Geht es um die Annexion der Krim und Russlands Agieren in Sachen Ostukraine, erheben westliche Politiker, Sicherheitsexperten und Medien gebetsmühlenartig sowie im Duktus unbezweifelbarer Feststellungen Anklagen: Russland habe „die Friedensordnung in Europa in Frage gestellt“ (Angela Merkel) oder „große Streitpunkte mit Russland“ gebe es, „weil die russische Außenpolitik die europäische Sicherheitsordnung beschädigt“ (Wolfgang Ischinger).
Manche scheinen zumindest dunkel zu ahnen, dass zur Vorgeschichte der heutigen Verwerfungen im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland doch das eine oder andere Kapitel mehr gehört. Sie formulieren etwas zurückhaltender: „Das Ziel muss sein, wieder zu einer verlässlichen europäischen Sicherheitsarchitektur zurückzukommen, die spätestens (Hervorhebung – W.S.) seit dem Einmarsch Russlands auf der Krim und dem Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine nicht mehr existiert.“ (Siegmar Gabriel)
Tatsächlich hatte die Charta von Paris für ein neues Europa vom 21. November 1990 das Tor zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung aufgestoßen. Darin war kodifiziert worden: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“
Aber die Umsetzung der Charta in eine vertraglich kodifizierte, das heißt verbindliche europäische Sicherheitsarchitektur unter gleichberechtigtem Einschluss Russlands wurde nie ernsthaft in Angriff genommen. Angesichts des Zerfalls der UdSSR und eines ins Chaos abgleitenden Russlands setzten die Führungsmächte des Westens stattdessen auf EU- und NATO-Erweiterungen bis an russische Grenzen, also statt auf Einbindung Russlands auf dessen Ausgrenzung durch Ausweitung der westlichen Integrations- und Bündnisstruktur.
Mit den Worten des Schriftstellers und Publizisten Friedrich Dieckmann: „Nun, nach dem Ende der sowjetischen Hegemonie über die westlichen Randstaaten des Imperiums, ging der Westen daran, ein Russland, dem die USA keine gleichberechtigte Stimme in einem europäischen Sicherheitssystem zuerkannten, mit einem Ring von Nato-Staaten zu umgeben.“
Vor allem aber die völkerrechtswidrige Bombardierung Serbiens durch die NATO 1999 und die Separation Kosovos durch den Westen machten dieses Manko sichtbar. Im Fall des Falles regierte in sehr „traditioneller“ Weise weiterhin das Recht des Stärkeren, nicht die Stärke des Rechts.
Speziell die Herbeiführung der „Unabhängigkeit“ Kosovos war überdies der Sündenfall einer völkerrechtwidrigen Grenzverschiebung in Europa nach 1990.
Russland war seinerzeit zu mehr als wirkungslosem Protest nicht in der Lage. Bereits Mitte der 90er Jahre hatte Präsident Boris Jelzin seinem Washingtoner Kollegen Bill Clinton zu verstehen gegeben, dass eine Osterweiterung der NATO eine „Erniedrigung Russlands“ sei, mit der er sich nur „erzwungenerweise“ abfinde. Und wegen der NATO-Bombardierung Belgrads cancelte der seinerzeitige russische Premierminister Jewgeni Primakow im März 1999 während einer Zwischenlandung in Irland seine vorgesehene Visite in Washington. Russische Einwände gegen die Abtrennung Kosovos von Serbien, so Osteuropa-Experte Reinhard Lauterbach, „wurden vom Westen systematisch missachtet; die Moskauer Warnung, dass dieser Präzedenzfall einer Grenzveränderung ohne völkerrechtliche Grundlage noch schlimme Folgen haben werde, wurde in den Wind geschlagen.“
Das ficht Akteure wie Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, allerdings nicht an: „Die Annexion der Krim im März 2014 war ein Wendepunkt. An diesem Tag wandte sich Russland ganz von den Grundsätzen ab, die in der Schlussakte von Helsinki 1975 verankert und später in der Pariser Charta von 1990 bekräftigt wurden.“ Kann man durchaus so sehen. Doch statt zu konstatieren, dass Russland damit leider fortsetzte, was der Westen 1999 in Gang gesetzt hatte, folgte wieder bloß Russland-Bashing: „Damit (Hervorhebung – W.S.) ist die europäische Nachkriegsordnung – und die längste Friedensperiode des Kontinents – zu Ende gegangen.“ So koloriert man das Feindbild und erhöht die Mauer gegen Lösungen, die nur gemeinsame und einvernehmliche sein können.
Dagegen hatte die Bundeskanzlerin den Punkt getroffen, als sie bereits 2017 feststellte: „Wir können eine europäische Friedensordnung nur mit (Hervorhebung – W.S.) Russland gestalten.“
Ein Neuanfang in dieser Richtung wird jedoch schwerlich zustande zu bringen sein, wenn erwartet wird, dass allein Russland seine Verstöße gegen die Charta von Paris zuvor korrigiert, jene des Westens aber als vollendete Tatsachen keine Rolle mehr spielen sollen.
Wie man aus dieser Ecke herauskommt? Die Geschichte liefert Belege dafür, dass der Diplomatie, sofern sie von der Politik dazu angehalten wird, Mittel und Wege zur Verfügung stehen, misshelligen Sachverhalten die völkerrechtliche Anerkennung zu versagen und dennoch Verhandlungserfolge in elementaren sicherheitspolitischen und anderen Fragen durch Respektierung einer entstandenen Realität zu ermöglichen. Der Brief zur deutschen Einheit im Zusammenhang mit dem Moskauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion (1970) war ein Beispiel. Auch der Umgang beider deutscher Staaten miteinander liefert eines: Auf der Basis des Grundlagenvertrags von 1972 wurden diplomatische Missionen ausgetauscht, die zwar alle Aufgaben normaler Botschaften erfüllten, aber als Ständige Vertretungen firmierten.
Nach Vorschlägen, womit man ganz praktisch beginnen könnte, muss man nicht lange suchen. Andreas Zumach, Schweiz- und UNO-Korrespondent der taz, stellte diesen übersichtlichen Katalog zusammen: „Geeignete westliche Schritte, um die Eskalationsdynamik im Verhältnis zu Russland endlich umzukehren, wären eine Korrektur des NATO-Gipfelbeschlusses von 2008 (die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen – W.S.). Ebenso wichtig wären Vorschläge, um die grenznahen Militärmanöver beider Seiten einzustellen und Truppenstationierungen dort rückgängig zu machen. Russland müsste garantiert werden, dass es den Marinestützpunkt Sewastopol weiter nutzen kann. Ebenso wichtig wäre ein Vorschlag für eine erneute Abstimmung auf der Krim; vorbereitet, durchgeführt, überwacht und ausgezählt durch die UNO und mit der Wahloption auf den Verbleib der Krim in der Ukraine mit einem weitestgehenden Status sprachlicher, kultureller, finanzieller und administrativer Autonomie.“
Zumach fügte an: „Würde Berlin eine Initiative für solche Deeskalationsschritte ergreifen, wäre dies eine konkrete und wichtige Wahrnehmung der […] so gerne beschworenen ‚gewachsenen internationalen Verantwortung‘ Deutschlands.“
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Die Sicht der ukrainischen Regierung ist naturgemäß eine andere. Außenminister Pawlo Klimkin breitete sie in einem Gastbeitrag in der FAZ vom 18. Februar aus. Im Hinblick auf Russland und Europa werde „immer wieder über die Notwendigkeit einer neuen Ostpolitik gesprochen – im Sinne der neuen Annäherung zwischen dem Westen und Russland. Das hört sich wie eine gute Idee an – ist es aber nicht. Nicht jetzt.“ Denn: „Seit der Krim-Annexion befindet sich Russland in einem gefährlichen Blutrausch, handelt in dem Gefühl: ‚Unsere Zeit ist gekommen, wir holen uns das, was uns zusteht.‘“ Und zwar „angefangen mit der Ukraine“. „Gerade deshalb ist es ein falscher Zeitpunkt für eine Annäherung.“ Der werde erst kommen, „wenn Russland zum Völkerrecht zurückkehrt“. Heute biete Moskau Europa „eine Form von Sklaverei an – eine sanfte und im Alltag kaum spürbare. Sie heißt Nord Stream 2“. Nicht minder bestimmt weiß der Minister noch dieses: „Alle historischen Parallelen zwischen der politischen Situation heute und der Zeit von Willy Brandt und Egon Bahr sind verfehlt.“
Abgesehen von der vordergründigen Blutrausch- und Sklaverei-Rhetorik, auf dass dem Publikum gehörig der Schrecken in die Glieder fahre, rechnet Klimkin offenbar mit historischer Unkenntnis. Bahr hielt seine historische Tutzinger Rede 1963 gerade aus der Einsicht heraus, dass anderthalb Jahrzehnte Kalter Krieg, geprägt durch Konfrontation, die Bundesrepublik und den Westen der Lösung der Probleme mit Russland nicht einen Schritt näher gebracht hatten, dass vielmehr die „Politik des Drucks und Gegendrucks nur zur Erstarrung des Status quo geführt hat“.
1961 war die Mauer gebaut worden, 1962 war die Welt in der Kuba-Krise nur knapp an einem Atomkrieg vorbeigeschrammt. Daher Bahrs „Zweifel, ob wir mit der Fortsetzung unserer bisherigen Haltung das absolut negative Ergebnis“ der bisherigen Politik „ändern können“, und seine strikte Ablehnung, „durch eine Verschärfung der Situation, die man bewusst fördert“, noch eins draufzusetzen.
Stattdessen die klaren Aussagen, „dass die Politik des Alles oder Nichts ausscheidet“ und dass man „auch die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen“ müsse. Daher: „Wandel durch Annäherung“.
Es dürfte für Bahr wie auch für Brandt durchaus ein arger Erkenntnisweg bis zu diesen Einsichten gewesen sein, denn beide gehörten im Westberlin der 50er Jahre zu den alertesten Kalten Kriegern. Als Bahr, wie er erst sehr viel später erzählte, am 17. Juni 1953 als RIAS-Chefredakteur die Unruhen in der DDR mit den Mitteln des Radios anheizte, wurde er vom amerikanischen Direktor des Senders zurückgepfiffen, weil der US-Hochkommissar mit der Frage interveniert hatte, ob der RIAS den dritten Weltkrieg beginnen wolle.
Klimkin heute muss natürlich nicht gefragt werden, warum seine Regierung auf eine Erstarrung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland hinarbeitet. Denn solange die Frontstellung samt einseitiger westlicher Parteinahme für Kiew Bestand hat, muss die dortige Oligarchenclique mit dem ins Präsidentenamt geputschten Schokozar Petro Poroschenko an der Spitze keinen Druck des Westens auf eine wirkliche Demokratisierung im Lande befürchten, nicht einmal in Richtung Erfüllung des Minsk-II-Abkommens, das die Ukraine mindestens so permanent und eklatant ignoriert, wie man es Moskau vorwirft.