.

Das von Neokonservativen oft infrage gestellte Argument verstärkter wirtschaftlicher Verflechtung als Friedensgarant allein wird die Spannungen zwischen den autokratischen Systemen und den offenen Gesellschaften in Ost und West kaum lösen. Dennoch: Wer heute in den Internationalen Beziehungen handelt oder forscht, der muss die Spannungen einer geschichtlichen Gleichzeitigkeit aushalten können. Er muss die autokratischen Bedürfnisse nachholender wirtschaftlicher Entwicklung wie im Falle Russlands akzeptieren können und gleichzeitig in seinen Bedrohungsanalysen sowie im diplomatischen Handeln russische Abhängigkeiten mit einkalkulieren. Er muss bereit sein, auch einen Schritt zurückzutreten und sich von polarisierendem Gedankengut und Handlungsstrategien zu lösen. Europa ist seit mehr als einem halben Jahrhundert geübt, trotz auseinanderstrebender Interessen gemeinsame transnationale Pakete zu schnüren. Langatmigkeit, Umwege und Kompromisse mussten dafür die meiste Zeit in Kauf genommen werden. Einen Verlust demokratischer Werte bedeutete dies allerdings nicht. Im Gegenteil: Dieser Prozess wurde begleitet von einem Mehrwert an Demokratie im zwischenstaatlichen Handeln der europäischen Akteure sowie von der Demokratisierung einzelner europäischer Staaten.

Auch Alexis die Tocqueville setzte in seiner Schrift „Über die Demokratie in Amerika" alles daran, die persönliche Freiheit der Aristokratie mit den neuen Mitteln der Demokratie zu retten. In seinen düstersten Passagen offenbaren sich die Ängste, die er dem neuen demokratischen Zeitalter entgegenbrachte.8 Aber er ertrug die Dialektik seiner Zeit und machte sich auf die Suche aller Gegenmittel, die einen demokratischen Despotismus abwenden können. Damit zeigte er uns die ganze Bandbreite der Instrumentarien auf, mit denen sich unsere demokratischen Gemeinwesen heute jederzeit neu justieren. Er ist immer noch ein guter Berater.

 

Anmerkungen

1 Zum Einfluss der Neokonservativen auf die Entscheidung zum Irakkrieg vgl. Roß 2005.

2 Zum Begriff des Sprachhandelns, der - auf der Basis diskursanalytischer Methodologie - auf die wechselseitige Abhängigkeit wissenschaftlicher Diskurse und gesellschaftlicher Praxis verweist, vgl. z.B. Skinner 1988.

3 Im Vorfeld seines neuen Buches „The Return of History and the End of Dreams" (dt. „Die Demokratie und ihre Feinde") erschienen ähnliche Forderungen Kagans z.B. in der Sunday Times vom 02.09.2007 („The world divides ... and democracy is at bay") und in Die Welt vom 10.12.2007 („Putins Russland ist dem 19. Jahrhundert verhaftet"). 

4 Zum Verlust der Aristokratie als intermediäre Gewalt schon weit im vorrevolutionären Frankreich vgl. auch Tocquevilles Spätwerk „Der alte Staat und die Revolution" (Tocqueville 2007).

5 Zum dialektisch-manichäistischen Geschichtsbild Tocquevilles vgl. auch White 1991: 299f.

6 Das Theorem von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis benutzen Horkheimer und Adorno in ihrer Kulturindustriethese zur Darstellung der wechselseitigen Abhängigkeit einer industriell präformierten Konsumentenkultur und der Kulturindustrie als eines in sich geschlossenen Kreislaufs (Horkheimer/Adorno 2003: 142). Auf abstrakterer Ebene lässt sich damit ein sich selbst verstärkender rekursiver Prozess beschreiben.

7 So in ihrem Artikel „Toward a Neo-Reaganite Foreign Policy" von 1996, in der sie als Beleg für amerikanischen Exzeptionalismus einfach den Zeitraum skizzieren, der der Veröffentlichung ihres Textes vorausging: „Sehen wir uns nur mal die letzten sechs Monate an - einen Zeitraum, den manche Beobachter für bemerkenswert halten angesichts des Dramas, das sich auf der Weltbühne abspielt: In Ostasien hat der Einsatzverband der Siebenten US-Flotte dazu beigetragen, einen chinesischen Überfall auf das demokratische Taiwan zu verhindern, und die 35.000 amerikanischen  Soldaten, die in Südkorea stationiert sind, halfen eine mögliche Invasion der Machthaber aus Pjöngjang zu verhindern. Die Vereinigten Staaten schickten 20.000 Mann an Bodentruppen nach Europa, um ein Friedensabkommen im ehemaligen Jugoslawien durchzusetzen. 100.000 Mann sind in Westeuropa als symbolische Unterstützung für die europäische Stabilität und Sicherheit stationiert. Die USA intervenierten dort auch diplomatisch, um eine Eskalation des Konflikts zwischen Griechenland und der Türkei zu verhindern. Im Mittleren Osten hielten die USA den Einsatz von Tausenden Soldaten und starken Flottenverbänden im Persischen Golf aufrecht, um Saddam Husseins Irak oder das islamisch-fundamentalistische Regime im Iran von möglichen Angriffen abzuhalten. Und sie vermittelten im Konflikt zwischen Israel und Syrien im Libanon. Auf der westlichen Halbkugel schlossen die USA den Rückzug von 15.000 Soldaten ab, nachdem diese eine dem Anschein nach demokratische Regierung in Haiti gestärkt, und, beinahe ohne jede öffentliche Aufmerksamkeit, einen militärischen Putsch in Paraguay verhindert hatten. In Afrika hat ein amerikanisches Expeditionskorps amerikanische und andere Staatbürger gerettet, die im Bürgerkrieg in Liberia gefangen gehalten wurden. Das waren nur die sichtbarsten Aktivitäten Amerikas in den letzten sechs Monaten, und erwähnt sind nur die militärischen und diplomatischen Maßnahmen." (Kagan/Kristol 1996: 20f.)

8 Vgl. dazu z.B. Tocquevilles düstere Vision eines demokratischen Verwaltungsdespotismus, in dem der einzelne Mensch individualisiert und selbstbezogen einer übermächtigen Zentralmacht gegenübersteht (Tocqueville 1987b: 463ff.).

 

Literatur

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (2003): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Kagan, Robert/Kristol, William (1996): Toward a Neo-Reaganite Foreign Policy. In: Foreign Affairs 75, 18-32.

Kagan, Robert/Kristol, William (2000): The Present Danger. In: The National Interest, No. 59, 57-69.

Kirkpatrick, Jeane (1990): A Normal Country in a Normal Time. In: The National Interest, Fall, 40-44.

Krauthammer, Charles (1991): The Unipolar Moment. In: Foreign Affairs 70, 23-33.

Kristol, Irving (1990): Defining Our National Interest. In: The National Interest, No. 21, 16-25.

Münkler, Herfried (2005): Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin: Rowohlt Berlin.

Roß, Ingrid (2005): Hijacking of the President? Der Einfluss der Neokonservativen auf die Entscheidung zum Irakkrieg 2003. John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien; www.jfki.fu-berlin.de/research/publications/workingpapers/workingpaper134.pdf (Stand: 24.02.2009)

Skinner, Quentin (1988): Quentin Skinner on Interpretation. In: Tully, James (Ed.): Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics. London, 29-133.

Tocqueville, Alexis de (1987a): Über die Demokratie in Amerika. Band I. Zürich: Manesse.

Tocqueville, Alexis de (1987b): Über die Demokratie in Amerika. Band II. Zürich: Manesse.

Tocqueville, Alexis de (2007): Der alte Staat und die Revolution. Münster: Hoof.

White, Hayden (1991): Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a.M.: Fischer.

 

Dominik Sommer, Dipl.-Sozialwissenschaftler, Berlin

 

aus: Berliner Debatte INITIAL 20 (2009) 1, S. 78-84