Transformationen des Kapitalismus und revolutionäre Realpolitik

in (09.02.2010)

Systemkrise oder business as usual, zwischen diesen beiden Positionen changiert die Einschätzung der gegenwärtigen Krise. Doch weder ist der Kapitalismus als solches in der Krise, noch kann die Form kapitalistischer Entwicklung der letzten 30 Jahre einfach weiter verfolgt werden. Die spezifische Form der transnationalen, informationstechnologischen Produktions- und Lebensweise unter neoliberaler Hegemonie ist in eine strukturelle oder organische Krise geraten. Wir stehen am Beginn einer erneuten Transformation des Kapitalismus. Um seine Gestalt wird in den nächsten Jahren gekämpft werden. Wie kann angesichts der nachteiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse dennoch eine sozialistische Transformation im Sinne einer revolutionären Realpolitik (Luxemburg) verfolgt werden? Also, was tun (Lenin) – und «wer zum Teufel tut es» (Harvey 2009)?

Transformationen als passive Revolutionen

Nichts wird so bleiben wie es ist. Transformation hieß in den letzten 150 Jahren immer wieder: passive Revolutionierung der Produktions- und Lebensweise. Im Anschluss an Antonio Gramsci sind passive Revolutionen eine Art der Restauration brüchig gewordener Herrschaft durch Revolutionierung aller Verhältnisse, nicht nur Wiederherstellung der Ordnung, sondern Entwicklung bürgerlich kapitalistischer Herrschaft, die Gesellschaft aktiv vorantreibend. Das passive Element besteht darin, Interessen der Subalternen herrschaftsförmig zu integrieren, die untergeordneten Gruppen aber in einer subalternen Position fern der Macht zu halten, zugleich ihre Intellektuellen und Führungsgruppen in den Machtblock zu absorbieren, und damit die Subalternen ihrer Führung zu berauben.

So trieb das neoliberale Management Globalisierung und Internationalisierung von Produktion, Kultur und Warenwelt ebenso voran, wie den informationstechnologischen Schub, die Verwissenschaftlichung der Produktion durch Einbeziehung des Wissens der unmittelbaren Produzenten, und erzwang Eigenverantwortlichkeit und ökonomische Emanzipation der Frauen. Die erste transnationale Welle neoliberaler Umwälzung schwächte die Macht von Lohnabhängigen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Sozialdemokratie, die zweite Welle integrierte ihre gewendeten Repräsentanten in einen sozialdemokratischneoliberalen Machtblock. Ergebnis war eine rasante Entwicklung von Produktivkräften, von Akkumulation und Profiten, auf Kosten von beschleunigter Umverteilung und Ungleichheit. Seine progressiv-vorantreibende gesellschaftliche Funktion hat der Neoliberalismus jedoch verloren. Es mangelt an ausreichend Expansions- und Entwicklungsmöglichkeiten, um sowohl den Akkumulationsbedürfnissen wie den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Bevölkerung nach Verbesserung ihrer Lage oder zumindest nach Perspektive nachzukommen. Die Versprechen wurden gebrochen. Die aktive Zustimmung der Bevölkerung ist brüchig geworden.

Organische Krisen und Brüche

Einer Transformation voraus gehen strukturelle oder «organische» Krisen. Es deuten sich, wie Gramsci in den Gefängnisheften analysiert, «unheilbare Widersprüche » in der Struktur der Gesellschaft an. Nun sind Krisen eine Normalität in Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht. Es gehört geradezu zu den charakteristischsten Merkmalen, dass der Neoliberalismus als hegemoniales Projekt Krisen absorbiert, indem es sie organisiert (Demirovic). Konjunkturelle-zyklische oder «generische» Krisen (Poulantzas) – die sich im Neoliberalismus in immer kürzeren Abständen häuften. Gleichzeitig kann ihre ‹bereinigende Wirkung› technische, ökonomische und gesellschaftliche Innovationen hervorbringen oder beschleunigen, dynamische Impulse auslösen und dazu beitragen, dass kapitalistische Akkumulation und bürgerliche Hegemonie dynamisiert werden. So hart diese Krisen sich auch auf die Lebensverhältnisse vieler Menschen auswirken, vermindert die Vernichtung und Entwertung von Kapital die Tendenz zur Überakkumulation, schafft Bedingungen zur Umverteilung des Mehrwerts zugunsten der Profite, verbessert die Verwertungsbedingungen des Kapitals und zwingt zur Anpassung der gesellschaftlichen Regulation. Dies ist verbunden mit wechselnden politischen Konjunkturen innerhalb einer spezifischen Periode kapitalistischer Entwicklung, zum Beispiel dem Wechsel vom orthodox-konservativen zum sozialdemokratischen und schließlich zum autoritären Neoliberalismus. Entscheidend ist für den Block an der Macht nicht die Stilllegung oder Lösung von Widersprüchen, als vielmehr sie in einer Weise bearbeitbar zu machen, dass sie beherrschbar bleiben. Ein solcher Begriff von Hegemonie fragt also nicht nach Stabilität sondern vielmehr nach der bestimmenden Entwicklungsrichtung der Bearbeitung von Widersprüchen.

In organischen Krisen kommt es jedoch zu einer Verdichtung und Verschränkung unterschiedlicher Krisen, die zu Konflikten und Blockierungen innerhalb des Blocks an der Macht führen, seine Neuzusammensetzung bewirken. Dies beinhaltet sowohl molekulare Veränderungen als auch eine Folge von Brüchen: beispielsweise 1929, 1933f. und 1945 in der Entstehungszeit des Fordismus sowie mit seiner Krise im Übergang zum Neoliberalismus 1968, 1973/75 und 1980. Dabei zeigt sich, dass es sich zwar in jedem Fall auch aber keineswegs nur um ökonomische Widersprüche, sondern um politische Krisen und Ereignisse handelt – etwa New Deal, Faschismus, Weltkrieg bzw. 68er-Bewegung, Pinochets neoliberaler Gewaltcoup, Thatcherismus und ‹geistig-moralische Wende›. Denn, folgt man wiederum Gramsci, kann «ausgeschlossen … werden, dass die unmittelbaren Wirtschaftskrisen von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen; sie können nur einen günstigeren Boden für die Verbreitung bestimmter Weisen bereiten, die für die ganze weitere Entwicklung des staatlichen Lebens entscheidenden Fragen zu denken, zu stellen und zu lösen».

Allerdings wird auch deutlich, dass die Annahme geschichtsvergessen ist, dass nach einer ‹großen› Krise wie der seit 2007 andauernden alles mit nur leichten Modifikationen so weitergehen werde wie bisher; ebenso wie die Annahme, nun würde sich über Nacht alles ändern. Der Übergang von imperialistischer Globalisierung und Konkurrenz zum Fordismus dauerte in den USA mindestens 13 Jahre, in Europa bis nach dem Zweiten Weltkrieg – darin wird auch die zeit-räumliche Ungleichzeitigkeit und Varianz der Entwicklungen deutlich. Auch die Entwicklung der Krise vom Ende der 1960er Jahre bis zur wirklichen Durchsetzung des Neoliberalismus – in Etappen, dominiert vom Keynesianismus, aber schon mit einem Wechsel zum Monetarismus und freien Wechselkursen – dauerte bis 1980. Freilich ist das kein Automatismus und die Geschichte der Durchsetzung des Fordismus zeigt, wie heftig solche Übergangskrisen sein können, wie unterschiedlich der Fordismus – wie auch später der Neoliberalismus – sich in verschiedenen Kontexten realisierte.

Organische Krisen und molekulare Veränderungen

Im Vorfeld von ökonomischen oder politischen Brüchen, aber auch unabhängig von solchen, ereignen sich molekulare Veränderungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen – alltäglicher Ausdruck der Bewegungsformen gesellschaftlicher Widersprüche – und sind zunächst kaum als solche sichtbar. Sie sind als generische Krisenelemente, als vereinzelte Phänomene beherrschbar. Doch diese Formen der molekularen Veränderungen tragen immer auch die Möglichkeit zur Verschiebung von Widersprüchen und Kräfteverhältnissen und damit zur Verdichtung in ‹großen›, strukturellen Krisen in sich. Molekulare Veränderung wie zyklische Krisen sind letztlich nicht bestandsgefährdend für die bestehende Produktionsweise, produzieren aber gesellschaftliche Konflikte und sind aufgrund der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse in letzter Konsequenz unkalkulierbar. Ihre Überwindung ist nicht selbstverständlich, insbesondere wenn sich unterschiedliche Krisenelemente verschränken und in einem Ereignis verdichtet werden.

Die spekulative Blase, die 1997/98 zu den Krisen in Asien, Lateinamerika und Russland führte, hatte als reale Grundlage noch die Ausdehnung der Akkumulation in neue Verwertungsräume. Die dot.com-Blase, die 2001 platzte, finanzierte die Entwicklung, Verbreitung und Verwertung der Internet-Technologien, bevor die ‹Übertreibungen› korrigiert wurden. Die Immobilien- und Kreditblase, die sich nun entlud, hatte hingegen kaum noch neue tragfähige Akkumulationsfelder eröffnet, sondern fast ausschließlich die finanzielle Akkumulation vorangetrieben. Zyklische Krisen und modifizierte Akkumulationsstrategien konnten zwar die Verdichtung dieser Entwicklung in einer strukturellen Krise über lange Zeiträume bearbeiten und verzögern, aber nicht verhindern. Die Hypothekenkrise war sozusagen der konjunkturelle Ausdruck dieser molekularen Veränderung. Strukturell – und dies ist für den Block an der Macht ökonomisch vielleicht am problematischsten – hat diese Veränderung aber dazu geführt, dass die Akkumulation auf erweiterter Stufenleiter seit einigen Jahren nicht mehr gewährleistet ist. Dies bringt es mit sich, dass steigende Renditen nur noch durch fortwährende Umverteilung zu Lasten der Lohnabhängigen, des Staates und der national oder regional beschränkten Kapitale realisierbar sind, während immer größere Bereiche gesellschaftlich notwendiger Arbeit, der öffentlichen Infrastrukturen und sozialen Dienste austrocknen. Während die Überakkumulation nicht nachhaltig abgebaut werden kann und sich nicht ausreichend neue Investitionsfelder eröffnen, spitzt sich eine Reproduktionskrise des Gesellschaftlichen zu, die auch die Grundlagen der Akkumulation selbst gefährdet (mangelnde Infrastrukturen, mangelnde Qualifikationen, mangelnder Zusammenhalt, mangelnde Profitaussichten etc.).

Molekulare Anhäufung von Elementen

Vor diesem Hintergrund erhalten auch andere molekulare Veränderungen, die für sich genommen nicht bestandsgefährdend für die neoliberale Hegemonie sein mögen, eine andere Beleuchtung und können krisenverschärfend wirken. Etwa die Erschöpfung der neuen Produktivkräfte: So wurden in den letzten Jahren neue Formen der Arbeitsorganisation zurückgeschraubt, die ihre Grenzen erreicht haben. Von Kapitalseite erfolgt ein Rückbau von Autonomiespielräumen, Verschärfung von Kontrolle, Intensivierung und Prekarisierung der Arbeit sowie Überausbeutung. Auf Seite der Lohnabhängigen führt dies zu breiter Demotivierung und Kreativitätssperren, sowohl durch die ‹Selbstausbeutung› in flexiblen, enthierarchisierten Arbeitsverhältnissen als auch durch die engen Grenzen der betrieblichen Vorgaben und Despotismus (vor allem im Niedriglohnsektor) oder mangelnde Perspektiven. Dies bedeutet in vielen Fällen Erschöpfung, Verunsicherung, burn out und mangelnde Requalifizierung. Im Ergebnis entwickelt sich die Produktivität kaum noch. Die Potenziale der neuen Produktivkräfte lassen sich unter den neoliberalen Produktionsverhältnissen nicht weiter realisieren.

Weitere molekulare Veränderungen treten hinzu: Bereits im Alltag manifestiert sich die ökologische Krise, die in Form von Katastrophen nicht nur das Leben von Millionen Menschen durch Stürme, Überschwemmungen und Dürren bedroht, sondern auch zu einer massiven Kapitalvernichtung führt. Eng damit verbunden sind Ernährungskrisen und Hungerrevolten. Die Erschöpfung der fossilen Energiereserven befördert nicht nur die ökologische Krise, sondern wird angesichts der zu erwartenden Preissteigerung zahlreiche Industrien und weiteres Wachstum bedrohen. Dies gilt auch für den zunehmenden Hunger nach natürlichen Ressourcen generell.

Die weitere Verschärfung der Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen, die Ausdünnung öffentlicher Dienstleistungen sowie die Intensivierung von Arbeit bei Vernachlässigung der nötigen Erziehungs- und Sorgearbeiten vertiefen die bereits erwähnte Krise der Reproduktion der eigenen Arbeitskraft wie der künftigen Generationen. Zum Teil führt die damit verbundene Unzufriedenheit, vor allem bei Jüngeren, zu Revolten unter den am stärksten Betroffenen in den äußeren und inneren Peripherien. Protest und Widerstand formiert sich auf allen Ebenen, noch fragmentiert und ohne klare Richtung, aber periodisch wachsend. Insbesondere in den Peripherien, hier vor allem in Südamerika, haben sich ganze Bevölkerungsmehrheiten und Regierungen vom Neoliberalismus losgesagt und suchen nach neuen Wegen einer autonomeren Entwicklung. Der Washington Consensus und seine Institutionen, aber auch Ansätze der Good Governance werden von immer mehr Staaten des globalen Südens offen abgelehnt. Mit dieser Krise der internationalen Institutionen und westlicher Hegemonie verbunden sind global politische und ökonomische Verschiebungen in den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen: Mit den BRIC- und Golf-Staaten entwickeln sich neue kapitalistische Zentren.

In den alten Zentren wiederum wenden sich wachsende Teile der Bevölkerung von Parteien und Regierungen ab, zum Teil sogar von der formalen Demokratie als solcher, was zu einer anhaltenden Krise der Repräsentation führt, die seit Längerem ungelöst bleibt. International sind die Grenzen der zwangs- und gewaltförmigen Sicherung neoliberaler Globalisierung und die Überlastung der USA als globaler Gewaltmonopolist längst deutlich geworden: Die Niederlage im Irak ist nur das deutlichste Beispiel einer imperialen Überdehnung. Auch im Inneren der Staaten erweisen sich die Verstärkung von Sicherheitsdipositiven, Verpolizeilichung und prisonfare (Wacquant) als unzureichend, um gesellschaftliche Ordnung zu gewährleisten, geschweige denn Zustimmung der Subalternen zu organisieren.

Das sind langfristige Trends, die sich nicht durch ein bisschen Krisenmanagement beseitigen lassen. Die Veränderungen finden auf unterschiedlichen Ebenen fragmentiert statt: Ökonomische Inkohärenzen, Erschöpfung der Produktivkräfte, Veränderung der Subjektivitäten, Verschiebung der Kräfteverhältnisse, politische Legitimitätsverluste, ökologische und soziale Reproduktion etc. Ihre Verdichtung verläuft langsam, dann plötzlich und schnell, ab einem bestimmten Aggregatzustand, der politisch hergestellt werden muss. Den aufbrechenden Krisenerscheinungen hat der herrschende Machtblock zwar keine produktiven Lösungen mehr entgegen zu setzen, die die Interessen der Subalternen und damit den aktiven Konsens zum neoliberalen Projekt wieder herstellen könnten. Die Reserven des nach wie vor dominierenden Neoliberalismus als organisierende Ideologie im Übergang zur informationstechnologischen Produktionsweise sind also erschöpft – weder ein neuer Akkumulationsschub, noch ein neuer gesellschaftlicher Konsens sind von ihm zu erwarten. Doch seine Institutionen werden noch lange fort wirken, ihre Position ist aber nur noch eine «herrschende», keine «führende ». Die «molekulare Anhäufung von Elementen» kann «eine ‹Explosion› hervorrufen» (Gramsci, Gefängnishefte), zu Brüchen, zur Zersetzung des hegemonialen Blocks und letztlich zur Transformation der Produktions- und Lebensweise führen. Dies ist ein langwieriger und umkämpfter Prozess des Übergangs.

Zersetzung des geschichtlichen Blocks

Die Zersetzung des transnationalen geschichtlichen Blocks hat begonnen. Mangelnde Alternativen und ein ‹bizarr zusammengesetzter› Alltagsverstand halten noch einen passiven Konsens. Während die neoliberale Ideologie bei großen Teilen der Bevölkerung diskreditiert ist, haben die Subjekte diese Ideologie tief in ihre Handlungsmuster und ihren Habitus eingeschrieben. Viele sind offen für kapitalismuskritische, gar sozialistische Positionen. Zugleich betrachten sie diese als unrealistisch, weil mit ihnen nicht eine wirkliche Machtperspektive oder auch nur eine Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit verbunden ist. Zurecht, denn zugleich ist die Fähigkeit, Zukunft zu denken, auf Seiten der Linken eingeschränkt: Die alten Projekte, ob Staatsozialismus oder national-fordistischer Wohlfahrtsstaat, tragen nicht mehr, an Alternativen mangelt es.

Die Verunsicherung führt zunächst nicht zum Aufbruch, sondern befördert Ängste und strukturkonservatives Festhalten an Überkommenem. So sehr beispielsweise Beschäftigte in den letzten Jahren immer weniger bereit sind, weitere Lohnkürzungen, Arbeits ist die Stunde der Herrschenden. Merkel und Obama sind beliebt, ihre reale Unterstützung ist jedoch brüchig, der Bruch zwischen Repräsentierten und Repräsentanten größer denn je. So sehr die Krise Passivität und strukturkonservatives Denken befördert, herrscht ein verbreitetes Unbehagen und Wissen darüber, das es so nicht weitergehen wird oder kann.
Doch jede/jeder muss sich, wie Holzkamp schreibt, individuell immer in einem Widerspruch bewegen, «zwischen der Erweiterung der Lebensmöglichkeiten und der Vorwegnahme des Risikos des Verlusts der Handlungsfähigkeit durch die Herrschenden». Insofern liegt es nahe, sich im Rahmen der bestehenden Verhältnisse zufrieden zu geben, «also quasi eine Art von Arrangement mit den jeweils Herrschenden in einer Weise zu treffen, dass man an deren Macht so weit teilhat, oder zumindest deren Bedrohung so weit neutralisiert, dass man in diesem Rahmen noch einen bestimmten Bereich an freiem Raum» hat. Doch was geschieht, wenn immer mehr eben nicht an jener Macht zur Beherrschung der Verhältnisse teilhaben, deren prekäre alltägliche Situation die Bedrohung durch die Verhältnisse in keiner Weise neutralisiert, sondern verschärft – hier wirkt die Zersetzung selbst dieser restriktiven Handlungsfähigkeit. Die Auflösung kann zu anomischen Zuständen führen, Verdrängung und psychische und physische Krankheiten hervorrufen. Aber auch das widersprüchliche Verhältnis von Risiko des Verlusts von Handlungsfähigkeit und der subjektiven Notwendigkeit zur aktiven kollektiven Erweiterung der Handlungs- und Lebensmöglichkeiten zugunsten der letzteren verschieben. Verlassen der erworbenen Positionen, Verlernen des Eingeübten sind nun gefragt. Verunsichert, erschöpft, überschuldet – frei, flexibel und fertig von der Arbeit (einschließlich Reproduktionsarbeit), weitermachen wie bisher ist selbst die Krise. Die Subjektivitäten geraten in Bewegung.

Auch die Widersprüche zwischen den Fraktionen des Machtblocks vertiefen sich. Restaurative Kräfte, die den Staat zur Wiederherstellung der alten Ordnung nutzen und seine Finanzen ausplündern, greifen ineinander mit reformerischen Initiativen, die deutlich über den status quo ante hinaus gehen. Neoliberale Glaubenssätze werden reihenweise über Bord geworfen. Zugleich sollen die neuen Instrumente ermöglichen, möglichst bald wieder das ‹Casino› zu eröffnen. Es besteht Uneinigkeit über die Formen des neuen Staatsinterventionismus und des Krisenmanagements, über Konjunkturprogramme, Zinsen und Schuldenabbau, über die Reregulierung der internationalen Finanz- und Wirtschaftsordnung, über die Währungsverhältnisse, über die Lastenverteilung zur Eindämmung des Klimawandels, über die Lösung internationaler Konflikte. Ausdruck der Widersprüche innerhalb des herrschenden Machtblocks: Keine seiner Fraktionen ist in der Lage, die anderen Gruppen des Machtblocks unter ihre Führung zu bringen, was «zur charakteristischen Inkohärenz der gegenwärtigen Regierungspolitik [...], zum Fehlen einer deutlichen und langfristigen Strategie des Blocks an der Macht, zur kurzsichtigen Führung und auch zum Mangel an einem globalen politisch-ideologischen Projekt oder einer ‹Gesellschaftsvision›» (Poulantzas) führt.

Der Artikel erschien in der Nummer 41 der Zeitschrift arranca! mit dem Schwerpunkt 'Transformationsstrategien', mehr zur Ausgabe hier. Der Artikel wird in der nächsten Nummer der arranca! fortgesetzt.