Reproduzierbarkeit als Chance

Editorial

in (26.06.2014)

„‚Frederick, warum arbeitest Du nicht?’ fragten sie. ‚Ich arbeite doch’, sagte Frederick, ‚ich sammle Sonnenstrahlen für die kalten, dunklen Wintertage.’“ Alle anderen Mäuse sammeln Nahrungsmittel für den Winter und sehen zu, dass die Vorräte aufgefüllt werden. Erst ganz am Schluss von Leo Lionnis Kinderbuchklassiker Frederick (1967) wird die Arbeit des Farben und Wörter sammelnden Müßiggängers als solche anerkannt. Gerade in Zeiten der Krise nämlich können seine skills den Leuten über die offenkundigen materiellen Mängel, die leergefressenen Speicher, hinweghelfen. Als Frederick mit lyrischen Bildern aus seinem Sammelsurium die Vorstellungskräfte der Mäuse-Multitude mobilisieren kann, erfährt er die Bestätigung und Legitimierung seines Tuns. „Frederik, du bist ja ein Dichter!“ heißt es da.

Am Beispiel Fredericks wird vielleicht auch ganz schön die mögliche Verschaltung der beiden Begriffe von Reproduktion deutlich, die in dieser Ausgabe zur Debatte steht. Fredericks künstlerische Produktion ist im Grunde immer schon Reproduktion, nämlich die der gesammelten Farben usw. Das macht ihn nicht zu einem schlechten Künstler, er nutzt ein Repertoire und das steht potenzieller Virtuosität nicht im Wege. Seine Kunst muss aber selbst auch reproduziert werden, spätestens in den Köpfen der notleidenden und dichtungsaffinen Mäusebevölkerung. Sie muss reproduziert werden, um ihre Effekte zu zeitigen, nämlich über die kalte Jahreszeit und die Nöte angesichts der zur Neige gegangenen Vorräte da in der Mäusehöhle hinwegzutrösten. Und beim Trösten wären wir auch schon beim zweiten Verständnis von Reproduktion. Dabei geht es um die Produktivkräfte, die immer wieder hergestellt, reproduziert werden müssen und mit ihnen die herrschenden Verhältnisse.

Es waren Feministinnen wie Mariarosa Dalla Costa, Karin Hausen, Anja Meulenbelt u.v.a., die in den 1970er Jahren auf die Bedeutung der Reproduktionsarbeit – insbesondere auch auf die Rolle, die Frauen für sie spiel(t)en – hingewiesen haben. „Wenn wir es zynisch betrachten“, schrieb Meulenbelt 1975 (dt. 1980) in Feminismus und Sozialismus, „besteht die Arbeit der Hausfrauen vor allem aus der Reproduktion der für das Kapital wichtigsten Ware: die Arbeitskraft.“ Das dürfe aber nicht mechanisch verstanden werden (Kochen, Putzen, Waschen etc.), sondern es ginge auch darum, dass sie ihren Mann „psychisch auffängt“. Diese Auffangarbeit ist einerseits nach wie vor feminisiert, hat sich andererseits aber auch – wir sprachen darüber in unserem Heft zum Thema Immaterielle Arbeit und ihr Material (Frühjahr 2009) – noch intensiviert und auf alle möglichen gesellschaftlichen Rollen und Bereiche ausgedehnt.

Reproduktion meint im einen wie im anderen Sinne aber nicht nur Wiederherstellung und Verdoppelung. In der Reproduktion liegen auch die Potenziale der Veränderung. Längst begreifen viele Kunstleute, anders als noch Walter Benjamin, Verfall und Zerstörung der Aura eines Originals als historische Notwendigkeit und die Reproduzierbarkeit als Chance. Und in Philosophie und Sozialtheorie sind häufig mehr Dynamiken entdeckt und Möglichkeit für Verschiebungen aufgetan worden, als etwa Louis Althusser sie noch für denkbar hielt. Um all dies geht es in dieser Ausgabe. „’Macht die Augen zu’, sagte Frederick und kletterte auf einen großen Stein. ‚Jetzt schicke ich euch die Sonnenstrahlen.’“


Jens Kastner, koordinierender Redakteur

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Nr. 32, Sommer 2014, „Re:Produktion“