Zur Griechenland-Wahl

Nationale Einheit statt gesellschaftlicher Emanzipation

„Der Geisterfahrer - Europas Albtraum Aléxis Tsípras“, titelte der Spiegel nach den Parlamentswahlen in Griechenland und bringt damit exemplarisch die Stimmung des deutschen Establishments auf den Punkt. Für Linke in Europa war der deutliche Wahlsieg von Syriza (Synaspismós rizospastikís aristerás, Allianz der radikalen Linken) hingegen ein notwendiges Aufbäumen der Griech_innen gegen die ihnen aufoktroyierten Spardiktate.

 

Nach jahrelangem Widerstand breiter Teile der verarmenden Bevölkerung, und der polizeistaatlichen Zerschlagung unzähliger Streiks und Demonstrationen, ist dieser Sieg ein weiteres Signal an Brüssel und Berlin, dass die Fortsetzung der katastrophalen Austeritäts- und Kürzungspolitik nicht akzeptiert wird. Wer mit der Regierungsübernahme Syrizas gesellschaftlichen Wandel oder ein emanzipatorisches Projekt verbindet, wird allerdings ein braunes Wunder erleben. Die schnelle Einigung von Parteichef Aléxis Tsípras mit Pános Kamménos, dem Gründer der nationalistisch-populistischen Néa Dimokratía-Abspaltung Anel (Anexártitoi Ellines, Unabhängige Griechen), machte deutlich, dass die Zusammenarbeit der ungleichen Partner bereits im Voraus beschlossene Sache war. Beide Parteien eint nur ein gemeinsames Ziel. Das Ende der Spardiktate für Griechenland.

 

Unabhängige Griechen

Anel wurde im Februar 2012 von dem bekannten homophoben Nationalisten, Verschwörungstheoretiker und früheren stellvertretenden Schifffahrtsminister der Néa Dimokratía, Pános Kamménos, aus Protest gegen die Spardiktate der Troika gegründet. Nicht nur in der anarchistisch/antiautoritären Bewegung gilt Kamménos seit den 1990er Jahren als ausgeprägter Profilneurotiker.

Mit seinem Buch „Terrorismus: Von der Theorie zur Praxis“, in dem er die Zusammenarbeit der sozialdemokratischen Pasok mit der Stadtguerillaorganisation 17. November beweisen wollte, machte er sich 1992 zur Lachnummer. Als Anarchist_innen 1996 eine nationalistische Veranstaltung mit Kamménos an der Uni Thessaloníki störten, und es zu körperlichen Auseinandersetzungen kam, behauptete er, acht von ihnen trotz Vermummung erkannt zu haben. Nach jahrelangen Prozessen wurden die Beschuldigten freigesprochen.

Im Strafverfahren gegen die Stadtguerillaorganisation ELA (Epanastatikós Laikós Agónas, Revolutionärer Volkskampf) 2004, verwiesen ihn die Richter des Saales, als er ohne Ladung im Prozess erschien, um angebliche Geheimakten der Stasi mit belastenden Indizien gegen die Angeklagten zu präsentieren. Auch jetzt als neuer Verteidigungsminister liebt er den großen Auftritt.

Gerade drei Tage im Amt, ließ er es sich am 30.01.2015, dem Imía-Jahrestag des Beinahe-Krieges 1996 zwischen Griechenland und der Türkei um den unbewohnten Felsbrocken Imía in der Ägäis, nicht nehmen, dort von einem Militärhubschrauber aus einen Lorbeerkranz abzuwerfen. Die Empörung der türkischen Regierung und der Applaus griechischer Nationalisten waren wohlkalkuliert.

Bei allen „nationalen“ Themen, wie der Zypernpolitik, der umstrittenen Namensgebung des Nachbarlandes Mazedonien (FYROM, Former Yugoslawien Republic of Macedonia), des Umgangs mit der türkischsprachigen Minderheit in Nordgriechenland oder der Grenzziehung in der Ägäis; die Positionen von Syriza und Anel liegen meilenweit auseinander. Auch innen- und gesellschaftspolitisch wird Syriza der nationalen Einheit zuliebe emanzipatorische Reformen wohl schnell vergessen. Die angedachte Trennung von Staat und Kirche wird als erstes gekippt werden. Noch kurz vor der Wahl hatte Kamménos die enge Verbindung mit der orthodoxen Kirche zu einem der Grundsätze von Anel erklärt. Obwohl jede/r im Land weiß, dass die Kirche für ihren riesigen Waldbesitz, ihre Felder, Grundstücke und Immobilien entweder gar keine Steuern oder nur die Hälfte dessen bezahlt, was NormalbürgerInnen abführen müssen, behauptete er im Interview mit dem Fernsehsender ANT1 unwidersprochen das Gegenteil: „Buddhisten, Juden und Muslime“ zahlten keine Steuern, während die orthodoxe Kirche dabei sei, „ihre Klöster zu verlieren“. Und zur Stornierung milliardenschwerer Rüstungsaufträge an Deutschland und Frankreich wird es mit dem wehrhaften Verteidigungsminister keinesfalls kommen.

 

Nationaler Widerstand…

 

Im Grunde repräsentiert die Koalition eine Querfront aus verschiedenen sozialen Bewegungen und Berufsgruppen, die gegen die Kürzungs- und Austeritätspolitik der letzten Jahre auf die Straße gingen. Schon 2011 bei den Platzbesetzungen, waren auf dem Syntagma-Platz in Athen sowohl Rechte und Reaktionäre wie z.B. die selbständigen LKW- und TaxifahrerInnen oder die BesitzerInnen kleiner Läden versammelt, als auch die Massen der linken Protestierenden. Dort war es wiederholt zu Spannungen und teilweise körperlichen Auseinandersetzungen gekommen. Um den von Syriza und Anel nun angestrebten nationalen Konsens zu erreichen, müssten die hohen Erwartungen der unterschiedlichen Gruppen zumindest ansatzweise bedient und zugleich ernsthafte Brüche mit der orthodoxen Kirche, den Wirtschafts- und Medienmogulen und dem Polizeiapparat vermieden werden. Eine Quadratur des Kreises und darüber hinaus nur nach erfolgreichen Verhandlungen mit den Gläubigern finanzierbar.

Bisher kündigte die Regierung die Anhebung des Mindestlohns von 586 auf 751 Euro und die Wiedereinführung der 13. Monatsrente für Niedrigrenten unter 700 Euro an. Versprochen ist weiterhin die Abschaffung der Patientengebühren für Rezepte und Arztbesuche sowie die Wiedereinstellung aller öffentlich Bediensteten, deren Kündigung vom Obersten Verwaltungsgerichtshof als verfassungswidrig eingestuft worden war. Dies betrifft mehrere Tausend Entlassene. Tsípras selbst verkündete den sofortigen Stopp von Privatisierungen. So gut und richtig diese Ansagen sind, Berlin und Brüssel lehnen jede Änderung der strikten Sparpolitik ab. Schon deshalb wird den ersten vollmundigen Versprechungen recht bald kapitalistische Realpolitik folgen. Es ist nicht zu erwarten, dass in den kommenden Wochen ein Kompromiss zwischen den griechischen Forderungen einerseits und der Position von Berlin, EU und Troika andererseits erreicht wird. Doch Griechenland braucht dringend Geld. Die bisher gezahlten, als „Griechenland-Hilfe“ deklarierten Kredite über Hunderte von Milliarden Euro, waren jedenfalls nicht für die verarmte Bevölkerung bestimmt sondern flossen meist direkt in die Kassen deutscher, französischer und privater Großbanken.

 

…oder internationale Solidarität?

 

Infolge der düsteren drei Jahre nach der Niederschlagung der Massenproteste 2010/2011 hatte diesmal auch eine Minderheit in der anarchistischen/antiautoritären Bewegung für die Wahl von Syriza geworben. Bessere Ausgangsbedingungen für soziale Kämpfe sollten so geschaffen werden. Nehmen sie ihr eigenes Argument ernst, kommt es nun darauf an, die eigene Agenda in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Teilbereichsbewegungen voranzutreiben. Die Schließung des gerade neu eröffneten Hochsicherheitstrakts KategorieC in Domokós – auch ein Wahlversprechen Syrizas – kann durch öffentlichen Druck erreicht werden. Schon eine Woche vor der Wahl schritten in Ioánnina knapp 100 Anarchist_innen zur Wiederbesetzung des 2013 geräumten Zentrums Antibíosi. Andere damals geräumte und für die Bewegung wichtige Häuser und Zentren in Athen, Pátras und Thessaloníki warten auf ihre Wiedereröffnung. Auch die ArbeiterInnen der besetzten und in Selbstverwaltung betriebenen Fabrik Vio.Me brauchen Unterstützung um Druck für ihre Forderung nach Legalisierung des Betriebes aufzubauen. Die entschiedenen Kämpfe der Basisgewerkschaften gegen die Öffnung der Kaufhäuser und Geschäfte an Sonntagen müssen jetzt zugespitzt werden. Und es gilt endlich die erleichterte Einbürgerung von Migrant_innen sowie die automatische griechische Staatsbürgerschaft für alle in Griechenland geborenen Kinder – auch und gerade gegen den Widerstand von Anel – durchzusetzen.

Für uns in Deutschland kann es bei aller Skepsis gegenüber der Querfront in Athen nur darum gehen, den berechtigten griechischen Forderungen nach einem Schuldenschnitt und einem Ende der Spardiktate hier Nachdruck zu verleihen. Schon damit der Albtraum des Spiegel wahr wird. Nicht die Griech_innen schulden uns Geld; umgekehrt wird ein Schuh daraus!

Neben nie geleisteten Reparationszahlungen für die Verwüstung des Landes und die hunderttausenden im 2. Weltkrieg ermordeten und verhungerten Griech_innen, geht es auch um einen Zwangskredit in Höhe von damals 476 Millionen Reichsmark. Soviel musste die Bank von Griechenland 1942 der Deutschen Reichsbank zur Deckung von Besatzungskosten auszahlen. Allein diese Schulden Deutschlands belaufen sich inzwischen auf 11 Milliarden Euro.

 

Ralf Dreis

 

Bei einer Wahlbeteiligung von 63,9% entfielen auf: Syriza: 36,3%, ND: 27,8%, Chrysí Avgí: 6,3%, To Potámi: 6,1%, KKE: 5,5%, Anel: 4,8%, Pasok: 4,7%, andere Parteien: 8,6%, ungültig: 2,4%, Nichtwähler_innen: 36,1%.

 

Kommentar aus: Graswurzelrevolution Nr. 397, März 2015, www.graswurzel.net