Strategisches Denken in Deutschland nach Afghanistan

Die Renaissance der Technokraten der Gewalt?1

„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner schaut hin“: So könnte eines Tages die Überschrift einer zeitgeschichtlichen Bewertung der 14-jährigen Mission der Bundeswehr in Afghanistan lauten. Ein differenzierter formulierender Beobachter könnte zu dem Schluss kommen, dass die öffentliche Debatte lange Zeit vor allem um die Frage kreiste, ob der ISAF-Einsatz überhaupt als Krieg zu bewerten sei – während Fragen nach der Methode der Kriegführung und ob diese dem politischen Ziel der Mission förderlich sei, meist ausgeblendet wurden. Die Abwesenheit solcher Debatten ist umso mehr signifikant, als sie sich nicht nur auf die Arena der öffentlichen Medien zu beschränken scheint: Die Zahl von Personen, die sich im akademischen Rahmen mit den strategischen Aspekten des ISAF-Einsatzes der Bundeswehr beschäftigen, ist so gering, dass sich bis heute kein Wettbewerb unterschiedlicher analytischer Bewertungen entwickelt hat. Selbst in den von der Bundeswehr finanzierten Publikationen sind nur wenige Beiträge zu finden, die sich eingehend mit der Operationsführung der Bundeswehr in Afghanistan beschäftigen; vorhandene Texte sind oftmals eher als Erfahrungsberichte zu charakterisieren denn als Beiträge zur kritischen Reflexion militärstrategischer Entscheidungsprozesse.

Dieser Beitrag soll nicht dazu dienen, den Mangel an genuin strategischer Debatte zum Thema Bundeswehr in Afghanistan auszugleichen. Vielmehr geht es darum, aufzuzeigen, inwiefern der Mangel an strategischer Debatte auch Folge einer Kontinuität im militärischen Denken deutscher Streitkräfte sein könnte, die trotz der Neugründung der Bundeswehr nach der „Stunde Null“ erhalten blieb. Das Kernargument des Beitrags lautet, dass der Einsatz in Afghanistan innerhalb der Bundeswehr zur Renaissance eines reduktionistischen strategischen Denkens geführt hat, welches große Herausforderungen für politisch-strategische Entscheidungsprozesse in zukünftigen militärischen Einsätzen nach sich ziehen könnte.

Die Argumentation verläuft in drei grundsätzlichen Schritten: Zunächst wird nach einer kurzen Skizzierung des zu Grunde liegenden analytischen Begriffs der „strategischen Denk­tradition“ ein kurzer Überblick über die Entwicklung dieser Tradition im deutschen Kontext seit dem 19. Jahrhundert gegeben. Danach wird anhand einer kurzen Analyse der militärischen Debatte innerhalb der Bundeswehr die wiedergekehrte Aktualität der reduktionistischen Denktradition der Kriegführung begründet. Schließlich werden die Implikationen dieser Renaissance diskutiert, einschließlich möglicher strategischer Defizite in künftigen Entscheidungsprozessen im Rahmen internationaler Interventionen.

Die strategische Denktradition deutscher Streitkräfte. Zum Konzept dieser Analyse

Eine strategische Denktradition kann für diesen Beitrag definiert werden als ein generationsübergreifender Bestand von Ideen und Überzeugungen zur angemessenen Anwendung militärischer Mittel zur Verfolgung eines bestimmten politischen Zwecks im Rahmen der Kriegführung. Diese Definition leitet sich aus insbesondere zwei Begriffen ab, nämlich dem der „Tradition“ sowie dem der „Strategie“.

Das Konzept der „Tradition“ wurde in den Sozialwissenschaften durch Edward Shils etabliert. Shils versteht Traditionen als jede Art von Überzeugung oder Handlungsweisen “transmitted or handed down from the past to the present” (Shils 1981: 12). Diese Transmission erstreckt sich dabei auf mindestens drei Generationen, auch wenn sich dabei Teilaspekte überlieferten Wissens oder seiner Interpretation verändern können. Eine Denktradition wäre demzufolge ein sich über mehrere Generation hinweg etabliertes Muster von Argumenten, deren Kerninhalte über wechselnde Kontexte hinweg sich im Wesentlichen nicht verändern.

Die Definition des zweiten Begriffs, nämlich dem der „Strategie“, ist Gegenstand einer weitläufigen Literatur. Insofern als Clausewitz von den meisten einschlägigen Autoren zumindest als zentraler Referenzpunkt für den Begriff der Strategie genannt wird, ist sein Verständnis für die Zwecke dieses Beitrags ausreichend. Zwar wird der Begriff der Strategie mittlerweile inflationär gebraucht, jedoch besitzt er für Clausewitz zwei wesentliche definitorische Eigenschaften. Zum einen ist Strategie immer mit der Vorbereitung oder Durchführung von Krieg verbunden, den er definiert als „Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“ (Clausewitz 2002: I 1 §2). Hier scheint bereits der instrumentelle Charakter des Kriegsbegriffs durch, denn dieser kann nicht Selbstzweck sein, sondern muss der Durchsetzung eines Willens, das heißt eines politischen Zweckes, dienen. Obwohl der Krieg auf Grund seiner inhärenten Unwägbarkeiten und Leidenschaften und natürlich der Absichten und Handlungen des Gegners nicht vollständig durch die Politik kontrolliert werden kann, „wird also der politische Zweck als das ursprüngliche Motiv des Krieges das Maß sein, sowohl für das Ziel, welches durch den kriegerischen Akt erreicht werden muß, als für die Anstrengungen, die erforderlich sind“ (Clausewitz 2002: I 1 §11). Damit ist auch bereits die zweite definitorische Besonderheit des Strategiebegriffs bei Clausewitz bestimmt: Strategie ist die zweckrationale Abwägung zwischen dem politischen Zweck, der Definition eines entsprechenden Ziels und der Bestimmung und Anwendung geeigneter militärischer Mittel (Clausewitz 2002: III 1). Würde sich die Verfolgung des politischen Zwecks ohne weiteres in die Aufbietung entsprechender militärischer Ressourcen und ihrer Anwendung in der Schlacht übersetzen lassen, wäre Strategie lediglich eine Form mathematisch-technokratischer Optimierung. Doch die besondere Herausforderung für strategisches Denken und Handeln ergibt sich daraus, dass „hier von wissenschaftlichen Formen und Aufgaben gar nicht die Rede [ist]; schwieriger ist das Auffassen der geistigen Kräfte, die im Spiel sind“ (Clausewitz 2002: III 1). Diese „geistigen Kräfte“ variieren je nach Größe und Wesen des politischen Zwecks; umso größer ist die Herausforderung, militärische Ziele und Mittel so zu bestimmen, dass diese einerseits den eigentlichen politischen Zweck nicht verfehlen, andererseits den Zweck des Gegners und dessen Ziele und Mittel berücksichtigen (Clausewitz 2002: VIII 3 B).

Wie wird also eine „angemessene“ Strategie entwickelt? Clausewitz gibt auch hier keine eindeutige Antwort, sondern verweist auf die konkreten Verhältnisse politischer Kollektive. Er argumentiert, dass „das Ziel, welches sich der Kriegsunternehmer setzt, die Mittel, welche er aufbietet, sich nach den ganz individuellen Zügen seiner Lage richten, daß sie aber eben den Charakter der Zeit und der allgemeinen Verhältnisse an sich tragen werden, endlich, daß sie den allgemeinen Folgerungen, welche aus der Natur des Krieges gezogen werden müssen, unterworfen bleiben“ (Clausewitz 2002: VIII 3 B). Der heutige Kontext stellt eine große Herausforderung für die Entwicklung von Strategien dar, weil nach dem Verschwinden klarer sicherheitspolitischer Prioritäten der politische Zweck von Interventionen häufig von der Politik nur schwammig definiert wird, gleichzeitig jedoch Streitkräfte in Konflikten „inmitten der Bevölkerung“ (Smith 2006) eingesetzt und dadurch fast zwangsläufig in lokale politische Dynamiken hineingezogen werden (Ruffa et al. 2013). Der britische Militärhistoriker Hew Strachan wies vor diesem Hintergrund in einem viel zitierten Beitrag auf die Notwendigkeit für westliche Streitkräfte hin, eine eigenständige Rolle in der Formulierung von Strategie auszuüben. Die Reduktion der Streitkräfte auf ein rein ausführendes Instrument, ohne sie in die vorbereitende Diskussion und Planung von Interventionen einzubeziehen, führte beispielsweise im Vorfeld der Afghanistan-Intervention dazu, die politischen Konsequenzen der Vertreibung der Taliban und die daraus resultierende Notwendigkeit des Aufbaus neuer politischer Strukturen zu konzeptualisieren: “professional service opinion, from the chairman of the [U.S.] Joint Chiefs of Staff downwards, has often seemed marginal at best and derided at worst. […] The military ‘had geared itself to attack fixed targets’, while the politicians were talking about doing a ‘guerrilla war’. The military recognized that the consequence of the latter would be regime change, but the president refused to accept the probable consequences of his own policy, saying ‘our military is meant to fight and win war’, and denying that US troops could be peacekeepers” (Strachan 2005: 51).2

Streitkräfte sind also – zumindest im heutigen Kontext – eine Institution, die zur Diskussion und Formulierung von Strategie entscheidend beitragen kann. Insofern erscheint es umso wichtiger, herauszufinden, wie Streitkräfte ein dem politischen Zweck angemessenes militärisches Handeln konzeptualisieren, und ob die entsprechenden Überlegungen und Diskussionen allein durch die Herausforderungen gegenwärtiger Missionen oder auch durch institutionelle Denktraditionen geprägt sind. Die Präsenz einer solchen Tradition und ihre möglichen Implikationen werde ich im Folgenden am Beispiel des ISAF-Einsatzes der Bundeswehr analysieren.3

Die Entwicklung der strategischen Denktradition deutscher Streitkräfte bis 1945

Seit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 war das Deutsche Heer mit einer ähnlichen strategischen Ausgangslage konfrontiert wie zuvor die preußische Armee. Auf Grund eines Mangels an historisch gewachsenen Bündnispartnern sowie „natürlicher“ geographischer Grenzen war die alles dominierende strategische Herausforderung, sich auf einen möglichen Mehrfrontenkrieg vorzubereiten.

Die Erfahrungen der preußischen Armee waren es dementsprechend auch, die das strategische Denken im deutschen Kaiserreich prägten. Besonders die Kriege Friedrichs des Großen wurden als nutzbringende Erfahrung für die strategische Planung künftiger Kriege gegen konkurrierende europäische Großmächte herangezogen; nicht nur Generalstabschef Moltke sah in den Erfahrungen der friderizianischen Kriege die Quelle aller nachfolgenden Erfolge des preußischen Militärs (Umbreit 1970: 163). Darüber hinaus spielten auch die Erfahrungen während der Napoleonischen Kriege eine wichtige Rolle für die militärstrategische Reflexion. Beide Perioden wurden als so relevant für die Kriegführung im späten 19. Jahrhundert angesehen, dass sogar Fragen der taktischen Truppenaufstellung häufig unter Rückgriff auf diese beiden Erfahrungskomplexe diskutiert wurden (Raschke 1993: 41).

Auf strategischer Ebene – das heißt auf der Ebene der Nutzung militärischer Gewalt zur Verfolgung eines politischen Zwecks – setzte sich spätestens unter dem Generalstabschef von Schlieffen eine übergreifende Lehre durch, die die umfassende Vernichtung der feindlichen Kräfte als oberste Maxime der Truppenführung ansah: Erst die erfolgreiche geführte Vernichtungsschlacht würde es ermöglichen, dem Gegner den eigenen (politischen) Willen aufzuzwingen (Kroener, 2000: 29). Mit dieser einseitigen Interpretation von Strategie als Kunst, den Gegner auf dem Schlachtfeld zu vernichten, ignorierte die deutsche Heeresführung gleich in zweifacher Hinsicht die grundlegenden Lehren Clausewitz‘. Während letzterer betonte, dass die Art der Kriegführung sowohl von der Größe des politischen Zwecks als auch von den gesellschaftlichen Verhältnissen der Kriegsparteien4 bestimmt sein sollte (Clausewitz 2002: VIII 3 B), verstand die Heeresführung die Herbeiführung der Vernichtungsschlacht als universell geltende strategische Prämisse. Und während Clausewitz Krieg als Fortsetzung des politischen (und damit diplomatischen) Verkehrs „unter Einmischung anderer Mittel“ (Clausewitz, 2002 : VIII 6 B) betrachtete, waren diplomatische Verhandlungen im Verlauf eines Krieges für die Heeresführung bestenfalls eine Notlösung im Falle unzureichender militärischer Kräfte, schlimmstenfalls eine gefährliche Verzögerung für das militärische Vorhaben, den Gegner schnell und entscheidend zu schlagen (Raschke 1993: 115-119).

Wie prägend sich dieses Leitmotiv auf die militärische Praxis deutscher Streitkräfte bis zum Ende des II. Weltkriegs auswirkte, wurde in zahlreichen Studien gezeigt. Bereits in den Kolonialkriegen in Deutsch-Südwestafrika versuchten die entsandten Heeresführer, Aufstände gegen die deutsche Herrschaft durch die Herbeiführung von Vernichtungsschlachten niederzuschlagen, und lehnten dabei jede Art von diplomatischen Verhandlungen ab. Verschmolz die aufständische Guerilla mit der lokalen Bevölkerung, so wurde die Bevölkerung selbst das Ziel der Vernichtung: Der Genozid an den Herero kann somit auch als Ergebnis der dominierenden Strategie der Vernichtungsschlacht gesehen werden (Hull 2005: 7ff.). Die Kolonialgebiete waren damit für das deutsche Heer ein Experimentierfeld mit der „opportunity to practice on Africans or Chinese what the military experts took to be the immutable precepts of warfare“ (Hull 2005: 3).

Doch erst die beiden Weltkriege demonstrierten, welch tödliche Konsequenzen eine strategische Denkkultur, die Kriegserfolg ausschließlich mit Erfolg auf dem Schlachtfeld gleichsetzt, auch für die deutsche Gesellschaft selbst haben konnte. Auf Grund dieser Konzeption setzte die Militärführung im I. Weltkrieg auf eine sequenzielle Erzielung von Offensivsiegen zunächst gegen Frankreich und dann gegen Russland, trotz der damit verbundenen operationellen Risiken und logistischen Unwägbarkeiten (Kroener 2000: 32). Die vor Kriegsausbruch durchaus vorhandenen Befürchtungen über die Konsequenzen der geplanten Verletzung der Neutralität Belgiens konnten nicht die Oberhand gewinnen über die wahrgenommene Notwendigkeit, die französische Armee in einer offensiv geführten Umfassungsschlacht zu vernichten. Dementsprechend sah die militärische Führung keinen Anlass, die Reichsregierung an der Aufmarschplanung substanziell zu beteiligen (Wallach 1970: 140ff.). Selbst nachdem sich der I. Weltkrieg nach dem Wettlauf zum Meer in einen Abnutzungskrieg und damit in ein Kräftemessen gesamtgesellschaftlicher Ressourcen verwandelt hatte, welches Deutschland nur begrenzte Zeit durchhalten konnte, setzte die Oberste Heeresleitung (OHL) weiter fast ausschließlich darauf, den Kriegserfolg durch Siege auf dem Schlachtfeld mithilfe von taktischen und waffentechnischen Innovationen zu sichern. Die Übernahme der Steuerung der industriellen Produktion durch die Militärführung und die Einführung der Sturmtruppen als neue taktische Formation seien hier nur als Stichworte genannt. In dem Maße, in dem die Erringung eines militärischen Sieges zunehmend schwierig erschien, monopolisierte die OHL dabei militärische und zivile Entscheidungskompetenzen – ein Vorgang, welcher in der Übernahme diktatorischer Vollmachten durch den OHL-Chef Ludendorff gipfelte (Wallach 1970: 293). Selbst im Herbst 1917 versuchte die Heeresleitung demgegenüber, Bemühungen um einen Verhandlungsfrieden durch die Knüpfung an unrealistische Bedingungen zu erschweren (Ritter 1968: 66-89). Im Ergebnis kann die deutsche Niederlage durchaus auch als Folge der Denkkultur der deutschen Militärführung gesehen werden, „because it had disregarded the most important lesson of history, the interrelationship of politics and war” (Craig 1973: 282).

Die erfolgreiche Konstruktion der Dolchstoßlegende durch die Heeresführer des I. Weltkrieges ermöglichte jedoch die fortdauernde Dominanz des apolitischen strategischen Denkens auch nach 1918. Die von der Reichswehr vorangetriebene Auswertung der Erfahrungen aus dem Weltkrieg propagierte eine Interpretation, wonach „als ein entscheidender Mangel nicht die technokratischen Ansätze [der militärischen Strategie], sondern die zu geringe Radikalität der Durchführung angesehen worden [sind]. Kurz gesagt, man ist der Meinung, die Rezepte waren richtig, nur die Anwendung war mangelhaft“ (Kutz 2006: 60). Diese Überzeugung wurde insbesondere vom Chef der Reichswehr von Seeckt geteilt, der folgerichtig Vorkriegsüberzeugungen vom Imperativ des offensiven Bewegungskrieges in die Doktrin der Reichswehr übernahm und die Integration rüstungstechnischer Fortschritte in dieses strategische Paradigma vorantrieb (Borgert 1979: 531), formuliert in der Doktrin des „Gefechts der verbundenen Waffen“. Konsequent ist dabei auch, dass die Reichswehrführung nur in der offensive Aufrüstung einen Garanten für ein politisches Wiedererstarken Deutschlands sah: “the German Army violently disagreed with civilian tactics for achieving the overthrow of the Versailles Treaty […] and ceaselessly schemed to evade the disarmament provisions of the treaty” (Posen 1984: 192).

Die Art und Weise der Führung des II. Weltkriegs durch die Wehrmacht ist vor diesem Hintergrund nicht ausschließlich auf die ideologische Verblendung der Generalität oder ihren bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem NS-Regime zurückzuführen. Vielmehr erwies sich eine strategische Denktradition, die Kriegserfolg vornehmlich als Folge der technokratischen Herbeiführung des Sieges auf dem Schlachtfeld definierte, als mehr als kompatibel mit einer politischen Ideologie, die die Politik selbst als einen Existenzkampf der Völker begriff. Eine solche Kompatibilität wurde auch anhand von Aussagen führender Reichswehr- und Wehrmachtsoffiziere belegt. Daher kann davon ausgegangen werden, dass „die Parallelität der politischen Interessen sowie die Ähnlichkeit der Anschauungen über den Krieg als Mittel der Politik – auch einer Aggressions-, Eroberung- und Vernichtungspolitik – […] früh einen Grundkonsens zwischen der Wehrmachtführung und Hitler geschaffen [hatte]“ (Wette 2002: 154). Unter diesen Voraussetzungen gründete sich die strategische Planung und Führung des Krieges – einschließlich der Präferenz für Konzeptionen des Bewegungskriegs5, aber auch der umfassenden kriegswirtschaftlichen Reorganisation und der systematischen Unterdrückung und Ausbeutung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten – noch mehr als im I. Weltkrieg auf die Erzielung eines schnellen und umfassenden militärischen Sieges, welcher die Durchsetzung einer geopolitischen Neuordnung im Sinne des nationalsozialistischen Programms ermöglichen sollte (Kutz 2006: 41ff.).

 

Die strategische Denktradition der Bundeswehr

Mit der Gründung der Bundeswehr verband die westdeutsche Regierung laut der geheimen „Himmelroder Denkschrift“ das Ziel, „ohne Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht etwas grundlegend Neues zu schaffen“ (zit. in: Bald 1999: 50). Angesichts einer mangelnden Alternative an „unbelasteten“ militärischen Führungskräften erwies sich dieser Anspruch bald als illusorisch. Alle bis zum Jahr 1957 ernannten Generale und Admirale besaßen diesen Rang bereits in der Wehrmacht; von 14.900 bis zum Jahr 1959 eingestellten Offizieren hatten 12.360 diesen Rang in der Wehrmacht erworben, weitere 300 sogar in der Waffen-SS (Bald 1999: 51).

Angesichts dieser personellen Kontinuität stellt sich die Frage nach den Auswirkungen der Kapitulation vom 8. Mai 1945 auf die strategische Denktradition deutscher Offiziere: Schließlich hatten die bis dahin vorherrschenden Auffassungen mit dazu beigetragen, dass die große Mehrheit der militärischen Eliten bis kurz vor dem Untergang des NS-Staates nicht die militärische Umsetzbarkeit von Hitlers Kriegsprogramm in Frage stellte, sondern nach immer neuen Wegen suchte, durch die Optimierung der Operationsführung und der Rüstungsanstrengungen die militärische Offensive wiederzugewinnen. Damit können die Dauer und die radikale Eskalation des II. Weltkriegs auch im Verantwortungsbereich der militärischen Eliten der Wehrmacht zu suchen sein, auf deren militärische Sachkenntnisse die politischen Eliten des NS-Regimes bis zuletzt angewiesen waren.

Trotzdem hatten – wie bereits nach der Niederlage von 1918 – auch nach 1945 führende Offiziere Erfolg mit dem Versuch, die Verantwortung für die militärische Katastrophe des II. Weltkriegs auf die Politik abzuwälzen. Als Schlüsselfigur in diesem Vorhaben erwies sich Generaloberst Halder, Chef des Generalstabes der Wehrmacht von 1938 bis 1942. Dieser erhielt in amerikanischer Kriegsgefangenschaft den Auftrag, für die „Historical Division“ der US Armee das Projekt einer Auswertung des II. Weltkriegs zu leiten (Hackl 1999). Dieser Auftrag ermöglichte es ihm, die militärische Bewertung des II. Weltkriegs so stark zu beeinflussen, dass „die (west-)deutsche Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg […] über wenigstens zwei Jahrzehnte hinweg […] in weit stärkerem Maße als uns gemeinhin bewußt sein dürfte, eine Geschichtsschreibung der Besiegten gewesen ist“ (Wegner 1995: 287).

In zwei Aspekten weist Halders Analyse Parallelen zu der von der Reichswehr betriebenen Auswertung des I. Weltkrieges auf: Einerseits konzentriert sich die Analyse auf eine Bewertung militärfachlicher Aspekte der Feldzugplanung und Operationsführung, welche „das vermeintlich überragende professionelle Können der militärischen Führungsschicht der Wehrmacht“ (Wette 2002: 226) hervorhebt. Andererseits wurde die Wehrmacht von jeglicher Mitverantwortung an politisch-strategischen Entscheidungen frei gesprochen und die Schuld an der Niederlage damit allein der politischen Führung unter Hitler zugewiesen: „Der Krieg wurde, soweit man ihn nicht einfach als Verhängnis oder gar als notwendigen Präventivschlag beschrieb, als das Werk einer dämonischen, im Grunde ahistorischen Ausnahmepersönlichkeit – eben als ‚Kriege Hitlers‘ – interpretiert […], indem die operativen und strategischen Fehlschläge nicht eigenen Planungs- und Führungsfehlern, sondern der Unbill von Klima und Geographie, vor allem aber dem Dilettantismus und der Unbelehrbarkeit Hitlers zugeschrieben wurden“ (Wegner 1995: 291f.).

Abermals diente die Betonung der militärfachlichen Qualität der Kriegführung deutscher Streitkräfte also dazu, die militärische Institution gegen externe Kritik zu immunisieren und die Verantwortung für strategische Fehler der politischen Führung zuzuschieben. Die durch Halders Projekt verbreitete Interpretation des II. Weltkriegs kann dabei als repräsentativ für die Meinung der Mehrheit ehemaliger Wehrmachtsoffiziere angesehen werden. Zahlreiche Memoiren früherer Wehrmachtsgenerale zeichneten ebenso ein Bild einer apolitischen – und dadurch moralisch frei zu sprechenden – Militärführung, die lediglich ihrer Pflicht zum Gehorsam nachkam (Hillmann 2006: 40f.). Der nach der Machtübernahme Hitlers emigrierte deutsche Soziologe Hans Speier kam daher Anfang der 1950er Jahre zu dem Schluss, “the sizable library of German military memoirs that have been published in recent years consists mainly of self-righteous books and pamphlets. In them, the German military tradition has been accepted as good and sound, and no need for reform is conceded” (Speier 1954: 155).

Vor diesem Hintergrund kann die fortwirkende Dominanz der Wehrmachtserfahrungen im militärstrategischen Denken der Bundeswehr nicht überraschen. Ausbildungsplaner der Bundeswehr sammelten bereits im Jahre 1952 Handbücher und Trainingsschriften aus Beständen der Wehrmacht aus Furcht, wertvolle taktische Kompetenzen aus den Feldzügen an der Ostfront könnten verloren gehen (Kutz 1982: 25). Dies blieb nicht ohne Folgen für die Ausbildungsinhalte der Teilstreitkräfte, insbesondere die des Heeres: „‚Wehrmacht‘ war ein Fetisch, sodass man im Militärgeschichtlichen Forschungsamt urteilte, in der Bundeswehr habe das Heer ein Ausbildungsmodell restituiert, ‚das sich nur unwesentlich von dem unterschied, das zu Beginn der Heeresvergrößerungen im Jahr 1933 entwickelt worden war‘“ (Bald 2005: 62).

Obwohl die Bundeswehr in den Jahrzehnten des Kalten Krieges auf Grund ihrer Integration in die Befehlsstrukturen der NATO nur bedingt eine eigenständige Rolle in der Strategieplanung übernehmen konnte, gibt es dennoch einige Belege für eine Kontinuität der apolitischen strategischen Denktradition, die durch das Festhalten an der Wehrmacht als Vorbildinstitution für militärfachliches Können legitimiert wurde. Früh zeigte sich, dass eine Denkkultur, die strategischen Erfolg mit Erfolg auf dem Schlachtfeld identifiziert, schwer mit den völlig veränderten politisch-strategischen Rahmenbedingungen vereinbar war, die sich durch die weltpolitische Blockbildung und die Einführung der Nuklearwaffen ergaben.

Schon bei der Planung des deutschen Verteidigungsbeitrages „mussten die Erfahrungen aus dem Ostfeldzug des Zweiten Weltkrieges gegen einen zahlenmäßig und teilweise auch technisch weit überlegenen Gegner herhalten, um jenseits aller Atomkriegsszenarien erfolgreiche Rezepte gegen den ‚Feind im Osten‘ präsentieren zu können“ (Hammerich: 2006: 98). General Heusinger, der erste Generalinspekteur der Bundeswehr, leistete hartnäckigen Widerstand gegen die Übernahme angelsächsischer Konzeptionen der nuklearen Abschreckung und versuchte stattdessen, im Bündnis für die Interpretation von Nuklearwaffen als Teil einer traditionellen Konzeption des offensiven Umfassungskrieges zu werben. Auf NATO-Ebene setzten sich Bundeswehr-Offiziere für eine auf hochmobilen Panzerbrigaden basierte Verteidigungsplanung ein – mit dem Argument, dass bereits die Wehrmacht mit ähnlichen Konzepten Erfolg gehabt habe (Rink 2011: 238f.). Widerspruch gegen die Überzeugung, einen Angriff des – an konventionellen Kräften weit überlegenen – Warschauer Pakts am besten durch die Optimierung bestehender operativer Fähigkeiten abwehren zu können, blieb gering; stattdessen herrschte in den 1950er Jahren die Überzeugung vor, wonach „the incalculable threat of a nuclear war could be met […] and victory on the battlefield secured thanks to superior leadership knowledge, operative skills, rapid attacks, and the capacity to persevere for a defined period of time“ (Naumann 2010b: 261).

Mit diesen Überlegungen riskierte die deutsche Militärführung jedoch auch, sich auf Grund wahrgenommener militärhandwerklicher Erfordernisse in Widerspruch zur übergeordneten politischen Zielsetzung zu setzen: Die Realisierbarkeit des von Heusinger innerhalb der NATO propagierten Konzepts der „Vorwärtsverteidigung“ implizierte offensive Vorstöße konventioneller NATO-Kräfte, die auch vor der deutsch-deutschen Grenze nicht haltmachen würden (Gablik 1996: 160). Eine solche Operationsführung wäre nicht mit dem Selbstverständnis der NATO als reinem Defensivbündnis vereinbar gewesen, wonach auf gegnerischem Territorium ausschließlich nukleare Waffen (zur Vergeltung eines Angriffs des Warschauer Pakts) eingesetzt würden. Dadurch zeigt „die Konzeption der Vorwärtsverteidigung […], wie schwierig es für deutsche Soldaten war, einen politischen Standpunkt mit einer als notwendig empfundenen militärischen Operation zu vereinbaren“ (Gablik 1996: 161).

Selbst als sich die Erkenntnis von den besonderen Erfordernissen nuklearer Strategie in der deutschen Heeresdoktrin durchzusetzen begann, blieb die Grundüberzeugung von der überzeitlichen Validität operativer Grundsätze des Offensivkrieges – und eine damit verbundene Ausblendung der Implikationen ihrer Anwendung im konkreten politischen und sozialen Kontext – intakt. Die Heeresdienstvorschrift 100/1 von 1962, in der die zentralen Leitlinien der Truppenführung des Heeres formuliert waren, charakterisierte die Besonderheit von Nuklearwaffen wie folgt: „Die weiträumig vernichtende Wirkung der Atomwaffe zerschlägt den Feind und kann dadurch dem Angreifer freie Bewegungsmöglichkeiten verschaffen“ (zit. in: Buchholz 1991: 283). In anderen Worten, die Atomwaffe setzte nach dieser Vorstellung die traditionelle offensive Kriegskonzeption nicht außer Kraft, sondern unterstütze vielmehr ihre Umsetzung im Angesicht eines konventionell überlegenen Gegners. Damit hielt die militärische Führung selbst im Zeitalter der mutually assured destruction fest an der „Steigerung der problematischen, aber durchaus als selbstverständlich begriffenen Grundprinzipien einer nur berufsmäßigen Kriegführung – selbst wenn diese Kriegführung längst nicht mehr abgeschottet von der Gesellschaft und bei begrenztem Schaden für diese stattfinden konnte, sondern mitten in ihr erfolgte“ (Geyer 1984: 188).

Der Bundeswehr blieb es in den folgenden Jahrzehnten verwehrt, ihre konzeptuellen Grundlagen für den Nuklearkrieg in der Realität zu testen, da die zu Grunde liegende operative Vorstellung des Bewegungskrieges von der weitgehend statischen Verteidigungskonzeption der NATO verdrängt wurde. Bis zum Ende des Kalten Krieges waren jedoch Anzeichen zu beobachten, die für eine kontinuierliche Akzeptanz „bewährter“ Kriegskonzeptionen aus den beiden Weltkriegen sprechen. In den 1980er Jahren, die mit einer verstärkten öffentlichen Hinterfragung der nuklearstrategischen Doktrin der NATO einhergingen, kann für die bundeswehrinterne Debatte von einer regelrechten Renaissance einer auf die erfolgreiche Führung von Schlachten verengten strategischen Denkkultur gesprochen werden. So wurde in der Führungsakademie ein Handbuch mit 33 kriegsgeschichtlichen Beispielen eingeführt, welches u.a. einen Kommandeur der Panzerschule der Wehrmacht aus dem Jahr 1944 zitiert: „Deine schweren Waffen sind Dein wirksamstes Mittel zum Bilden und Verlegen Deines Schwerpunktes. […] Schlage brutal zu! Mit einem Schmiedehammer! Poche nicht mit mehreren kleinen Hämmerchen an der feindlichen Front an. Du wirst die Leute nur verärgern, aber nirgends eingelassen werden! Man schlägt mit der Faust zu, aber nicht mit gespreizten Fingern (Guderian)!“ (Fachgruppe Führungslehre Heer 1985: 303).

Zur selben Zeit wurde durch das Militärgeschichtliche Forschungsamt eine Serie kriegsgeschichtlicher Studien veröffentlicht, die die überzeitliche Nützlichkeit operativer Führungskunst anhand von Schlachtanalysen aus dem I. und II. Weltkrieg betonten und daraus eine von Clausewitz über Schlieffen bis hin zu Manstein reichende „preußisch-deutsche Tradition im Führungsdenken“ konstruierten (Militärgeschichtliches Forschungsamt 1988). Offiziell legitimiert durch die Heeresführung anhand einer Reihe von ähnlich argumentierenden Doktrin-Papieren verfolgte diese Initiative offenbar einen doppelten Zweck: Einerseits konnte dadurch eine Positionierung des Militärs im offen zutage tretenden Zwist zwischen Politik und Gesellschaft über die nukleare Abschreckung vermieden werden, indem die militärfachlich „bewährten“ Aspekte strategischen Denkens in Deutschland betont wurden. Anderseits konnte die Bundeswehr unter dem Vorwand, dank konventioneller operativer Führungskunst politischen Entscheidungsspielraum im Falle eines Krieges zu verschaffen, auf die nationale Ebene beschränkte Kriegsplanungen entwickeln und sich damit zumindest ein wenig aus dem Korsett der NATO-Befehlshierarchie befreien (Kutz 1990: 50f.). Kurz gesagt, selbst im zu Ende gehenden Kalten Krieg wurde die – hier potenzielle – Fähigkeit zur erfolgreichen Schlachtführung als wesentliche Antwort auf strategische und politische Herausforderungen eines zukünftigen Krieges verstanden.

Die Bundeswehr in Afghanistan: Die Renaissance apolitischen strategischen Denkens

„Kunduz, das ist für uns der Ort, an dem die Bundeswehr zum ersten Mal gekämpft hat, lernen musste, zu kämpfen. Das war eine Zäsur – nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die deutsche Gesellschaft“ (de Maizère 2013). Mit diesen Worten übergab Verteidigungsminister de Maizière am 6. Oktober 2013 das bisherige Hauptfeldlager der Bundeswehr in Kunduz an die afghanischen Sicherheitskräfte. Mithilfe dieses Zitats möchte ich in zwei Schritten mein Argument strukturieren, wonach der Einsatz in Afghanistan für die Bundeswehr mit einer „Renaissance“ einer Tradition des apolitischen strategischen Denkens verbunden war, wie sie in den vorherigen Abschnitten für die Zeit des Kalten Krieges skizziert wurde. Dabei werde ich zunächst den qualitativen Unterschied erläutern, mit dem der Afghanistan-Einsatz im Vergleich zu früheren Auslandseinsätzen der Bundeswehr verbunden war. Danach werde ich spezifizieren, unter welchen Aspekten dieser Einsatz von der Bundeswehr tatsächlich als „Zäsur“ wahrgenommen wurde6 - und inwiefern die diskursive Reaktion auf diese Zäsur als Renaissance der apolitischen strategischen Denktradition charakterisiert werden kann.

 

„Kunduz, das ist für uns der Ort, an dem die Bundeswehr zum ersten Mal gekämpft hat, lernen musste, zu kämpfen.“

Dieser Satz mag außenstehende Beobachter zunächst erstaunen. Schließlich war die Vorbereitung einer massiven – wenn nötig, nuklear geführten – Abwehr einer sowjetischen Invasion die conditio sine qua non der Existenz der Bundeswehr bis zum Ende des Kalten Krieges. Wie ist vor diesem Hintergrund die Aussage zu verstehen, dass die Bundeswehr in Kunduz erst „lernen“ musste, zu kämpfen?

Erst nach 1990 übte die Bundeswehr, insbesondere das Heer, Führungsverantwortung in internationalen Stabilisierungsmissionen aus. Vor allem die langjährigen Einsätze in Bosnien und im Kosovo sind hier zu nennen: In diesen Operationen mussten Bundeswehroffiziere erstmals operative Entscheidungen außerhalb des Kontextes der Landesverteidigung treffen. Dabei mussten die vor Ort eingesetzten Offiziere Fähigkeiten entwickeln, die wenig mit den militärischen Kernkompetenzen des „klassischen“ Berufsbildes des Offiziers, insbesondere in den deutschen Streitkräften, zu tun hatten. Die Bundeswehr musste Schulen wiederaufbauen, Infrastruktur wiederherstellen, Gefängnisse betreiben, Wirtschaftsprojekte initiieren, Funktionen lokaler Strafjustiz übernehmen, sowie in Konflikten zwischen nach wie vor verfeindeten Bevölkerungsgruppen vermitteln (von Korff 2000: 180ff.). Der Diversität der einzelnen Aufgaben und Tätigkeitsbereiche zum Trotz hatten die Stabilisierungseinsätze zumindest für die Landstreitkräfte der Bundeswehr eine charakteristische Gemeinsamkeit, welche sich in der Kosovo-Mission am stärksten herausbildete: „In diesem Spannungsfeld [zwischen Serben und Kosovaren] standen unsere Soldaten genau zwischen den Fronten“ (von Korff 2000: 179; eigene Hervorhebung).

In anderen Worten, die Stabilisierungseinsätze der 1990er Jahre, aber auch die ersten Jahre des ISAF Einsatzes, zeichneten sich dadurch aus, dass die Bundeswehr ihren Auftrag vor allem als einen der Mediation wahrnahm. Obwohl das Risiko durchaus bestand, dass die Bundeswehr in lokale Konflikte verwickelt wurde, sollte sie primär die Absicherung und Verstetigung einer bereits erzielten politischen Verständigung absichern: „German forces were only deployed after international and domestic actors had started to address the underlying conflict politically. […] German forces were to act as ‘buffers’ between conflicting parties“ (Noetzel 2010: 487). Deutsche Befehlshaber waren daher weder einem übergeordneten Auftrag noch einer situativen Notwendigkeit unterworfen, durch Einsatz von Waffengewalt lokale politische Kräfteverhältnisse zu verändern und damit eine politische Entscheidung herbeizuführen. Vielmehr galt es, einen bereits bestehenden Prozess friedlicher Konfliktverarbeitung abzusichern und durch wirtschaftliche und politische Maßnahmen zu fördern. Dies führte dazu, dass Auslandseinsätze als Operationen sui generis wahrgenommen wurden, die selbst auf der Ebene der Einsatzdoktrin paradigmatisch von „klassischen“ militärischen Operationsarten unterschieden wurden, die nach wie vor ausschließlich mit den Erfordernissen der territorialen Landesverteidigung assoziiert wurden (Sangar 2013: 21ff.).

Diese mentale Assoziierung wirkte sich auch auf die Operationsführung der Bundeswehr in den Anfangsjahren der ISAF-Mission aus, nachdem die Bundeswehr im Jahre 2003 die Befehlsverantwortung im Regionalkommando Nord sowie den militärischen Beitrag für die  Provincial  Reconstruction Teams (PRT) in Feyzabad und Kunduz übernommen hatte. Die Bundeswehr setzte dabei auf leicht bewaffnete Patrouillen, die durch „Präsenz im Raum“ die Erstarkung der afghanischen Zentralregierung und die Identifizierung und Durchführung von Wiederaufbauprojekten begleiten und unterstützen sollten (Hett 2005: 15). Im Unterschied zu Operationsstrategien anderer NATO-Armeen in Afghanistan verfolgte die Bundeswehr nicht das Ziel, lokale Machthaber – auch solche, die die Durchsetzung der Autorität der afghanischen Zentralregierung aktiv bedrohten – mit Waffengewalt zu be­kämpfen, sondern versuchte stattdessen, diese in vertrauensbildende Dialogprozesse einzubinden (Münch 2013: 66ff.). Dieses Vorgehen trug zumindest in den Anfangsjahren insofern zu einer Stabilisierung bei, als die lokale Bevölkerung in den Bundeswehr-Patrouillen einen vermittelnden Ansprechpartner gefunden hatte, der mäßigend auf Übergriffe durch lokale Machthaber einwirken und bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen lokalen Milizen und Polizeikräften vermitteln konnte (Koehler 2008). An diesem Vorgehen hielt die Bundeswehr selbst im Jahre 2007 noch fest, als es bereits erste Anschläge auf Bundeswehrsoldaten gegeben hatte. Der damalige Kommandeur des PRT Feyzabad begründete dies folgendermaßen: „Und es ist ein Irrglaube, dass man die Situation unter Kontrolle hat, wenn man diesen ‚local power broker‘ mit Spezialkräften entsorgt. Eine fünf- bis zehnköpfige Hydra würde hervorsprießen, um das entstandene Machtvakuum schnell und für den eigenen Machtzuwachs zu füllen. Bandenkämpfe wäre[n] die Folge, und das PRT wäre irgendwie immer mittendrin“ (Schwitalla 2010: 162).

Vor diesem Hintergrund stellte die Entwicklung einer organisierten Aufstandsbewegung tatsächlich eine – im institutionellen Gedächtnis der Bundeswehr – noch nie dagewesene Situation dar. Spätestens seit dem Frühjahr 2008 formierten sich in der Provinz Kunduz bewaffnete Gruppen, die hunderte Aufständische umfassten; innerhalb eines Jahres konnten mithilfe dieser Gruppen die Taliban in fünf von sieben Distrikten der Provinz eine Schattenregierung etablieren, die eigenständige Steuer-, Polizei-, und Justizaufgaben übernahm (Broschk 2011: 524f.). Bald gingen aufständische Gruppen dazu über, die sichtbarsten Repräsentanten der afghanischen Zentralregierung aktiv zu bekämpfen, nämlich die afghanischen Sicherheitskräfte und das ISAF-Kontingent der Bundeswehr. Im Mai 2007 kamen durch einen Selbstmordanschlag in Kunduz Stadt drei Soldaten der Bundeswehr ums Leben. Ab September 2007 wurde das Feldlager Kunduz Ziel von Raketenangriffen. Spätestens ab Frühjahr 2008 wurden Bundeswehrpatrouillen regelmäßig Ziel von Anschlägen und Hinterhalten. Seit 2009 waren letztere zunehmend komplexer und effektiver organisiert (Wätzel/Krause 2010: 319ff.).

Damit war die Bundeswehr Anfang 2009 mit gleich zwei Herausforderungen konfrontiert: Zum einen musste die Armee erfahren, dass deutsche Truppen in Auslandseinsätzen tatsächlich in einen direkten Konflikt mit einem militärisch organisierten Gegner geraten konnten, auch wenn dies nicht einer auf Mediation basierenden Einsatzdoktrin entsprach; sie musste daher „lernen“, einen – im Clausewitzschen Sinne definierten – „Krieg“ außerhalb des eigenen Territoriums zu führen, nämlich eine Auseinandersetzung um ein politisches Ziel, welche auch mit militärischen Mitteln ausgetragen wurde. Zum anderen musste die Bundeswehr aber auch konkret mit dem drohenden Scheitern ihrer Bemühungen umgehen, den ISAF-Auftrag umzusetzen: Das Ziel, durch die Koordinierung von Wiederaufbauprojekten und die Kontaktaufnahme mit lokalen Machthabern die Autorität der Zentralregierung zu verstärken, schien weiter denn je in die Ferne gerückt, „weil es weder die ISAF-Truppen noch die afghanischen Streitkräfte schaffen, einmal [von den Aufständischen] befreites Territorium dauerhaft zu sichern“ (Wätzel/Krause 2010: 325). Auf Grund der wachsenden Unsicherheit stellten die Agenturen des Entwicklungsministeriums Mitte 2009 alle Aktivitäten außerhalb von Kunduz Stadt ein. Zum selben Zeitpunkt schien die Bundeswehr auch die Unterstützung der lokalen Bevölkerung zu verlieren. Dorfbewohner sahen deutsche Patrouillen vor allem als ein Ärgernis, deren kurzzeitiges Auftauchen das Alltagsleben durcheinander brachte: „Uns wäre es lieber, die fremden Soldaten würden nicht kommen […], sie sperren stundenlang alles ab und die Leute bekommen es mit der Angst zu tun“ (zit. in: Germund 2009). Zivilisten, die den Mut aufbrachten, in abgelegenen Ortschaften auftauchende Taliban-Kommandeure festzunehmen, konnte kein Schutz vor Racheaktionen gewährt werden. Für die Betroffenen stand fest: „Die deutschen Soldaten seien gute Menschen, das gewiss, aber sie könnten oder wollten jene nicht schützen, die sich gegen die Taliban gestellt hätten“ (Reuter 2009).

„Das war eine Zäsur – nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die deutsche Gesellschaft.“

Vor diesem Hintergrund scheint auch die Wahrnehmung einer „Zäsur“ nachvollziehbar zu sein. Fast 60 Jahre nach ihrer Gründung und 20 Jahre nach Ende des Ost-West-Konflikts standen bundesdeutsche Streitkräfte in einer Kriegssituation, auf deren geographische wie strategische Charakteristika sie nicht ausreichend vorbereitet waren.7 Die Frage ist nun, wie die Streitkräfte diese Erkenntnis wahrnahmen und welche strategischen Antworten sie darauf formulierten. Eine solche Analyse kann prinzipiell durch zwei Herangehensweisen realisiert werden.

Eine Möglichkeit wäre, Veränderungen im Befehlsverhalten von Bundeswehroffizieren auf der Ebene von operationellen Prioritäten und Entscheidungen zu untersuchen. Der Nachteil dieses Ansatzes wäre, dass er eine Entscheidungsautonomie voraussetzt, die in der Realität nur eingeschränkt vorhanden war: Die vom Parlament genehmigten Ressourcen, die nationalen und internationalen Einsatzregeln, und die Vorgaben durch das ISAF-Oberkommando sowie das Verteidigungsministerium stellten effektive Beschränkungen auf die Umsetzung dessen dar, was möglicherweise vor Ort als militärisch „notwendig“ erachtet wurde. Die zweite Möglichkeit ist die Untersuchung von militärischen Diskursen; diese hat den Vorteil, dass letztere nicht nur das repräsentieren, was von militärischen Akteuren als „realistisch-machbar“ angesehen wird, sondern auch das, was als „normativ-wünschenswert“ gilt. Der Nachteil dieses Ansatzes liegt insbesondere im militärischen Kontext in der schwer nachzuprüfenden Frage, inwieweit öffentlich zugängliche militärische Diskurse tatsächlich dem internen Diskussionsprozess entsprechen.

Aus diesen Gründen werde ich in meiner Analyse beide Ansätze kombinieren: Zunächst werde ich anhand einer qualitativen Diskursanalyse zeigen, wie Bundeswehrkommandeure die Konfrontation mit der Aufstandsbewegung interpretierten. Für die Analyse von Diskursen ist es wichtig, wiederkehrende Themen und Argumente zu identifizieren; von Bedeutung ist jedoch auch, zu erkennen, welche alternativ möglichen Themen nicht diskutiert oder problematisiert werden. Demzufolge werde ich zunächst einige wiederkehrende Argumentationslinien in militärischen Diskursen zum ISAF-Einsatz verdeutlichen, bevor ich einige Aspekte benenne, die in diesen Diskursen nicht zur Sprache kamen. In einem zweiten Schritt werde ich dann anhand einer Analyse der mittlerweile aus verschiedensten Perspektiven relativ gut dokumentierten Entscheidung über den Luftangriff von Kunduz im September 2009 die Auswirkungen dieser Interpretation auf die operationelle Entscheidungsebene illustrieren.

Führende Kommandeure der Bundeswehr äußerten bereits relativ früh die Überzeugung, dass der ISAF-Einsatz sich in einen „Kampfeinsatz“ transformiert habe. Der damalige Brigadegeneral Dieter Warnecke stellt nach seiner Rückkehr vom Posten des ISAF-Regionalkommandeurs Nord bereits im Jahre 2008 fest, dass die „ursprüngliche Vorstellung aus dem Jahr 2003, mit möglichst geringen militärischen Kräften Informationen zu sammeln, einen großen Raum zu überwachen und für den Wiederaufbau sicher zu machen, […] spätestens seit Ende 2006 nicht mehr haltbar“ (Warnecke 2008: 9) sei. Obwohl er grundsätzlich die Bedeutung kontinuierlich ziviler Wiederaufbaumaßnahmen unterstreicht, schlägt er folgende Anpassungen des militärischen Vorgehens vor: „Was wir aber als Erstes tun können und müssen, ist unsere eigenen militärischen Fähigkeiten und Wirkmittel an diese veränderte Bedrohung anzupassen. Zugegeben überspitzt ausgedrückt: Wir brauchen vielleicht weniger Taschenkarten8 und mehr Wirkmittel! […] Die Weiterentwicklung der militärischen Strukturen und Fähigkeiten ist aber nur ein erster Schritt. Was folgen muss, ist der zweite, ist eine Veränderung in der eigenen militärischen Operationsführung. Eine […] reaktive oder sogar passive Operationsführung kann mittelfristig zu einem kontinuierlich steigenden Risiko für unsere eingesetzten Soldaten führen“ (Warnecke, 2008: 9f.). 

Warnecke formuliert also als – für die Streitkräfte – angemessene Antwort auf die Aufstandsbewegung den Einsatz von schwereren Waffen sowie eine offensivere Operationsführung. Im Juni 2009 waren solche Anpassungen Realität: Patrouillen der Bundeswehr waren mit schwerer gepanzerten und bewaffneten Fahrzeugen unterwegs und zogen sich bei Beschuss nicht mehr zurück, sondern versuchten, den Kampf gegen die Aufständischen selbst aufzunehmen und zu gewinnen. Einen dieser Kämpfe beschrieb ein ranghoher Offizier als „klassisches Gefecht“, eine klare Referenz an die „klassischen“ Ausbildungsinhalte der Bundeswehr aus dem Kalten Krieg. Ein deutscher ISAF-Stabsoffizier unterstrich die positive Wirkung eines solchen Vorgehens mit dem Argument, es habe Ansehensgewinne bei den ISAF-Partnern gebracht, „denn die Bundeswehr habe gezeigt, dass sie sich einem Gegner stellen kann und sich nicht immer nur, wie häufig in der Vergangenheit geschehen, zurückzieht, wenn sie angegriffen wird“ (Seliger 2009).

Ein Erfahrungsbericht der Quick Reaction Force des Regionalkommandos Nord, welche im selben Zeitraum im Einsatz war, bestätigt die Wahrnehmung, dass die Priorität des militärischen Ansatzes nun in der Konzentration auf den Kampf liegen müsse. Die Autoren betonen: „Die Ausbildung für alle DEU [deutschen] Einsatzkontingente ISAF, unabhängig von der jeweiligen Truppengattung, muss sich am Gefecht gegen irreguläre Kräfte orientieren. […] Der Schwerpunkt der Ausbildung für den ISAF Einsatz nicht nur für die QRF [schnelle Eingreiftruppe] muss auf dem Gefechtsdienst, insbesondere Verhalten im und Abwehr von Hinterhalten, CIED [Minenentschärfung], Feuerkampf, sowie Angriff in und Durchsuchen von Ortschaften liegen“ (Grohmann et al. 2009: 15). Eine ähnliche Einschätzung vertritt der damalige Brigadegeneral Vollmer, der im Jahr 2009 den Befehl über das Regionalkommando Nord führte: „Kämpfen können – und wenn gefordert – wollen sind der Schlüssel zum Erfolg. Das Beherrschen der Kernfähigkeiten ist die entscheidende Grundlage für das Bestehen im Gefecht“ (Vollmer 2009: 15).

Eine in solchen Argumenten manchmal implizite, oft aber auch explizite Forderung ist diejenige nach einer „Rückkehr“ zu „klassischen“ Kompetenzen deutscher Streitkräfte. Der Militärhistoriker Bald kam durch eine Analyse aktueller Ausbildungsdokumente der Bundeswehr zu dem Schluss, dass das Kriegsbild des II. Weltkriegs nach wie vor prägend ist für die taktische Ausbildung, gerade in der Vorbereitung des ISAF-Einsatzes (Bald 2009). Eine solche Orientierung entsprach durchaus den Interpretationen der militärischen Führung, wonach die Fähigkeit zu mobilen Operationen auch und gerade in Afghanistan eine Schlüsselfähigkeit deutscher Streitkräfte sei. Der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Budde, forderte beispielsweise in einer Rede im November 2009: angesichts der Herausforderungen in Afghanistan „ist und bleibt für uns als Heeressoldaten die Befähigung zum Kampf unverzichtbar. […] Und wenn Sie auswerten, wie der Kompaniechef der QRF oder einer Schutzkompanie mit seinen Zügen […] operiert – wie er Feuer und Bewegung seiner Teileinheiten und Unterstützungskräfte koordiniert – dann ist dies genau dass, was gerade die Panzertruppen seit Jahrzehnten, früher unter dem Begriff ‚das Gefecht der verbundenen Waffen‘, nunmehr unter dem Begriff ‚Operation der verbundenen Kräfte‘ geübt haben und üben“ (Budde 2010: 6).

Seine Schlussfolgerung ist daher, dass die erfolgreiche Führung von Feuergefechten auch und gerade in Stabilisierungsoperationen die zentrale Kompetenz von Streitkräften sein und der Schwerpunkt in der Ausbildung dementsprechend ausgerichtet werden müsse. „Grundlage aller Einsätze – auch in einer Stabilisierungsoperation – ist die Befähigung, sich im beweglich geführten Gefecht durchzusetzen […] Vielleicht müssen wir die Ausbildung – gerade auch unserer Panzertruppen – mehr noch auf diesen allen Operationen gemeinsamen Kernbestand an Fähigkeiten und Fertigkeiten konzentrieren“ (Budde 2010: 8). Budde streicht in einem anderen Beitrag heraus, dass diese Fähigkeiten eng mit der Aufrechterhaltung „klassischer“ soldatischer Tugenden verbunden seien: „Erfahrungen in aktuellen Einsätzen unterstreichen die Aktualität klassischer Soldatentugenden als Grundlage soldatischer Haltung und Leistung. Der Einsatz verlangt Kühnheit und Willenskraft, Besonnenheit und Zähigkeit, auch in höchster Gefahr und bis zum Einsatz des Lebens. Zu den soldatischen Tugenden gehören Tapferkeit, Mut, Pflichtbewusstsein und ein fester Wille sich durchzusetzen“ (Budde 2008: 33).

Wie sehr solche Äußerungen als repräsentativ für eine institutionelle Rückbesinnung auf die so genannten „klassischen“ Tugenden deutscher Streitkräfte gelten können, zeigt die Ordenspolitik der Bundeswehr im Laufe des ISAF-Einsatzes.9 Bereits der für sein Festhalten an einem defensiven Ansatz oft gescholtene Verteidigungsminister Jung führte im Jahr 2008 das ausschließlich an Soldaten im Auslandseinsatz verliehene „Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit“ (Spiegel Online 2008) ein, welches laut Verleihungsbestimmungen „angstüberwindendes, mutiges Verhalten bei außergewöhnlicher Gefährdung von Leib und Leben“ auszeichnen sollte. Sein Nachfolger, Verteidigungsminister Guttenberg, ordnete im Jahre 2010 die Verleihung der „Gefechtsmedaille“ an, die für Soldaten reserviert war, die „mindestens einmal aktiv an Gefechtshandlungen teilgenommen oder unter hoher persönlicher Gefährdung terroristische oder militärische Gewalt erlitten“ (Schmale 2010) hatten. Informell galt damit, „Guttenberg habe einen ‚Kämpfer-Orden‘ gestiftet […]. Er selber betont, dass er damit ‚soldatische Tugenden im besten Sinne‘ auszeichne“ (Friederichs 2010).

Klaus Naumann beschreibt eine solche Renaissance „klassischer“ soldatischer Tugenden als ein „Symptom der Verunsicherung […]. Es ist der Griff nach den vermeintlich immer gültigen Wahrheiten des Militärhandwerks und spiegelt die Sehnsucht nach Vereinfachung und Eindeutigkeit“ (Naumann 2009: 77). Doch ist ein solches Urteil berechtigt? Schließlich würden selbst die schärfsten Militärkritiker nicht abstreiten, dass die Befähigung zur Anwendung von Gewalt eine wichtige Fähigkeit von Streitkräften ist, die diese von zivilen Organisationen unterscheidet. Um von einer Renaissance des apolitischen strategischen Denkens sprechen zu können, muss daher auch betrachtet werden, welche Aspekte in der Debatte um die Neuorientierung des militärischen Ansatzes in Afghanistan nicht angesprochen wurden.

Die in der militärischen Debatte vernachlässigten Elemente des ISAF-Einsatzes lassen den Schluss zu, dass es innerhalb der Bundeswehr tatsächlich zu einer Renaissance der Idee gekommen ist, wonach sich kriegerischer Erfolg primär durch die Bewährung in der Schlacht bzw. im Gefecht ermisst. Für diese These spricht zum einen die Abwesenheit von Reflexion über die mangelnde Integration ziviler und militärischer Maßnahmen im deutschen ISAF-Ansatz. Zwar betonten Kommandeure mantraartig die Bedeutung des „vernetzten Ansatzes“, durch den Bundeswehr, Auswärtiges Amt, Entwicklungshilfeministerium (BMZ) sowie Nichtregierungsorganisationen versuchten, ihre jeweiligen Aktivitäten zu koordinieren. Jedoch sind keine Versuche von Seiten der Streitkräfte bekannt, diese Aktivitäten in einer operationellen Strategie zu integrieren, die über die viermonatigen Kontingentwechsel hinweg mittelfristige Ziele und ihre Umsetzung durch zivile und militärische Mittel definiert hätte. Und obwohl Offiziere Kritik an der als mangelhaft wahrgenommen Effektivität der  Maßnahmen des BMZ (Szandar 2009) übten, wurden die – im Vergleich zu den Balkan-Einsätzen – drastisch reduzierten Ressourcen für militärisch geführte Wiederaufbauprojekte (Paul 2009: 34) kaum thematisiert, geschweige denn kritisiert.

Das zweite vernachlässigte Element in der deutschen Strategiedebatte um den ISAF-Einsatz betrifft die deutsche Rezeption der anglo-amerikanischen Debatte um das Konzept der counterinsurgency. Basierend auf abstrahierten Erfahrungen kolonialer Einsätze der französischen und britischen Streitkräfte beinhaltet das Konzept die Integration von Kampfoperationen sowie von politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen unter dem übergreifenden Ziel des Schutzes der lokalen Bevölkerung und ihrer damit verbundenen Trennung von der Aufstandsbewegung (Kilcullen 2005). Die operationelle Anwendung des Konzepts beinhaltet wesentliche Veränderungen im Vergleich zu „klassischen“, d.h. konventionell geführten zwischenstaatlichen militärischen Konflikten. Dies gilt insbesondere für die zentrale Bedeutung von Maßnahmen genuin diplomatischer und wirtschaftlicher Natur  in Territorien, in denen gleichzeitig Kampfoperationen stattfinden und die deshalb für zivile Akteure kaum zugänglich sind (Ruffa et al. 2013). Trotz der zentralen Bedeutung für die Neuorientierung des ISAF-Einsatzes nach der Kommandoübernahme des US-Generals McChrystal spielt das counterinsurgency Konzept in Diskussionsbeiträgen deutscher Offiziere jedoch fast keine Rolle (eine Ausnahme ist Larsen 2009). Auch auf der Ebene der Doktrinvorschriften wurde das Konzept erst im Juni 2010 in einem offiziellen Dokument behandelt, und das nur für die untere taktische Ebene. Dieses beinhaltet außer der Vorstellung der abstrakten Operationssequenzen, wie sie bereits in der gültigen NATO-Vorschrift enthalten waren, keine konkreteren Denkanstöße als die Anwendung der bereits erwähnten „klassischen“ taktischen Grundsätze des konventionell geführten Gefechts (Münch 2011: 26).

Der Luftangriff von Kunduz auf entführte Tanklaster im September 2009, befohlen durch den damaligen PRT-Kommandeur Oberst Georg Klein, könnte die Renaissance der apolitischen Auffassung militärischer Strategie am besten verdeutlichen.10 Die Entscheidung geschah in einem strategischen Kontext, in dem einerseits die Bedrohungslage durch die Aufstandsbewegung im Norden Afghanistans einen Höhepunkt erreicht hatte, andererseits die USA nachdrückliche Forderungen an die Bundesregierung stellten, die deutschen Stabilisierungsbemühungen angesichts der durch Präsident Obama angekündigten Surge in Afghanistan zu intensivieren (Szandar 2009). Die politische Führung gewährte vor diesem Hintergrund im Sommer 2009 den Einsatzoffizieren insofern größere taktische Entscheidungsautonomie, als die Einsatzregeln für die Anwendung von Waffengewalt gelockert wurden, was von den Kommandeuren vor Ort als politische Rückendeckung für ein offensiveres Vorgehen interpretiert wurde (Noetzel 2011: 405-406). So äußerste Oberst Klein bereits im Juli 2009 laut einem Bericht die Absicht: „Wir werden mit der Härte, die geboten ist, [gegen die Aufständischen] zurückschlagen“ (zit. in: Beste et al. 2009).

Ungeachtet der Tatsache, dass die genauen Abläufe, die zum Abwurf der Bomben in der Nacht des 4. September 2009 führten, genauso wie die Anzahl der dabei getöteten Zivilisten nach wie vor nicht vollständig aufgeklärt sind, gilt ein Detail als gesichert: Klein ordnete den Angriff nicht nur an, um die Verwendung der in einem Flussbett fest steckenden Tanklaster als rollende Bomben zu verhindern. Er sah die durch einen Informanten bestätigte Anwesenheit des hochrangigen Taliban-Kommandeurs Mullah Abdul Rahman als eine einmalige Gelegenheit, durch dessen Tötung die Aufstandsbewegung und damit die Gefahr für die Bundeswehr nachhaltig zu schwächen (Kornelius 2009). Angesichts einer solchen Überlegung erscheint es plausibel, warum der Kommandeur auf einen schnellen Abwurf drängte und einen vorherigen show of force Überflug konsequent ausschloss.

Kleins Entscheidung verletzte nicht nur die zu diesem Zeitpunkt geltenden taktischen Einsatzregeln der ISAF, wonach Luftunterstützung nur unmittelbar während einer laufenden Gefechtssituation zu autorisieren sei (Spiegel Online 2010). Er setzte sich auch in Widerspruch zu der von General McChrystal erst wenige Monate zuvor angeordneten Veränderung der operationellen Strategie, die unter dem Stichwort „courageous restraint“ dem effektiven Schutz der Zivilbevölkerung die Priorität gegenüber der militärischen Bekämpfung der Aufständischen einräumte. Auch wenn dieser Ansatz mit erhöhten Risiken für die ISAF-Truppen verbunden war, so spiegelte er die Einsicht wieder, durch taktische Zurückhaltung strategische Erfolge erzielen zu können. McChrystal formulierte daher einen neuen Imperativ für das operationelle Vorgehen der ISAF-Kräfte, welcher der Verringerung ziviler Opfer Priorität einräumte:  „If we can de-escalate a situation, and avoid civilian casualties, even if potentially justifiable under Rules of Engagement for Self-Defense, we stand a much better chance of succeeding in a Counterinsurgency (COIN) campaign” (ISAF 2010). McChrystal interpretierte Kleins Luftangriff daher nicht nur als eine taktische Regelverletzung, sondern als potenzielle Gefahr für den Erfolg des von ihm initiierten Strategiewechsels, wie er in seinen Memoiren bestätigt: „The air strike was a clear mistake, and a setback“ (McChrystal 2013: 342).

Der Soziologe Klaus Naumann sieht den Vorfall als Indikator für die mangelnde Abstimmung politischer und militärischer Maßnahmen im deutschen ISAF-Ansatz – in anderen Worten, als offenkundiges Versagen (bzw. Fehlen) strategischer Reflexion: “Die Einsatzkräfte waren gleichsam unfreiwillig in eine Überakzentuierung der kinetischen Dimension hineingedrängt worden, weil ein Umsteuern auf ein ausgewogenes Mischungs- und Ergänzungsverhältnis von kinetischen und nicht-kinetischen Mitteln unter Vorzeichen einer strategisch kalkulierten Aufstandsbekämpfung nicht zustande gekommen war“ (Naumann 2012: 56).11 Unter Bundeswehroffizieren schienen solche Aspekte jedoch nach dem Angriff kaum diskutiert worden zu sein. Kleins Nachfolger als Kommandeur des PRT Kunduz, Oberst Rohrschneider, betonte stattdessen in einem Interview: „Nach dem, was ich weiß, halte ich unverändert den damaligen Entschluß für zweckmäßig. Ob unmittelbar so gewollt oder nicht, hat der Luftangriff die zunehmend außer Kontrolle geratende Lage stabilisiert“ (Rohrschneider 2010: 31).

Dieser Bewertung fügt er eine indirekte Kritik an den intensiven Abstimmungsprozeduren zur Anforderung von Luftunterstützung hinzu, die er als hinderlich für den Gefechtserfolg der Soldaten erachtet: „Das war vielleicht im Sinne des COM ISAF [ISAF Kommandeurs McChrystal], aber sehr frustrierend für die Truppe im Kampf, die da auch richtigerweise siegen will“ (Rohrschneider 2010: 31; eigene Hervorhebung). In letzterem Zitat scheint die „Renaissance“ der apolitischen strategischen Denktradition vollzogen: Die Fähigkeit zum erfolgreichen Kampf wird mit dem Begriff des Sieges in einen direkten Zusammenhang gebracht. Ohne darüber zu spekulieren, inwiefern der ISAF-Einsatz überhaupt einer Beurteilung in den Kategorien „Sieg“ und „Niederlage“ zugänglich ist, bleibt zumindest festzuhalten, dass schon eine oberflächliche Analyse der Ergebnisse des amerikanischen und britischen Vorgehens in Afghanistan vor 2009 zum Schluss führen muss, dass die Überlegenheit im Kampf wenig bis gar nicht zu einer nachhaltigen Schwächung der Aufstandsbewegung geführt hatte.

Fazit: Mögliche Auswirkungen auf die Strategiefähigkeit der deutschen Politik

Die Analyse der Entwicklung der militärischen Debatte im Verlauf des ISAF-Einsatzes zeigt, dass sich die Wahrnehmung der Mission von einer vermittelnden Stabilisierungsoperation zu einer Kampfoperation wandelte. Als Konsequenz daraus identifizierten Offiziere den Schlüssel zum militärischen Erfolg primär mit Training und Anwendung der sogenannten klassischen Fähigkeiten des offensiv geführten Gefechts. Zwar setzten Einsatz-Offiziere der Bundeswehr keinesfalls die Vernichtung der Taliban mit dem politischen Erfolg der ISAF-Mission gleich, jedoch definierten sie die Effektivität des militärischen Beitrags vor allem durch die Fähigkeit zur erfolgreichen Führung von Kampfhandlungen. Überlegungen zur Frage, inwiefern das Militär, um einen nachhaltigen politischen Effekt zu erzielen, darüber hinaus auch nicht-gewaltsame Maßnahmen (wie die psychologische Beeinflussung der Bevölkerung oder die Bereitstellung materieller Anreize zur Kooperation mit der Zentralregierung) initiieren oder ggf. selbst übernehmen sollte, wurde vernachlässigt.

Insofern als das militärisch-strategische Denken sich damit vor allem auf die erfolgreiche Führung von Gefechten fokussierte, sind gewisse Parallelen zur Denktradition der Bundeswehr im Kalten Krieg und ihrer Vorgängerinstitutionen nicht von der Hand zu weisen. Dies als „Renaissance“ der apolitischen strategischen Denktradition zu bezeichnen, mag als Zustandsbeschreibung gewiss vereinfachend, als Zukunftsperspektive jedoch nicht auszuschließen sein. Wie der Fachjournalist Thomas Wiegold beobachtet, können die Ergebnisse von zehn Jahren Bundeswehrpräsenz in Kunduz sowie von zwölf Jahren in Afghanistan insgesamt durchaus als unbefriedigend angesehen werden: „Aus einem, wie man vielleicht nach zehn Jahren hoffen sollte, befriedeten Umfeld zog die Truppe nicht ab. Eher im Gegenteil: In den vergangenen Wochen häuften sich erneute Anschläge – gerade im Bezirk Char Darrah im Westen, den man doch als von Aufständischen frei gekämpft angesehen hatte“ (Wiegold 2013). Nach wie vor ist jedoch die Bundeswehr weit davon entfernt, eine militärstrategische Debatte über die Ergebnisse des Einsatzes zu führen, die über Forderungen nach organisatorischen und rüstungstechnischen Anpassungen hinausginge.

Die Renaissance eines apolitischen, kampfzentrierten Strategieverständnisses mag verständlich sein angesichts der inhärenten Komplexität der ISAF-Mission und der lange Zeit wenig konkreten politischen Richtungsvorgaben. Ungeachtet aller materiellen und rechtlichen Beschränkungen, die dem autonomen Handeln deutscher Streitkräfte in Auslandseinsätzen enge Grenzen auferlegen, ist die Quasi-Abwesenheit (selbst-)kritischer institutioneller Debatten jedoch besorgniserregend. Trotz der offenen Fragen nach der Effektivität von zehn Jahren Bundeswehrpräsenz in Kunduz scheinen Politik und Militär keinen Dialog darüber zu führen, welche Konsequenzen für zukünftige Einsätze zu ziehen sind. Angesichts der Tatsache, dass auf parlamentarischer Ebene ein solcher Dialog auf Grund der Dominanz der Tagespolitik und der nachvollziehbaren Neigung, Fehler jeweils dem politischen Gegner anzulasten, unwahrscheinlich bleibt, wäre zumindest der Versuch, mittel- und langfristige politisch-strategische Debatten zu initiieren, auch und gerade Aufgabe der Streitkräfte. Dieser Aufgabe steht die apolitische Tradition militärischen Denkens entgegen, denn „insofern die Militärelite auf dem traditionellen Fähigkeitsprofil verharrt, ist sie als mitredende und mitgestaltende Führungselite kaum zu erkennen und droht als Partner der Politik auszufallen“ (Naumann, 2010a: 84).

Hew Strachan hat in einer Analyse der amerikanischen Strategiefindungsprozesse für den ISAF-Einsatz gezeigt, dass die Fähigkeit zu politischem Denken und Handeln eine zentrale Voraussetzung für westliche Streitkräfte ist, um den Spagat zwischen oftmals vagen politischen Mandaten und dem komplexen, oft schwer zu verstehenden lokalen Einsatzkontext zu schaffen. Dies ist umso wichtiger, als zivile Akteure in Kontexten mit hohen Bedrohungen tendenziell nicht in der Lage sind und sein werden, langfristige Projekte eigenständig durchzuführen. Strachan stellt daher fest: „Political effects are therefore part of the immediate framework of military action in counter-insurgency warfare. […]  This leads to calls for whole-of-government approaches, in which the standard rule of thumb (at least in military manuals) is that political or non-military effects will outweigh military ones by 80% to 20%. In practice they don’t. The military has to make much more than 20% of the effort to achieve political effect, and much that it does will not be directly military” (Strachan 2010: 167).

In den deutschen Streitkräften ist zwölf Jahre nach Beginn des ISAF-Einsatzes eine mangelnde Bereitschaft festzustellen, die aus dieser Erkenntnis resultierenden Implikationen für militärisches Handeln zumindest zu diskutieren. Stattdessen war in den letzten Jahren des ISAF-Einsatzes eine gegensätzliche Tendenz im militärischen Denken der Bundeswehr wahrzunehmen: eine Renaissance der Betonung der „klassischen“ Fähigkeiten des Kampfes, während die Bedingungen, unter denen erfolgreiche Gefechtsführung dem politischen Ziel eines Einsatzes dienlich sein könnte, kaum problematisiert wurden. Insbesondere Fragen nach der Integration von kinetischen und nicht-kinetischen Maßnahmen wurden kaum gestellt, obwohl diese zum Kernbestand der anglo-amerikanischen Strategiedebatte gehörten.

Natürlich soll diese Argumentation nicht nahe legen, dass Streitkräfte künftig selbst die politische Kontrolle über Auslandsmissionen übernehmen sollten. Jedoch könnte die mangelnde Bereitschaft zur kritischen Diskussion politischer Aspekte militärischen Handelns im Kontext solcher Missionen dazu führen, dass auf Grund des Rückzugs auf die so genannten militärischen „Kernkompetenzen“ noch weniger über die Angemessenheit von politischen Zielen und militärischen Mitteln nachgedacht wird. Die Gewalteskalation nach der Invasion des Iraks im Jahre 2003 hat gezeigt, dass die lokale Bevölkerung zu den ersten Opfern mangelnder institutioneller Selbstkritik der Streitkräfte gehört. Ungeachtet der in Deutschland oft geführten Diskussion über die Legitimität solcher Interventionen ist es dabei wahrscheinlich, dass westliche Streitkräfte komplexe Stabilisierungsoperationen auch in Zukunft durchführen müssen. Davon ist auszugehen angesichts der Tatsache, dass sogar in Zeiten der Staatsschuldenkrise die westlichen Regierungen prinzipiell am Einsatz des militärischen Instruments zur Durchführung internationaler Interventionen festhalten. Eine größere Bereitschaft der Streitkräfte zu politischem Denken und Handeln könnte nicht nur dazu dienen, solche Einsätze „effektiver“ zu gestalten, sondern vielmehr auch dazu beitragen, der Politik vor einer Interventionsentscheidung die Voraussetzungen, Erfordernisse und Implikationen für militärische Einsätze zu verdeutlichen. Möglicherweise hätte dies sogar die Folge, dass die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Interventionen geringer ausfällt als in den vergangenen Jahren.

Anmerkungen

1   Dieser Artikel basiert teilweise auf Ergebnissen meines Promotionsprojekts „Using Historical Experience: The British Army and the German Bundeswehr in Afghanistan“, durchgeführt zwischen 2008 und 2012 am Europäischen Hochschulinstitut (Florenz). Die Erstellung des Textes wurde ermöglicht mit Mitteln des interdisziplinären Verbundprojekts „Multiple kollektive Identitäten in internationalen Debatten um Krieg und Frieden seit dem Ende des Kalten Krieges. Sprachtechnologische Werkzeuge und Methoden für die Analyse mehrsprachiger Textmengen in den Sozialwissenschaften (eIdentity)“, geleitet von Prof. Dr. Cathleen Kantner an der Universität Stuttgart und finanziert durch das e-humanities Forschungsprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (Förderkennzeichen: 01UG1234A).

2   „Der fachliche Ratschlag der Streitkräfte, vom Chef des Generalstabs abwärts, wurde bestenfalls marginalisiert, schlimmstenfalls ins Lächerliche gezogen. […] Das Militär ‚hatte sich darauf konzentriert, unbewegliche Ziele anzugreifen‘, während die Politiker davon sprachen, einen ‚Guerilla-Krieg‘ zu führen. Das Militär akzeptierte, dass die Konsequenz des letzteren Schrittes ein Regimewechsel wäre, der Präsident verweigerte sich jedoch den wahrscheinlichen Konsequenzen seiner eigenen Kriegspolitik, behauptete, ‚unser Militär soll Kriege führen und gewinnen‘ und leugnete dabei die Möglichkeit, dass die amerikanischen Einheiten auch als Friedenstruppen agieren könnten“.

3   Eine konzeptuell ähnliche Analyse verfolgt beispielsweise Kitchen (1979) für den Kontext der Bundeswehr im Kalten Krieg.

4   Siehe dazu auch den Beitrag von Pascal Vennesson in diesem Heft.

5   Mussten die Panzergeneräle noch während der Frankreich-Offensive ihren schnellen Vormarsch gegen den Widerstand ihrer Vorgesetzten durchsetzen, galt danach das Blitzkriegskonzept als universell anwendbares Operationskonzept, auch im Kampf gegen überlegene Gegner.

6   Für die Frage nach der „Zäsur“ für die deutsche Gesellschaft siehe den Beitrag von Michael Daxner in diesem Heft.

7   Zwar erhielten Soldaten und Offiziere bereits seit den 1990er Jahren spezielles Training für Stabilisierungsoperationen; dieses fokussierte sich jedoch auf besondere taktische Erfordernisse in internationalen Missionen (wie die Einhaltung von Einsatzregeln) und thematisierte kaum den jeweils spezifischen politischen Kontext der Missionen und die daraus resultierenden Folgerungen für die Umsetzung des militärischen Auftrags (Münch 2009).

8   Der Ausdruck „Taschenkarte“ bezieht sich auf die vom Verteidigungsministerium erlassenen Einsatzregeln, die insbesondere Bestimmungen enthielten, unter welchen Umständen der Einsatz von Gewalt legitim war. Diese Regeln wurden in einsatztauglichen „Taschenkarten“ zusammengefasst.

9   Orden sind nicht nur ein Ausdruck symbolischer Anerkennung für militärische Ausnahmeleistungen; sie sind auch Indikatoren institutionell gewünschter Verhaltensweisen und tragen in der Regel zu einem beschleunigten Karriereaufstieg ihrer Träger bei.

10  Eine umfangreiche Zusammenfassung und rechtliche Bewertung des Vorfalls bietet der Bericht des Kunduz-Untersuchungsausschusses (Deutscher Bundestag 2011).

11  „Kinetische Maßnahmen“ wird als militärischer Sammelbegriff für alle militärischen Handlungen verwendet, die auf dem Einsatz von Waffengewalt beruhen.

 

Literatur

Bald, D. (1999): Alte Kameraden - Offizierskader der Bundeswehr. In: U. Breymayer/B. Ulrich/K. Wieland (Hrsg.): Willensmenschen: Über deutsche Offiziere. Frankfurt (M.): Fischer Taschenbuch, 50-64.

Bald, D. (2005): Die Bundeswehr: eine kritische Geschichte, 1955-2005. München: Beck.

Bald, D. (2009): Bedingt einsatzbereit - „realistische Ausbildung“ oder mit der Wehrmacht in den Hindukusch. In: D. Bald/H.-G. Fröhling/J. Groß (Hrsg.): Bundeswehr im Krieg - Wie kann die Innere Führung überleben? Hamburg: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, 7-16.

Beste, R./Demmer, U./Gebauer, M./Koelbl, S./Kurbjuweit, D./Stark, H. et al. (2009): Zähne für die Schildkröte. Der Spiegel, 6. Juli.

Borgert, H.-L. (1979): Grundzüge der Landkriegführung von Schlieffen bis Guderian. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Militärgeschichte - Band 5 Abschnitt IX, Grundzüge der militärischen Kriegführung 1648-1939. München: Bernard & Graefe, 427-584.

Broschk, F. (2011): Strategische Leitlinien für den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 4 (4), 517-536.

Buchholz, F. (1991): Strategische und militärpolitische Diskussionen in der Gründungsphase der Bundeswehr 1949-1960. Frankfurt (M.): Peter Lang.

Budde, H.-O., Lt Gen. (2008): Das militärische Selbstverständnis des Deutschen Heeres: Ein wichtiger Faktor für den Erfolg im Einsatz. Gneisenau-Blätter 7 (2008), 29-34.

Budde, H.-O., Lt Gen. (2010): Die Herausforderungen des deutschen Heeres. Das schwarze Barett (42), 4-8.

Clausewitz, C. v. (2002 [1853]): Vom Kriege. München: Ullstein.

Craig, G. A. (1973 [1943]): Delbrück: The Military Historian. In: E. M. Earle (Hrsg.): Makers of Modern Strategy. Princeton: Princeton UP, 260-283.

de Maizère, T. (2013): Grußwort des Verteidigungsministers Thomas de Maizière anlässlich der Übergabe Kunduz. Kunduz: Bundesministerium der Verteidigung.

Deutscher Bundestag (2011): Bericht des 1. Untersuchungsausschusses der 17. Wahlperiode (Drucksache 17/7400).

Fachgruppe Führungslehre Heer (1985): Kriegsgeschichtliche Beispiele. Hamburg: Führungsakademie der Bundeswehr.

Friederichs, H. (2010): Tapferkeit im Gefecht wird zur soldatischen Tugend. Die Zeit, 30. November.

Gablik, A. F. (1996): Strategische Planungen in der Bundesrepublik Deutschland 1955 - 1967: politische Kontrolle oder militärische Notwendigkeit? Baden-Baden: Nomos.

Germund, W. (2009): Gescheiterte Strategie: Rund um die nordafghanische Stadt Kundus beherrschen die radikalislamischen Talibanmilizen die Distrikte. General-Anzeiger, 24. Juni.

Geyer, M. (1984): Deutsche Rüstungspolitik, 1860-1980. Frankfurt (M.): Suhrkamp.

Grohmann, H.-C., Lt Col/Kasper, T., Cp/Hecht, J., 1SG. (2009): Der Einsatz der QRF 3 in Afghanistan. Der Panzergrenadier (26), 21-27.

Hackl, O. (1999): Generalstab, Generalstabsdienst und Generalstabsausbildung in der Reichswehr und Wehrmacht 1919-1945: Studien deutscher Generale und Generalstabsoffiziere in der Historical Division der US Army in Europa 1946-1961. Osnabrück: Zeller.

Hammerich, H. R. (2006): Kommiss kommt von Kompromiss - Das Heer der Bundeswehr zwischen Wehrmacht und U.S. Army (1950 bis 1970). In: H. R. Hammerich/M. Poppe (Hrsg.): Das Heer 1950 bis 1970. Konzeption, Organisation, Aufstellung. München: Oldenbourg, 17-352.

Hett, J. (2005): Provincial Reconstruction Teams in Afghanistan. Berlin: Center for International Peace Operations.

Hillmann, J. (2006): Der Mythos vom unpolitischen Soldaten - Aspekte einer „Ansichtssache“ nicht nur in der Frühphase der Bundeswehr. In: M. Epkenhans (Hrsg.): Die Suche nach Orientierung in deutschen Streitkräften 1871 bis 1990. Potsdam: Militärgeschichtliches Forschungsamt, 39-49.

Hull, I. V. (2005): Absolute destruction: military culture and the practices of war in Imperial Germany. Ithaca (N.Y.)/London: Cornell UP.

ISAF (2010): Honoring Courageous Restraint. COIN Analysis/News. URL: http://www.isaf.nato.int/article/caat-anaysis-news/honoring-courageous-restraint.html. (Stand: 2. Mai 2014).

Kilcullen, D. J. (2005): Countering global insurgency. Journal of Strategic Studies 28 (4), 597-617.

Kitchen, M. (1979): The Traditions of German Strategic Thought. The International History Review 1 (2), 163-190.

Koehler, J. (2008): Auf der Suche nach Sicherheit. Die internationale Intervention in Nordost-Afghanistan. SFB-Governance Working Paper Series, Nr. 17. Berlin: DFG Sonderforschungsbereich 700.

Kornelius, S. (2009): „Er hat die Menschen als Ziel, nicht die Fahrzeuge“. Süddeutsche Zeitung, 2. Dezember.

Kroener, B. (2000) : Apprendre la guerre – Les guerres de Frédéric le Grand dans l’histoire-bataille de l’état-major allemand après 1870. In : Centre d’études d’histoire de la défense (Hrsg.): L’utilité de l’histoire militaire pour les militaires. Paris: Ministère de la Défense, 20-39.

Kutz, M. (1982): Reform und Restauration der Offizierausbildung der Bundeswehr: Strukturen und Konzeptionen der Offizierausbildung im Widerstreit militärischer und politischer Interessen. Baden-Baden: Nomos.

Kutz, M. (1990): Realitätsflucht und Aggression im deutschen Militär. Baden-Baden: Nomos.

Kutz, M. (2006): Deutsche Soldaten: eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Larsen, U., Lt Col. (2009): Einsatz in einem komplexen und dynamischen Umfeld - Counter Insurgency. Europäische Sicherheit (5), 36-39.

McChrystal, S. A. (2013): My share of the task: a memoir. New York: Portfolio/Penguin.

Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.) (1988): Operatives Denken und Handeln in deutschen Streitkräften im 19. und 20. Jahrhundert. Herford: Mittler.

Münch, P. (2009): Freund oder Feind? Zur Einschätzung von Sicherheitsbedrohungen am Beispiel der Bundeswehr in Afghanistan. Hamburg: Universität Hamburg - Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung.

Münch, P. (2011): Strategielos in Afghanistan - Die Operationsführung der Bundeswehr im Rahmen der ISAF. Berlin: SWP.

Münch, P. (2013): Local Afghan Power Structures and the International Military Intervention. Afghan Analysts Network.

Naumann, K. (2009): Die Bundeswehr im Leitbilddilemma. Jenseits der Alternative „Staatsbürger in Uniform“ oder „Kämpfer“. In: U. Hartmann/C. von Rosen/C. Walther (Hrsg.): Jahrbuch Innere Führung 2009 - Die Rückkehr des Soldatischen. Eschede: Miles-Verlag, 75-91.

Naumann, K. (2010a). Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Naumann, K. (2010b): The Great Tradition and the Fates of Annihilation: West German Military Culture in the Aftermath of the Second World War. In: F. Biess/R. G. Moeller (Hrsg.): Histories of the aftermath: the legacies of the Second World War in Europe. New York: Berghahn, 251-268.

Naumann, K. (2012): A Troubled Partnership - Zum Verhältnis von Politik und Militär im ISAF-Einsatz. In: A. Seiffert/P. C. Langer/C. Pietsch (Hrsg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan: sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven. Wiesbaden: VS, 49-78.

Noetzel, T. (2010): Germany’s Small War in Afghanistan: Military Learning amid Politico-strategic Inertia. Contemporary Security Policy 31 (3), 486-508.

Noetzel, T. (2011): The German politics of war: Kunduz and the war in Afghanistan. International Affairs 87 (2), 397-417.

Paul, M. (2009): Zivil-militärische Interaktion im Auslandseinsatz. Aus Politik und Zeitgeschichte (48), 29-35.

Posen, B. R. (1984): The sources of military doctrine: France, Britain, and Germany between the world wars. Ithaca: Cornell UP.

Raschke, M. (1993): Der politisierende Generalstab: Die friderizianischen Kriege in der amtlichen deutschen Militärgeschichtsschreibung 1890-1914. Freiburg: Rombach.

Reuter, C. (2009): Die traurigen Helden von Malagi. URL: http://www.stern.de/politik/ausland/afghanistan-die-traurigen-helden-von-malagi-1501696.html (Stand: 2. Mai 2014).

Rink, M. (2011): The Service Staff’s Struggle Over Structure - The Bundeswehr’s Internal Debates on Adopting NATO Doctrine 1950-1963. In: J. S. Corum (Hrsg.): Rearming Germany. Leiden/Boston: Brill, 221-251.

Ritter, G. (1968): Staatskunst und Kriegshandwerk: Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland. Bd. 4: Die Herrschaft des deutschen Militarismus und die Katastrophe von 1918. München: Oldenbourg.

Rohrschneider, K., Col. (2010): Einsatz als PRT-Kommandeur in Kunduz. Das schwarze Barett (43), 29-31.

Ruffa, C./Dandeker, C./Vennesson, P. (2013): Soldiers drawn into politics? The influence of tactics in civil–military relations. Small Wars & Insurgencies 24 (2), 322-334.

Sangar, E. (2013): The Weight of the Past(s): The Impact of the Bundeswehr’s Use of Historical Experience on Strategy-Making in Afghanistan. Journal of Strategic Studies, 1-34 (online publication).

Schmale, H. (2010): Tapfer, tapfer. Frankfurter Rundschau, 14. November.

Schwitalla, A. (2010): Afghanistan, jetzt weiß ich erst... Berlin: Miles.

Seliger, M. (2009): Zielstrebig ins Gefecht. FAZ, 11. Juni.

Shils, E. (1981): Tradition. Chicago: University of Chicago Press.

Smith, R. (2006): The Utility of Force. London: Penguin.

Speier, H. (1954): German Rearmament and the Old Military Elite. World Politics 6 (2), 147-168.

Spiegel Online (2008): Tapferkeitsmedaille: Deutsche Soldaten bekommen künftig Ehrenkreuz. URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/tapferkeitsmedaille-deutsche-soldaten-bekommen-kuenftig-ehrenkreuz-a-583399.html (Stand: 2. Mai 2014).

Spiegel Online (2010): Nato-Bericht prangert Fehler von Oberst Klein an. URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/kunduz-affaere-nato-bericht-prangert-fehler-von-oberst-klein-an-a-675058.html (Stand: 2. Mai 2014).

Strachan, H. (2005: The lost meaning of strategy. Survival 47 (3), 33-54.

Strachan, H. (2010): Strategy or Alibi? Obama, McChrystal and the Operational Level of War. Survival: Global Politics and Strategy 52 (5), 157-182.

Szandar, A. (2009): „Falsche Sicherheit“. Der Spiegel, 31. August.

Umbreit, H. (1970): The Development of Official Military Historiography in the German Army from the Crimean War to 1945. In R. Higham (Hrsg.): Official Histories. Manhattan (Kansas): Kansas State University Library, 160-168.

Vollmer, J., Brig. (2009): Einsatzerfahrung als Kommandeur des Regionalkommando NORD vom 10. Januar bis 03. Oktober 2009. Der Panzergrenadier (26), 11-15.

von Korff, F. (2000): Das deutsche Kontingent in einer Führungsrolle. In P. Goebel (Hrsg.): Von Kambodscha bis Kosovo: Auslandseinsätze der Bundeswehr seit Ende des Kalten Krieges. Frankfurt (M.): Report, 174-182.

Wallach, J. L. (1970 [1967]): Das Dogma der Vernichtungsschlacht. München: dtv.

Warnecke, D., Brig. (2008): Kommandeur in Afghanistan. if - Zeitschrift für Innere Führung 52 (1), 5-13.

Wätzel, F./Krause, J. (2010): Das deutsche Engagement in Nordafghanistan. In: Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (Hrsg.): Jahrbuch Terrorismus 2009. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich, 311-339.

Wegner, B. (1995): Erschriebene Siege: Franz Halder, die ‚Historical Division‘ und die Rekonstruktion des Zweiten Weltkrieges im Geiste des deutschen Generalstabes. In: E. W. Hansen/K.-J. Müller (Hrsg.): Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit: Beiträge zur neueren Geschichte Deutschlands und Frankreichs. München: Oldenbourg, 287-302.

Wette, W. (2002): Die Wehrmacht: Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden. Frankfurt (M.): Fischer.

Wiegold, T. (2013): Es begann als ‘Insel der Stabilität’: Zehn Jahre Bundeswehr in Kunduz. Augen geradeaus, 6. Oktober 2013. URL: http://augengeradeaus.net/2013/10/kundus-zehn-jahre-bundeswehr/ (Stand: 2. Mai 2014).

 

Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL 25 (2014) 2, S. 71-89