Von der Wiederkehr der Hoffnung auf Veränderung
Zum ersten Mal seit Beginn der weltweiten Finanzkrise, die 2008/09 begann, wird ernsthaft über eine Alternative zur autoritären Krisenbearbeitung und Kürzungspolitik diskutiert. Mit dem Wahlsieg von SYRIZA in Griechenland wurde eine linke Regierung in Europa in die Lage versetzt, eine Politik offensiv infrage zu stellen, die für soziale Verelendung, den Abbau von demokratischen und sozialen Rechten und Umverteilung von unten nach verantwortlich ist. Nun muss sich zeigen, ob es gelingen kann, diesen Moment für eine wirkungsvolle Verdichtung sozialer Proteste und des Widerstands in Europa und Deutschland zu nutzen.
SYRIZAs Wahlsieg hat jedenfalls ein ›Fenster der Möglichkeiten‹ aufgestoßen und den europäischen Diskurs repolitisiert: In der Öffentlichkeit und in den europäischen Institutionen wird wieder über die Schuldenfrage und den ökonomischen Kurs gestritten. Die bisherigen Strategien des Krisenmanagements werden von der griechischen Regierung auf offener Bühne selbstbewusst kritisiert. Ein Bruch mit der herrschenden politischen Kultur wird auch in der Symbolik, der Sprache und Kommunikation vorgeführt. In Griechenland selbst spürt man eine allgemeine Aufbruchstimmung. Ein Wind der Veränderung hat das Land und seine Menschen erfasst. Durch den Wahlsieg SYRIZAs wird eine Transformation in Europa überhaupt erst wieder denkbar.
Das Übergangsabkommen – noch nichts endgültig entschieden
Der Ausgang des Ganzen ist offen. Es gibt erste, harte Rückschläge. Mit dem Rücken zur Wand musste die griechische Regierung mit den Finanzministern der Eurogruppe über die kurzfristige Refinanzierung der Staatsschulden verhandeln. Der extreme Druck der Eurogruppe auf Griechenland, der zuletzt in einem Ultimatum gipfelte, hat eine Einigung hervorgebracht, die bestenfalls als Zeitgewinn betrachtet werden kann. Die ursprüngliche Strategie der Neuverhandlung der Schulden ist – zumindest im ersten Anlauf – gescheitert.[1] Denn die griechische Regierung ist, wie nicht anders zu erwarten war, weiterhin dem Diktat der Gläubiger unterworfen: Sie kann zwar erstmals ihre eigenen Reformvorschläge unterbreiten, doch die Entscheidung, ob diese akzeptiert werden und weiterhin Kredite fließen, obliegt in letzter Instanz ›den Institutionen‹, das heißt dem IWF, der EZB und der Europäischen Kommission. Für den Zeitraum, für welchen die Vereinbarung gilt, das heißt die nächsten vier Monate, hat sich die griechische Regierung dazu verpflichten müssen, keine einseitigen Maßnahmen zu ergreifen, welche »die fiskalischen Ziele, die wirtschaftliche Erholung oder finanzielle Stabilität« negativ beeinflussen könnten. Ob eine negative Beeinflussung vorliegt, darüber urteilen ›die Institutionen‹. Selbstverständlich ist bei jeder Maßnahme von Neuem umkämpft, ob sie im Sinne der Vereinbarung ist.
Trotz des engen Korsetts gilt es, die aktuelle Vereinbarung nicht als letzte und bereits entschiedene Schlacht beziehungsweise Niederlage wahrzunehmen. Denn ab Juli läuft die gegenwärtige Vereinbarung aus, und zuvor werden die Karten in weiteren Verhandlungen neu gemischt. In diesem Sinne argumentiert auch die griechische Regierung.[2] Sie verweist unter anderem darauf, dass es gelungen ist, die bisherige Verpflichtung auf einen Primärüberschusses (dabei handelt es sich um den Budgetüberschuss ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen) in der Höhe von 4,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts abzuwenden. In Zukunft muss dieser ›nur noch‹ angemessen sein. Das wird als Bezug auf die allgemeinen fiskalpolitischen Regeln in der Eurozone interpretiert und würde bedeuten, dass der Überschuss ›nur‹ 1,5 Prozent betragen muss. Außerdem, so die neue Regierung, dürfe Griechenland nur insofern keine einseitigen Schritte ohne Zustimmung ›der Institutionen‹ unternehmen, sofern damit budgetwirksame Kosten verbunden sind. Entsprechend hat die SYRIZA-Fraktion Gesetze gegen die grassierende Armut ins Parlament eingebracht und plant die Einführung einer Reichensteuer. Zudem werden neue Privatisierungen offen abgelehnt und sind Untersuchungen wegen Korruption gegen deutsche Unternehmen eingeleitet worden. Und Alexis Tsipras fordert nach Abschluss der Verhandlungen weiterhin einen Schuldenschnitt. Das sind alles Hinweise darauf, dass die neue griechische Regierung nicht von ihrem Ziel, die Austeritätspolitik zu beenden, abrücken, sondern vielmehr wirkliche Reformen durchführen will.
Die kommenden Wochen und Monaten werden zeigen, wie viel Spielraum für eine solche Politik tatsächlich vorhanden ist. Bislang haben die europäischen ›Partner‹, allen voran die deutsche Bundesregierung und ein Teil der hiesigen Medien, auf SYRIZAs Vorschläge und Kritik am autoritären und neoliberalen Krisenmanagement mit Unverständnis, Ablehnung und bisweilen auch mit einer schlecht verhohlenen, überschäumenden Wut reagiert. Wer den Ausbau des Sozialstaats verlangt, die Privatisierung gesellschaftlichen Eigentums zurückweist oder eine gerechtere Verteilung der Schuldenlasten gegenüber den europäischen Institutionen einfordert, gilt als antieuropäisch. Es ist genau diese Konfrontationslinie, an der die gesellschaftliche Linke in Europa ansetzen müsste und wo es zu intervenieren gilt, gerade jetzt nach dem ersten deutlichen Rückschlag, den das Übergangsabkommen von Ende Februar ohne Zweifel darstellt.
Was bleibt vom Notprogramm?
Ein linkes Projekt wie das von SYRIZA ist unter den gegebenen Bedingungen selbstverständlich nicht frei von Widersprüchen und schmerzhaften Kompromissen. Das zeigte sich unter anderem schon bei der Wahl des Koalitionspartners, der rechten Partei Unabhängige Griechen (ANEL). Man braucht die verschwörungstheoretischen und rassistischen Ideen des Parteivorsitzenden und derzeitigen Verteidigungsministers Panos Kammenos sowie seine Phantasien von einem christlich-orthodoxen Großgriechenland nicht schönzureden: Sie und all das, wofür sie stehen, sind für eine Linke inakzeptabel. Doch allein mit der rechten ANEL gibt es eine Interessenkonvergenz in einer für die Beendigung der Austeritätspolitik zentralen Frage. Beide Parteien lehnen eine weitere Fremdbestimmung durch die Troika ab und beschreiben als ein zentrales Ziel die Wiedergewinnung der demokratischen Souveränität der griechischen Bevölkerung (SYRIZA) beziehungsweise der ›griechischen Nation‹ (ANEL). Dass bei dieser Koalition andere Fragen und Differenzen in den Hintergrund gedrängt wurden, ist Ausdruck der überaus schwierigen politischen Lage und der Machtverhältnisse im Staat, die zurzeit wenig andere Optionen zulassen (vgl. Kadritzke 2015).
Allerdings versucht SYRIZA, durch die strategische Besetzung von Ministerposten sowie durch konkrete politische Maßnahmen die rechte ANEL auszubremsen beziehungsweise einzuhegen. So wurde etwa die linke Flüchtlings- und No-Border-Aktivistin und Menschenrechtsanwältin Tassia Christodoulopoulou zur Staatssekretärin für Migration ernannt. Des Weiteren wurde mit der Schließung des Internierungs- und Abschiebelagers Amygdaleza begonnen und eine Reform des Einbürgerungsrechts angekündigt, um in Griechenland geborenen Kindern von MigrantInnen den Zugang zur griechischen Staatsbürgerschaft zu eröffnen. Zudem haben beide Regierungsparteien, wenn auch aus jeweils anderen Gründen, ein Interesse an der ›Legalisierung‹ von Flüchtlingen im eigenen Land. Geht es nach SYRIZA, die die untragbaren Zustände in den Lagern des europäischen Grenzregimes anprangert, sollen alle Flüchtlinge Papiere erhalten, mit denen sie soziale Leistungen beziehen können und die es ihnen ermöglichen würden, sich in und zwischen den Schengenstaaten frei zu bewegen. Für ANEL wäre mit dieser Maßnahme die Aussicht auf weniger Flüchtlinge im eigenen Land verbunden (hier gibt es Parallelen zur Situation in Italien, wo die Behörden unter Berlusconi die Weiterreise von Flüchtlingen in den Norden Europas informell gefördert haben).
Was den versprochenen Bruch mit dem Troika-Diktat angeht, so hat die Koalitionsregierung erste wichtige Schritte unternommen. Zunächst einmal hat sie die bis dahin gültige Form der Zusammenarbeit aufgekündigt. Zuvor suchten die sogenannten Troika-Experten das Land regelmäßig heim, inspizierten Ministerien und Steuerbehörden und korrigierten Gesetzentwürfe bis auf den letzten Punkt und das letzte Komma.[3] In Zukunft sollen Verhandlungen mit den Institutionen der Troika nur noch auf Augenhöhe (z. B. zwischen den einschlägigen griechischen MinisterInnen und den Spitzen von Kommission, IWF und Weltbank) stattfinden.
Zudem hat die neue griechische Regierung in beeindruckender Geschwindigkeit ein soziales und ökonomisches Notprogramm aufgelegt. Über eine Million Griechen ohne Krankenversicherung sollen wieder Zugang zum Gesundheitssystem erhalten. Familien, die unter der Armutsgrenze leben und von Stromsperren betroffen waren, sollen wieder versorgt werden und Obdachlose eine Wohnung zu Verfügung gestellt bekommen. In Zukunft soll es keine Zwangsräumungen mehr geben, wenn es sich um den Erstwohnsitz handelt, und sichergestellt werden, dass niemand mehr hungert. Geplant ist darüber hinaus, die ungerechte Immobiliensteuer, die auf Basis der Immobilienwerte vor der Krise berechnet wird, zu reformieren, den im Zuge der Krise massiv gesenkten Mindestlohn anzuheben und den Vorrang von Flächentarifverhandlungen beziehungsweise -verträgen vor Haustarifverträgen wieder festzuschreiben. Die Regierung hat zudem wirksame Reformen in der Steuerpolitik angekündigt. Dazu gehört unter anderem, konsequent gegen die privilegierten Oligarchen und gegen Schwarzgeldkonten im Ausland (die u. a. auf der sogenannten Lagarde-Liste stehen) vorzugehen. Darüber hinaus soll ein Teil der Entlassungen im öffentlichen Dienst (darunter die der berühmt gewordenen Putzfrauen) rückgängig gemacht und die Verwaltung grundsätzlich restrukturiert werden. Vieles erschöpft sich jedoch noch in Absichtserklärungen. In den Verhandlungen konnte die griechische Regierung allerdings durchsetzen, dass zumindest drei zentrale Maßnahmen gegen die humanitäre Katastrophe (Essensmarken, Garantie einer grundlegenden Gesundheitsversorgung für alle und Vermeidung von Zwangsräumungen des Erstwohnsitzes) in die Liste der von den Geldgebern genehmigten Strukturreformen aufgenommen wurden.
Davon, wie viel des sozialen und ökonomischen Notprogramms in der nächsten Zeit tatsächlich umgesetzt werden kann, wird SYRIZAs Zukunft abhängen. Es wird davon abhängen, in welchem Umfang sie weiterhin mit Unterstützung in der Bevölkerung rechnen kann, aber auch, wie stark sie speziell von der innerparteilichen und außerparlamentarischen Linken unter Druck geraten wird. In den ersten Wochen ist die Zufriedenheit mit der Regierungspolitik in der Bevölkerung noch gestiegen. Umfragen zufolge liegen die Zustimmungswerte hier zwischen 70 und 80 Prozent (und sind damit deutlich höher als in SYRIZAs Zentralkomitee).
Wie weiter? Ausweitung der Aneignungszone
Die Durchsetzung der genannten Maßnahmen und die damit vollzogene Abkehr vom brutalen Kürzungsdiktat wären extrem wichtig, um in einem ersten Schritt die sozialen Kohäsions- und Widerstandskräfte der griechischen Gesellschaft zu stärken, ganz praktisch soziale Not in der Bevölkerung zu lindern und gleichzeitig mobilisierende Signale auszusenden. Parallel dazu muss die Regierung in den Verhandlungen auf europäischer Ebene Zeit gewinnen, um die gerade erst begonnenen politischen Prozesse weiter vorantreiben und den Spielraum im eigenen Land ausweiten zu können. Ihr stärkstes Argument, mit dem sie in der europäischen und auch der deutschen Öffentlichkeit punkten kann, ist, gegen Korruption und die Steuerhinterziehung im eigenen Land vorgehen zu wollen. Da die neue Regierung im Unterschied zu ihren Vorgängerinnen nicht mit dem Machtapparat der alten Elite verwoben ist, sind solche Ankündigungen zum ersten Mal ernst zu nehmen.
Entscheidend für eine linke Perspektive in Griechenland wird sein, in welche Ausmaß die griechische Bevölkerung beziehungsweise die gesellschaftliche Linke die Straßen, Plätze und Institutionen sowie Räume des Alltags zurückerobern kann, um ein neues politisches Projekt voranzubringen, in fruchtbarer Zusammenarbeit mit der neu gewählten Regierung. Die ersten Demonstrationen, die parallel zu den Verhandlungen auf europäischer Ebene stattfanden, waren, wenn überhaupt, nur ein zaghafter Auftakt einer solchen Mobilisierung. Denn noch mangelt es an dem Bewusstsein und an den Ressourcen dafür, über Foren und Versammlungen mehr Menschen in ein neues gesellschaftliches Projekt einzubinden. Trotz der Bewegungsorientierung, die SYRIZA auszeichnet, gibt es einen starken Glauben daran, dass man zunächst die Notprogramme durchführen muss. Für mehr fehlte bisher die Kraft.
Doch weder Neuverhandlungen der Memoranden noch die Umsetzung eines Notprogramms werden ausreichen, angesichts der denkbar geringen Handlungsspielräume innerhalb der gegebenen Institutionen. Die griechische Regierung muss auch weiterhin mit anhaltendem Druck der Troika und der internationalen Finanzmärkte sowie – ausgelöst durch Maßnahmen von kapitalistischer Seite – mit einer sich noch vertiefenden ökonomischen Krise rechnen. Sie ist zudem eingezwängt zwischen dem autoritären Konstitutionalismus der EU und einem von PASOK und Nea Dimokratia klientelistisch besetzten bürokratischen Apparat in Griechenland. Das heißt, ohne eine grundlegende Infragestellung und Schaffung neuer Institutionen und ohne das Zurückweisen der Zumutung des Regierens auf der überkommenen Basis bliebe auch eine von SYRIZA geführte Regierung chancenlos. Ein soziales und ökonomisches Notprogramm muss daher begleitet werden von wirklichen Brüchen, wobei große Teile der Bevölkerung in einen Prozess der kollektiven Reorganisation und Neugründung der Demokratie eingebunden werden müssen. Ausgehend von den Solidaritätsnetzwerken und -initiativen wäre eine politische Strategie zur Ausweitung der Aneignungszone zu verfolgen, mit der Prozesse der Selbstorganisierung und Selbstvergesellschaftung gestärkt werden. Die bisherige Bewegungsorientierung der Partei sowie ihr strategisches Verständnis von gesellschaftlichen Transformationsprozessen können da vorsichtig zuversichtlich stimmen (vgl. Candeias/Völpel 2014, 170 ff u. 190 ff).
Im besten Fall treiben die Bewegungen eine linke Regierung dabei produktiv vor sich her, und die Regierung bezieht ihre Kraft und Legitimation aus den außerparlamentarischen Bewegungen und gesellschaftlichen Solidarstrukturen. Noch ist offen, wie sich das Verhältnis von Regierungsprojekt und gesellschaftlichem Projekt entwickeln wird. Das nun abgeschlossene Kreditübergangsabkommen stärkt die eurokritischen Kräfte in den Bewegungen, aber auch innerhalb von SYRIZA (in der Linken Plattform). Damit nimmt die Gefahr von Konflikten innerhalb der Partei, aber auch mit Teilen der Bewegungen zu. Die Eurokritiker und Austrittsbefürworter können nun – und das nicht ohne Grund – darauf verweisen, dass eine Abkehr vom Austeritätskurs innerhalb der europäischen Architektur nicht möglich ist.
So oder so stehen beide Seiten, SYRIZA und die Bewegungen, vor einer enormen Kraftanstrengung. Es gilt, die abwartend passive Haltung beziehungsweise das Gefühl der Erschöpfung eines größeren Teils in der Bevölkerung zu überwinden und die Menschen für demokratische Reorganisierungsprozesse zu mobilisieren. Und das bei einer großen, aber dennoch zu geringen Zahl von Aktiven: Der Wahlsieg hat derart viel Personal aus der Partei und auch aus den Bewegungen für die Arbeit im Regierungsapparat und in den Behörden abgezogen, dass die Partei gegenüber der Regierungsfraktion auszubluten droht, Kräfte in den Bewegungen fehlen und damit beide an Bedeutung als notwendiges Korrektiv einbüßen könnten. Die Bewegungsorientierung könnte generell geschwächt werden. Die Bewegungen wiederum müssen ihr Verhältnis zum linken Regierungsapparat neu bestimmen und immer wieder der Situation gemäß austarieren. Sie laufen dabei Gefahr, zu sehr vom Regierungsapparat aufgesogen zu werden oder sich zu sehr in Abgrenzungskämpfen oder Blockaden zu verlieren. Dabei wird es für ein linkes Regierungsprojekt unerlässlich sein, dass die unterschiedlichen Partner der verbindenden Partei (Candeias/Völpel 2014, 174) weiterhin verschiedene Rollen und Funktionen erfüllen und jeder Partner temporär zum führenden Teil des Bündnisses wird.
Eine weitere Riesenherausforderung ist die Reform der Staatsapparate, die SYRIZA in aller Deutlichkeit angekündigt hat. Das schließt den überaus schwierigen Kampf gegen klientelistische Erwartungen von Teilen der eigenen (Wähler-)Basis ein. Das Vorhaben kann nur gelingen, wenn die Beschäftigten und große Teile der Bevölkerung am Aufbau neuer Strukturen und Behörden aktiv beteiligt werden und dieser nicht gegen sie erfolgt (vgl. Paraskevopoulos 2014; Wainwright 2013). Teilweise müssen völlig neue Strukturen geschaffen werden. Ein Beispiel hierfür ist der Polizeiapparat, der in Griechenland eng mit faschistischen Strukturen verwoben ist. Gerade bei der Reform der sozialen öffentlichen Infrastrukturen wäre darauf zu achten, den partizipativen Impuls der solidarischen Kliniken nicht zu verspielen, sondern ihn vielmehr auf Dauer zu stellen. Es geht darum, Entscheidungsfunktionen des öffentlichen Dienstes in die Zivilgesellschaft zurückzugeben und nicht einfach den Wohlfahrtsstaat ›von oben‹ wiederherzustellen – eine Position, die vom sozialdemokratischen Flügel SYRIZAs nicht unbedingt geteilt wird.
Ein europäischer Aufbruch?
Ein solcher Aufbruch in Griechenland müsste zudem zwingend flankiert werden von einer Zuspitzung und Verdichtung des Widerstands in anderen europäischen (Krisen-)Ländern. Denn die bisherigen Verhandlungen auf europäischer Ebene haben deutlich gezeigt, dass selbst eine von der Mehrheit der Bevölkerung getragene Linksregierung allein gegen die transnationalen Mächte wenig auszurichten vermag. SYRIZA weckt jedoch Hoffnungen, denn auch in anderen Ländern könnten Regierungen des europäischen Austeritätsregimes abgewählt werden: in Portugal, Irland und vor allem in Spanien. Ein mögliches gegenhegemoniales Krisenbündnis gewönne so erste zarte Konturen. Solche Bündnisse würden sich nicht nur auf die linken Kräfte der Bewegungen und Parteien beziehen, sondern böten – zumindest theoretisch, denn praktisch sieht es danach bisher nicht aus – auch einer in Bedrängnis geratenen Sozialdemokratie die Chance, sich zu erneuern. Dies könnte die Kräfteverhältnisse in Europa weitgehend verändern. In einem ersten Schritt jedoch müsste es dem sich in Entstehung befindlichen gegenhegemonialen Bündnis gelingen, die Brüche auszuweiten, die im europäischen Block an der Macht aufgetreten sind.
In den letzten Wochen und Tagen der Verhandlungen zur Verlängerung des Griechenlandpaktes sind diese Bruchlinien zumindest kurzfristig und ansatzweise aufgeschienen. So ließen Christine Lagarde, Jean-Claude Juncker und Mario Draghi – und damit niemand geringerer als die Führungsriege der Troika – erkennen, dass sie zu Zugeständnissen an die linke Regierung in Griechenland bereit wären. Flankiert durch die Kommentatoren der Financial Times und des Economists sprach sich selbst der Präsident der USA für Investitionen und Wachstum in Griechenland aus. Zumindest vorsichtig unterstützt wird diese Fraktion von EU-Staaten wie Italien und Frankreich, die in der linken Regierung Griechenlands eine Türöffnerin für eine Lockerung der fiskalpolitischen Regeln erkennen. Demgegenüber stehen die Hardliner, die zu keinerlei Kompromissen bereit sind: die deutsche Bundesregierung, die ›nordischen‹ Finanzminister mit Jeroen Dijsselbloem, dem Vorsitzenden der Eurogruppe, an ihrer Spitze, einige der osteuropäischen Mitgliedsstaaten wie Litauen und vor allem jene konservativ geführten EU-Staaten (Irland, Portugal und Irland), die selbst brutale Kürzungsprogramme umgesetzt haben.
Nun lassen sich diese Bruchlinien im Block an der Macht sicherlich nicht damit erklären, dass Teile seiner Akteure sich vom neoliberalen Projekt abgewendet hätten. Vielmehr hat das Auftauchen einer linken Regierung im europäischen Institutionengefüge Widersprüche zugespitzt und die Uneinigkeit darüber verschärft, wie die in die Krise geratene neoliberale Integration am besten abzusichern und zu retten ist. Für einen langfristigen Kompromiss mit dem linken Regierungsprojekt in Griechenland jenseits der jetzt ausgehandelten viermonatigen Übergangsfinanzierung, sprechen vor allem drei objektive Problemlagen: 1.) Die Wirtschaftskrise in der Eurozone ist alles andere als beendet. Vielmehr hat sie sich in einen Schwelbrand aus Deflation und leichter Rezession transformiert, der sich schon durch kleine Ereignisse wieder voll entzünden und dabei die ganze Weltwirtschaft mitreißen könnte. Vor diesem Hintergrund erscheint selbst aus neoliberaler Herrschaftsperspektive ein gezielter Nachfrageschub durch punktuelle Zugeständnisse sinnvoll. 2.) Nicht zuletzt vor diesem wirtschaftlichen Hintergrund lässt sich kaum vorhersagen, wie sich die Insolvenz Griechenlands und der damit aller Voraussicht nach verbundene Austritt Griechenlands aus dem Euro auf die gemeinsame Währungsunion auswirken würden. Das stark von den dominanten Kapitalfraktionen Europas getragene Herrschaftsprojekt der Währungsunion könnte dadurch aufgrund einer möglichen Kettenreaktion insgesamt gefährdet werden. 3.) Griechenland hätte in einem solchen Fall gar keine andere Möglichkeit, als sich gegenüber dem ›Osten‹, insbesondere gegenüber Russland, zu öffnen, nicht zuletzt um neue Kredite und Investitionen für den Aufbau des Landes anzuziehen. Eine solche Öffnung an der Südostseite der EU, die gleichzeitig die Flanke des transatlantischen Bündnisses ist, erscheint den Führungsstäben wohl gerade in Zeiten der ungelösten Ukrainefrage als besonders riskant. 4.) Eine kompromisslose Haltung des europäischen Machtblocks birgt politische Risiken. Das politische Projekt der europäischen Integration leidet seit Jahrzehnten unter schwindendem Rückhalt in den Bevölkerungen. Das dramatische Erstarken rechter, rechtspopulistischer bis hin zu faschistischen Parteien ist dafür nur der stärkste Ausdruck. Eine Unterwerfung oder ein Herausbrechen Griechenlands würde der europäischen Idee einen kaum zu überschätzenden Schaden zufügen.
Umgekehrt sprechen mehrere gewichtige Gründe aus der Perspektive des europäischen Blocks an der Macht dafür, keine Zugeständnisse zu machen. Denn sollte es der griechischen Regierung gelingen, die Schuldenlast auch nur geringfügig zu reduzieren und darüber die schlimmsten Auswirkungen der humanitären Katastrophe zu lindern und ein – wenn auch nur kleines – Wirtschaftswachstum zu erreichen, ist die ganze neoliberale Krisenpolitik der letzten fünf Jahre diskreditiert. SYRIZA hätte das Dogma der Alternativlosigkeit durchbrochen. Im schlimmsten Fall würde dies eine Renaissance der gesellschaftlichen Linken und ihre Parteien in Europa befördern. Relativ kleine Zugeständnisse zur Stabilisierung und Absicherung der neoliberalen Integration könnten sich so letztlich als Anfang ihres Endes herausstellen. Konstituierende Prozesse, die auch an den Grenzen der Mitgliedstaaten nicht Halt machen, könnten dabei letztlich jene neoliberalen Politiken herausfordern, die durch die europäische Verfassung festgeschrieben sind und bisher weitgehend einer Infragestellung entzogen waren: die auf Deregulierung und Sozialdumping ausgelegten Marktfreiheiten, die durch ein Einstimmigkeitserfordernis von einer harmonisierten Besteuerung behüteten Unternehmen und Finanztransaktionen und das Verbot der öffentlichen Refinanzierung, welches die Staaten an die Macht der Finanzmärkte koppelt. Eine Aufweichung könnte letztlich den autoritären Konstitutionalismus, der seit der Krise den wegbrechenden Konsens überbrücken half, infrage stellen.
Unter Druck steht daher keinesfalls nur das linke Regierungsprojekt. Auch der europäische Block an der Macht steckt in einem Dilemma: Sowohl Zugeständnisse als auch ihr Ausbleiben könnten ihn langfristig gefährden. Die sich zuspitzenden Widersprüche, die ständigen Positionswechsel einzelner Akteure zwischen den beiden Polen im Block an der Macht oder die über Nacht verschwindenden Kompromisspapiere[4] sind daher nicht (nur) Ausdruck wankelmütiger Charaktere oder Resultat machtpolitischer Spielchen. Vielmehr verdeutlichen die greifbar werdenden Widersprüche, dass spätestens mit dem linken Regierungsprojekt in Griechenland die Hegemoniekrise des Neoliberalismus direkt die Ebene der europäischen Staatlichkeit erreicht hat. Um diese Hegemoniekrise von unten weiter zuzuspitzen, wird es darauf ankommen, wie sich die gesellschaftliche Linke in den anderen Ländern in den nächsten Monaten aufstellt. In Portugal ist kürzlich leider der zweite Anlauf zu einer gemeinsamen Plattform der Bewegungen und der Linken trotz des inspirierenden Sieges von SYRIZA gescheitert. In Irland wiederum wird an solch einer Plattform derzeit gearbeitet. Käme sie zustande, wäre laut Umfragen ein Wahlsieg möglich (vgl. Fertl 2015). Doch bereits Linksregierungen in Griechenland und Spanien würden die Spielräume auf europäischer Ebene erweitern und den Druck auf Griechenland und SYRIZA abmildern. Denn Griechenland aus der Eurozone zu drängen, sofern die griechische Regierung weiterhin die Konfrontation mit den europäischen Regierungen und Institutionen sucht, liegt im Bereich des Möglichen – bei Spanien ist dies jedoch ganz sicher nur um den Preis des Auseinanderbrechens des Euroraums zu haben.
Für die Linke in Spanien, darunter Podemos, wird dabei viel vom Ausgang der derzeitigen Auseinandersetzung zwischen der von SYRIZA geführten griechischen Regierung und den nordeuropäischen Gläubigern Griechenlands abhängen. Wenn es SYRIZA gelingt, zumindest einige Wahlversprechen zu erfüllen, wenn sie es schafft, mittel- und langfristig einen für Griechenland akzeptablen Deal mit den Gläubigern zustande zu bringen und Reformen durchzusetzen, die nicht mehr vornehmlich auf Kosten der Ärmeren gehen, würden auch Podemos und die gesellschaftliche Linke in Spanien automatisch davon profitieren. Doch bis zu den Parlamentswahlen im spanischen Staat Ende 2015 sind es noch mehrere Monate, und sollte SYRIZA grundlegend scheitern, würde auch Podemos an Attraktivität verlieren.
Solidarität im Eigeninteresse
Die gesellschaftliche Linke in Europa wird in den nächsten Wochen und Monaten vor der Aufgabe stehen, ihren Widerstand und ihre Proteste zuzuspitzen. Dabei gilt es unter anderem, zu entscheidenden Daten und Anlässen wie den weiteren Kreditverhandlungen Griechenlands hör- und sichtbare Proteste in den verschiedenen Ländern Europas auf die Straße zu bringen. Die kurzfristig organisierten Kundgebungen und Demonstrationen der letzten Woche waren ein erster Anfang.
Doch vor allem in Deutschland muss es darum gehen, die notwendigen Zugpferde für solch eine Mobilisierung, darunter die Gewerkschaften, die Linkspartei aber auch Organisationen wie Attac, stärker in Bewegung zu versetzen. Dafür müssen Debatten geführt und verbreitert und Entscheidungsträger angesprochen und gewonnen werden. Bereits jetzt ist absehbar, dass große Tanker wie die Gewerkschaften konstanten und beharrlichen Druck von der Basis benötigen. Zwar haben deutsche GewerkschaftsführerInnen klar positionierte Aufrufe mitgetragen,[5] aber weitergehende Aktivitäten wie Großdemonstrationen oder ein publikumswirksames, mit prominenten Personen besetztes Schulden- beziehungsweise Austeritätstribunal sind bisher noch nicht in Sicht.
In Deutschland – im Herzen des austeritätspolitisch schärfsten Türwächters – gilt es, die Lähmung aufzubrechen, die sich durch die zum Teil extrem aggressiv vorgebrachten Behauptungen eines Großteils der Medien, der Ökonomen und politischen Entscheidungsträger über die faulen Griechen und unser verprasstes Geld festgesetzt hat. Auch wenn Umfragen und Meinungsäußerungen selbst in den eigenen Organisationen immer wieder zu bestätigen scheinen, dass in Deutschland nicht der Funken einer Hoffnung auf eine breitere kritische Debatte besteht, dürfen wir uns damit nicht abfinden. Denn das würde bedeuten, das Feld kampflos denjenigen zu überlassen, die die soziale Verelendung in Europa noch weiter vorantreiben wollen, und damit am Ende unweigerlich einer erstarkenden Rechten. Letztere wiederum wird dabei am wirkungsvollsten nicht durch – unzweifelhaft wichtige – Gegendemonstrationen, mit denen man rechten Aufmärschen begegnet, bekämpft, sondern dadurch, dass wir als Linke neue soziale Räume erobern und Zukunftsperspektiven für einen anderes gesellschaftliches Zusammenleben entwickeln. Gelänge es, zwischen Artikulationen der Unzufriedenheit und Interventionen in die konkreten Alltagsprobleme mit neuen Organisations- und Solidaritätsstrukturen – wie in Spanien oder Griechenland (Vgl. Candeias/Völpel 2014) – eine Verbindung herzustellen, hätte dies eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft. Die Verknüpfung von Protest, einer direkten Verbesserung sozialer Lagen und erlebter Selbstermächtigung könnte außerdem der Hinwendung von Unzufriedenen zu rechten Protestparteien entgegenwirken und dafür sorgen, dass diese ihren Unmut auf erreichbare Gegner statt auf ›Sündenböcke‹ richten.
Wie Strategien dafür im Einzelnen aussehen könnten, bleibt zu diskutieren. Klar ist, dass es nicht ausreicht, für eine griechische Linksregierung auf die Straße zu gehen, selbst wenn damit eine allgemeine Kritik an der Krisenbearbeitungspolitik Europas verbunden wird. Es muss vielmehr deutlich werden, dass es um Solidarität im Eigeninteresse geht. Dafür müssen Anknüpfungspunkte aus unserem Alltag gesucht werden, beispielsweise die hiesigen Auswirkungen des ›Spardogmas‹ und die Politik der ›schwarzen Null‹ geht. Denn angesichts der Vorgaben für einen ausgeglichenen Haushalt ächzen bereits jetzt viele deutsche Kommunen, unter der Schuldenlast, werden physische sowie soziale Infrastrukturen oder auch kulturelle Angebote vernachlässigt. An manchen Orten regt sich dagegen bereits Widerstand, an anderer Stelle werden die anstehenden Tarifauseinandersetzungen der Beschäftigten insbesondere in den Sozial- und Erziehungsdiensten die Frage, welche öffentlichen Dienstleistungen wir für ein gutes Leben brauchen, offensiver thematisieren. Auch der bereits erfreulich breite Protest gegen TTIP (und CETA) hinterfragt den grundsätzlichen Kurs in Europa und die immer näher rückende fast vollständige Unterwerfung unter Kapitalinteressen. Der Protest gegen die Freihandelsabkommen zeigt zudem zum ersten Mal seit Langem die deutlich aufbrechende Differenzen in der europäischen Sozialdemokratie auf, die im Sinne einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über die Frage »Wie wollen wir in Europa leben?« weiter zugespitzt werden müssten. Und es gibt eine Regierung, die TTIP nicht zustimmen wird, nämlich die griechische.
Bei allen Rückschlägen und Enttäuschungen, die wir erleiden werden, kann uns dabei ein Gedanke auch Hoffnung geben: Europa steht unzweifelhaft an einem Scheideweg. Neoliberale Verhärtung, Stärkung rechtspopulistischer und faschistischer Kräfte, Krise und gar Zerfall des europäischen Projekts sind mögliche Entwicklungen. Angesichts dessen bleibt uns einfach nichts anders übrig, als mit allen verfügbaren Kräften um einen anderen Kurs zu streiten und zu kämpfen. Es geht um eine Beendigung der perspektivlosen Kürzungspolitik und der Prekarisierung in ganz Europa. Das erfordert mehr als Überzeugungsarbeit. Es geht um die Organisierung von Bewegungen und den Aufbau von Organisationen in jedem einzelnen Land, die mit denen in Griechenland und Spanien vergleichbar sind. Athen war nur er Anfang, Madrid könnte folgen, und dann? Wer weiß? Die Hoffnung ist zurück.
Literatur
Candeias, Mario und Völpel, Eva, 2014: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise, Hamburg
Fertl, Duroyan, 2015: Irland: Der Ruf nach einer neuen linken Kraft wird lauter, in: LuXemburg Online, http://www.zeitschrift-luxemburg.de/irland-der-ruf-nach-einer-neuen-linken-kraft-wird-lauter.
Kadritzke, Niels, 2015: Griechenland auf dem Boden der Tatsachen, in: Le Monde Diplomatique, 13.2., www.monde-diplomatique.de/pm/2015/02/13.mondeText1.artikel,a0004.idx,0
Mason, Paul, 2015: Greece gets its deal. But if the detail’s wrong ‘we’re finished, 20.2., http://blogs.channel4.com/paul-mason-blog/greece-deal-details-wrong-were-finished/3395
Paraskevopoulos, Thodros, 2014: Last Exit Griechenland?, in: LuXemburg 1/2014, 50–57
Wainwright, Hilary, 2013: Transformative Power: Political organisation in transition, in Socialist Register 2013, 157ff
Anmerkungen
[1] Vgl. hierzu ausführlich den Text des Eurogruppenabkommens unter: www.keeptalkinggreece.com/2015/02/20/eurogroup-statement-on-greece-full-text.
[2] Vgl. http://www.stokokkino.gr/details_en.php?id=1000000000004838/Greece-is-coming-out-of-a-memorandum-imposed-isolation.
[3] Vgl. hierzu den Dokumentarfilm von Harald Schumann und Árpád Bondy »Macht ohne Kontrolle – Die Troika«.
[4] Mason, Paul: Greece gets its deal. But if the detail’s wrong ‘we’re finished, 20.2.2015, http://blogs.channel4.com/paul-mason-blog/greece-deal-details-wrong-were-finished/3395.
[5] Vgl. den Aufruf Griechenland nach der Wahl – Keine Gefahr, sondern eine Chance für Europa, http://wp.europa-neu-begruenden.de.
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