Fünf Wochen können verdammt kurz sein – und verdammt lang.
Innerhalb von fünf Wochen kann aus einem integren, fähigen Menschen und Wissenschaftler, auf dem viele Hoffnungen ruhten, öffentlich-medial und politisch eine „Causa“ gemacht werden, ein „Fall Holm“, kann jemand medial an den Pranger gestellt werden – und verliert prompt seine berufliche Existenz.
Inzwischen ist Andrej Holm, nach fünf zermürbenden Wochen, in denen er nahezu täglich Medienthema war, zurückgetreten. Die Geschichte ist bekannt: Die Linke wollte den auch international renommierten, promovierten Stadtsoziologen, der jahrelang an der Humboldt-Uni zum Thema Gentrifizierung forschte und lehrte, zum Baustaatssekretär machen. Holm ist bekannt für linke Positionen, gerade in der Wohnungspolitik.
Akt Nr. 1: Kaum war die Nachricht heraus, warteten diverse Medien – allen voran der Berliner Tagesspiegel – mit der Nachricht auf, dass Holm von Ende 1989 bis Anfang 1990 als 19-Jähriger bei der Stasi gewesen sei. Nun war das überhaupt nichts Neues, denn bereits 2007 hatte Holm in einem taz-Interview diese Geschichte selbst erzählt, vor dem Hintergrund der Herkunft aus einem kommunistischen Elternhaus.
Ohnehin muss das schon eine absurde, filmreife Situation gewesen sein: Da sitzt ein 19-Jähriger in einer Stasi-Stube – und erlebt die letzten Monate eines untergehenden Staates und der Staatssicherheit. Holm sagte später wiederholt, er sei „extrem froh darüber, dass mir die Wende diese Zeit erheblich verkürzt hat“. Und er bedaure aufrichtig, für einen Repressionsapparat gearbeitet zu haben.
Angesichts der massiven Kampagne schüttelten etliche den Kopf: Einem 46-Jährigen fünf Monate seiner Vergangenheit vor 27 Jahren vorzuhalten, hielten viele für völlig überzogen – weil dies grundsätzlich einem Menschen die Fähigkeit abspräche, sich zu entwickeln. Interessant daran war, dass sich auch viele frühere DDR-Oppositionelle hinter Holm stellten und die Stasi-„Enthüllung“, die ja keine war, lächerlich fanden. Weil das also nicht so recht zu zünden schien, legte der Tagesspiegel nach.
Es begann Akt Nr. 2: Holm habe damals bei Aufnahme seiner Arbeit bei der Humboldt-Uni falsche Angaben gemacht und seine „hautamtliche Stasi-Tätigkeit“ verschwiegen. Holm erwiderte (sinngemäß), er sei davon ausgegangen, dass er eine Ausbildung beim Wachregiment Feliks Dzierzynski beziehungsweise dem MfS absolviert habe. Tatsächlich wurde er aber bei der Auswertungs- und Kontrollgruppe der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Berlin des MfS als hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter geführt.
Darüber zu streiten ist müßig – schon deshalb, weil nur Holm selbst wissen kann, was er damals dachte. Zweitens, weil schon bald deutlich wurde, dass es hier eigentlich um ganz andere Dinge ging.
Denn ein weiterer bedeutender Teil von Holms Geschichte ist auch, dass er 2007 mit dem absurden Vorwurf, er sei der geistige Kopf einer Gruppe linkextremistischer Autonomer, die drei Polizeiwagen in Brand gesteckt haben sollten, verhaftet wurde. Vorgeworfen wurde ihm also die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung – er wurde morgens wie ein Schwerverbrecher in seiner Wohnung festgenommen, umgehend nach Karlsruhe ausgeflogen und saß wochenlang in isolierter Untersuchungshaft. Als wesentliches Indiz galten unter anderem seine Publikationen als Gentrifizierungsforscher und –kritiker. Es hagelte auch international Proteste, namhafte Soziologen waren empört. Weil die Anwürfe von BKA und Bundesanwaltschaft nicht haltbar waren, musste Holm freigelassen werden.
Akt Nr. 3: Während nun einige von Holms Gegnern eine direkte Linie vom ehemaligen Stasi-Mitarbeiter über seine Hausbesetzerzeit Anfang der 1990er Jahre bis zu „linksextremer Gesinnung“ zogen (Kommunistenalarm!), ließen andere gleich die Katze aus dem Sack: Etwa der Berliner FDP-Chef Sebastian Czaja, der in einer Abgeordnetenhaus-Debatte am 12. Januar sagte: „Herr Holm ist mit seiner ganzen Vita antidemokratisch geschult. Diesem Staatssekretär ist der Hausbesetzer näher als der Investor und deshalb hat er nichts in einer Regierung zu suchen.“
Beide Sätze sind interessant: Der erste sagt zwischen den Zeilen, dass Holm schon durch seine Familie „antidemokratisch geschult“ sei. Das kann man auch Sippenhaft nennen. Der zweite Satz sagt: Wer Investoren nicht nahe steht, hat in der Regierung nichts zu suchen.
Der Tagesspiegel war in dieser Hinsicht schon am 12. Dezember deutlich geworden: „Ein Gentrifizierungskritiker, ein linker Aktivist, ein Wissenschaftler ist er. Einer, der Hausbesetzung als effektives Mittel zur Schaffung von Sozialwohnungen preist, leerstehende Wohnungen zwangsbelegen will und mit umfangreichen Steuersubventionsprogrammen eine baupolitische Richtung unterstützt, die in der SPD kritisiert und in der Wohnungswirtschaft zu munteren Kontroversen führen wird. Hier liegt die Gefahr seiner Ernennung und nicht in seiner Stasi-Vergangenheit.“
Nun ist Andrej Holm seit langem nicht nur als renommierter Wissenschaftler und Stadtforscher, sondern durchaus auch für seine linken Positionen und sein gesellschaftliches Engagement für eine soziale Wohnungspolitik und gegen fortschreitende Gentrifizierung bekannt. Und er hätte mit seinen Vorschlägen und Erfahrungen einer Stadt, in der die Grundstückspreise und Mieten explodieren und in der es akut an bezahlbaren Wohnungen und Sozialwohnungen mangelt, überaus gut getan. Doch genau deshalb ist er auch jenen, die vom ständig im Wert steigenden Betongold dieser Stadt und von Verdrängung profitieren, natürlich ein Dorn im Auge.
Akt Nr. 4 war dann ein rasanter politischer Prozess: Denn von Anfang an diente die „Causa Holm“ auch dazu, die neue rot-rot-grüne Regierung unter Druck zu setzen. Ohnehin hatte Holm selbst innerhalb der Koalition einen schweren Stand, insbesondere bei der SPD. Schnell ließ sie sich von der aufbrandenden Mediendebatte vor sich her treiben. Dazu muss man auch sagen, dass weder die Linke noch Holm in der folgenden Auseinandersetzung sonderlich geschickt agierten – dazu hätte man das Thema schon von vornherein wesentlich offensiver angehen müssen. Als es dann um Holms Angaben bei der Humboldt-Uni ging, versteckte sich die Regierungskoalition, allen voran der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), hinter der Universität: Von deren arbeitsrechtlicher Prüfung machte man nun das politische Schicksals Holms als Staatssekretär abhängig – man wolle Holms Stellungnahme und die HU-Entscheidung abwarten.
Dazu kam es aber nicht mehr: Bereits am Samstag zuvor machte Müller eine Kehrtwende und forderte nun eine umgehende politische Entscheidung: Holm habe in den letzten Wochen Gelegenheit gehabt, sich und seinen Umgang mit der eigenen Biografie zu überprüfen und zu entscheiden, ob er ein hohes politisches Staatsamt ausfüllen kann. „Seine Interviews und Aussagen in dieser Frage zeigen mir, dass er zu dieser Selbstprüfung und den dazugehörigen Rückschlüssen nicht ausreichend in der Lage ist“, so Müller. Damit sei deutlich geworden, „dass Herr Holm die ihm anvertrauten, für diese Stadt extrem wichtigen wohnungspolitischen Fragen nicht in dem notwendigen Maß erfüllen kann“.
Eine eigenartige Erklärung. Sollte das bedeuten, erst wenn Holm freiwillig zurückträte, wäre er für das Amt des Staatsekretärs geeignet? Und war es Zufall, dass diese Forderung kam, kurz nachdem der SPD-Fraktionschef Raed Saleh die Koalition und seinen Parteikollegen öffentlich düpiert hatte, indem er in Sachen Videoüberwachung überraschend eine völlig andere Position vertrat?
Andrej Holm kam einer Entlassung zuvor, zog die einzig mögliche Konsequenz und trat noch am Samstag zurück. Kurze Zeit später erklärte die HU, dass Holm auch seinen Job an der Uni (von dem er bislang für seine neue politische Tätigkeit beurlaubt war) verliert und entlassen wird. Es folgten massive Studentenproteste.
Was für ein Scherbenhaufen. Nicht nur beruflich für Andrej Holm, sondern auch für die neue Koalition, die – insbesondere die Grünen und die SPD – nun hofften, endlich ungestört arbeiten zu können.
Doch diese „causa“ und vor allem die Erfahrung, wie man die Koalition medial vor sich her treiben kann, wird haften bleiben. Ein Scherbenhaufen ist es nicht zuletzt für diverse Medien. Zwar gab es etliche, die fair und differenziert berichteten und kommentierten – die taz, die Süddeutsche, auch der Spiegel. Aber es gab eben auch eine enorme Schlammschlacht, in der sich insbesondere ein Autor des Tagesspiegels bemerkenswert engagiert zeigte. Eine präzise, detaillierte und auch für jeden Medienwissenschaftler sehr aufschlussreiche Analyse dieser Kampagne hat jüngst der Soziologe Ulf Kadritzke (Jg. 1943 und westdeutsch sozialisiert) im telegraph veröffentlicht.
Zur Ehrenrettung des Tagesspiegel sei auf den Beitrag von Ralf Schönball am 19. Januar hingewiesen, der sich immerhin der Frage widmete, inwiefern die Immobilienbranche am Fall Andrej Holms überaus großes Interesse hatte. – Zu spät.
Abermals beschädigt ist vor allem die Debattenkultur, was den Umgang mit der DDR und das Ost-West-Verhältnis betrifft, denn die „Causa Holm“ zeigt, dass sich die Differenzen – 27 Jahre nach der Wende und dem Mauerfall – offenbar eher zementieren. Man könnte ja annehmen, dass beim Thema Stasi die Erregungskurve bei jenen größer ist, die sie tatsächlich in der DDR erlebt haben, und zwar „auf der anderen Seite“. Doch die sind viel eher in der Lage zu differenzieren.
Tatsächlich werden die dumpfesten Erregungswellen meist von Leuten erzeugt, die gar nichts mit der Stasi zu tun hatten – vor allem von Westdeutschen, aber auch von spätgeborenen Ostlern, die „unbelastet“ Karriere machen konnten.
Es rächt sich, immer noch, dass die ostdeutsche Gesellschaft keine Möglichkeit hatte, diese Aufarbeitung selbstständig zu übernehmen. Stattdessen übernahm die Deutungshoheit ab 1990 vor allem die westdeutsch geprägte Bundesrepublik, die weitgehend keinerlei Differenzierungen zur Kenntnis nehmen mochte. Alles Stasi außer Mutti – aber wer weiß, vielleicht ja auch Mutti noch?
Beschädigt ist schließlich die Wohnungspolitik der Stadt. Ein Staatssekretär wie Andrej Holm wäre ein klares Zeichen sowohl für Mieter als auch für Investoren und erst recht für Spekulanten gewesen, dass die Weichen neu gestellt werden. Aber daran hat vielleicht auch die SPD, die ja seit Jahrzehnten die heutige Stadtmisere maßgeblich mitverursacht hat, kein Interesse.
Immerhin gibt es nun eine starke außerparlamentarische Opposition (die auch die Positionen der Bausenatorin stärken könnte). Mit Holm.