Deutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen

21. Auflage der Dokumentation

17. August 2013. Kurz vor 15.00 Uhr erreicht der 29 Jahre alte Cliff Oase mit seinem Fahrrad die Ringmeierbucht an der Donau im bayerischen Neuburg. Er zieht sich aus, schwimmt in Richtung Leopoldineninsel und geht auf halber Strecke plötzlich unter. Taucher finden den Toten eine Dreiviertelstunde später in drei Metern Tiefe.

 

„Er braucht nicht mehr abgeschoben zu werden“, steht später in einer Traueranzeige, die sein Freund Bernd Duschner in die Zeitung setzt.

Cliff Oase wuchs als einziges Kind seiner Mutter in einem Dorf des Districts Gulu in Uganda auf. Als er 14 Jahre alt war, wurde er zusammen mit 20 weiteren Jugendlichen von Rebellen entführt. Sie bildeten ihn an Waffen aus und zwangen ihn, bei Kämpfen, Plünderungen und Morden mitzumachen.

Nach vier schrecklichen Jahren gelang ihm die Flucht zurück in sein Dorf. Dort fanden ihn seine Verfolger, misshandelten und fesselten ihn und seine Mutter und steckten ihre Hütte in Brand. Der Jugendliche konnte sich nach draußen retten – seine Mutter verbrannte vor seinen Augen. Cliff konnte ein zweites Mal entkommen und schlug sich bis zur Hauptstadt Kampala durch. Er ernährte sich von Müll oder von Erbetteltem. Ein deutscher Geschäftsmann nahm sich 2003 seiner an und brachte ihn in die Bundesrepublik.

Hier ging sein Martyrium weiter. Zehn Jahre lang musste er im Lager Neuburg in einem 14 Quadratmeter großen Zimmer mit immer wieder wechselnden Menschen vor sich hin vegetieren.

Ein Deutschkurs wurde ihm nicht genehmigt, zu arbeiten wurde ihm verboten, sogar für eine dringend notwendige psychotherapeutische Behandlung war das zuständige Landratsamt Neuburg nicht be­reit, die Kosten zu übernehmen.

Außer den obligatorischen 16,11 Euro für Gesundheits- und Körperpflegeartikel bekam er über Jahre hinweg kein Bargeld.

Wenn er aufgrund der schweren Antidepressiva, die er zu sich nehmen musste, die zwei­mal in der Woche stattfindende Ausgabe der Essenpakete versäumte, dann bekam er gar kein Essen, dann musste er hungern oder MitbewohnerIn­nen anbetteln. Einige Male wurde Cliff Oase beim Stehlen von Lebensmitteln erwischt.

Wegen angeblichen Verkaufs von Kleinstmengen Marihuana im Lager Neuburg – jeweils ein bis fünf Gramm – in den Jahren 2004 / 2005 wurde er zu über drei Jahren Haft verurteilt. Bis zum Schluss hat Cliff Oase diese Vorwürfe bestritten.

Erst kurz vor seinem Tod genehmigte die Behörde ein „Taschengeld“ von 5,11 Euro pro Monat.

Die Streichung des Bargeldes praktiziert diese Behörde bei Flüchtlingen, denen sie unterstellt, sich nicht genügend um die Beschaffung ihrer Abschie­bepapiere zu bemühen.

Tatsächlich war Cliff Oase mehr­mals bei der ugandischen Botschaft, jedoch gelang es ihm nicht, seine Identität nachzuweisen, weil er schlichtweg keine Familienangehörigen mehr hat und sein Heimat-Distrikt ab Mitte der 80er Jahre für mehr als zwei Jahrzehnte Schauplatz eines blutigen Bürgerkrieges zwischen den Truppen der Zen­tralregierung und Rebellen war. Zehntausende Kinder und Jugendliche wurden zwangsre­krutiert. Es entstanden Konzentrationslager, in die zwischen 1,4 und 1,8 Millionen Menschen der Bevölkerungsgruppen Acholi und Langi deportiert wurden – Tausende starben. Cliff Oase entstammte der Gruppe der Acholi.

Er litt unter starken Kopfschmerzen, extremen Schlafstö­rungen und Albträumen. Im De­zember 2012 diagnostizierte Exi­lio e.V. eine „sehr schwere posttraumatische Belastungsstö­rung“ und „depressive Symptomatik in Form von Stim­mungseinbrüchen, Antriebsminderung und sozialem Rückzug“.

Auch die Danuvius Klinik in Neuburg, Fachklinik für psychische Erkrankungen, befürwortete im Februar 2013 ausdrücklich eine Traumatherapie. Das Landratsamt lehnte mit Schreiben vom 25. März 2013 erneut eine Kostenübernahme ab.

Im Gegenteil, die Behörde erhöhte den Druck und forderte Cliff Oase erneut auf, sich schnellstens von der Botschaft von Uganda Papiere ausstellen zu lassen. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide.

„Vieles weist darauf hin, dass Cliff seinen Tod suchte. Er wusste, für ihn gab es kein Leben, keine Zukunft. Er war unendlich müde“, sagte sein Freund Duschner später in einem Interview. Der Verdacht er­härtet sich nach der Bekanntmachung des Obduktionsbe­richtes: Der unter schweren Psychopharmaka stehende Cliff Oase war stark alkoholisiert ins Wasser gegangen.

 

Eine Geschichte von vielen

Die Geschichte von Cliff Oase ist eine von Tausenden Geschichten, die in der jetzt aktualisierten Dokumentation der Antirassistische Initiative einen Platz findet. Sie ist ein Beispiel für die Zerstörung eines jungen Menschen, der sich in der BRD zunächst in Sicherheit wähnte, aber letztlich unter den repressiven Sonder- und Asylgesetzen zugrunde ging. Systematische Entmündigung, Verweigerung medizinischer Hilfe und die permanente Erhöhung des Ausreisedrucks sind einige Methoden der verantwortlichen Behörden, um jede positive Lebensperspektive im Ansatz zu ersticken.

In der mittlerweile 670-seitigen Dokumentation wird das gesammelte Spektrum des offenen und indirekten, des staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus gegen die „Unerwünschten“ und „Illegalen“ erfahrbar. Und es wird deutlich, mit welcher Gewalt die gesetzlichen Vorgaben von Behörden, Gerichten, Polizei, medizinischem Personal und anderen umgesetzt werden. Und mit wieviel Willkür und Menschenverach­tung Flüchtlinge gequält, ignoriert, schikaniert, isoliert und oft in Suizide oder zu Selbstver­letzungen getrieben werden. Dabei scheuen die Mitarbei­ter_innen der Behörden auch nicht vor Erpressung, Schikanen oder Rechtsbrüchen, Sippenhaftung oder Familientren­nungen und letztlich direkter Gewalt bei Abschiebungen zurück.

 

21 Jahre Recherche und Dokumentation des staatlichen & gesellschaftlichen Rassismus

Im Zeitraum vom 1. Januar 1993 bis 31. Dezember 2013 töteten sich 176 Flüchtlinge angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen – davon befanden sich 69 Menschen in Abschiebehaft.

1271 Flüchtlinge verletzten sich aus Angst vor der Abschiebung oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung (Risiko-Hunger- und Durststreiks) oder versuchten, sich umzubringen – davon befanden sich 642 Menschen in Abschiebehaft.

5 Flüchtlinge starben während der Abschiebung und 451 Flüchtlinge wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Misshandlungen während der Abschiebung verletzt.

33 Flüchtlinge kamen nach der Abschiebung in ihrem Her­kunftsland zu Tode, und 582 Flüchtlinge wurden im Her­kunftsland von Polizei oder Mi­litär misshandelt und gefoltert oder kamen aufgrund ihrer schweren Erkrankungen in Lebensgefahr.

71 Flüchtlinge verschwanden nach der Abschiebung spurlos.

184 Flüchtlinge starben auf dem Wege in die Bundesrepu­blik Deutschland oder an den Grenzen, davon allein 129 an den deutschen Ost-Grenzen, 2 Personen trieben in der Neiße ab und sind seither vermisst. 544 Flüchtlinge erlitten beim Grenzübertritt Verletzungen, davon 306 an den deutschen Ost-Grenzen.

17 Flüchtlinge starben durch direkte Gewalteinwirkung von Polizei oder Bewachungsper­sonal entweder in Haft, in Gewahrsam, bei Festnahmen, bei Abschiebungen, auf der Straße oder in Behörden – mindes­tens 869 wurden verletzt.

18 Flüchtlinge starben durch unterlassene Hilfeleistung.

72 Flüchtlinge starben in den Flüchtlingsunterkünften bei Bränden, Anschlägen oder durch Gefahren in den Lagern, 924 Flüchtlinge wurden dabei z.T. erheblich verletzt.

18 Flüchtlinge starben durch rassistische Angriffe im öffentlichen Bereich und 849 wurden bei Angriffen auf der Straße verletzt.

 

Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin

 

Kontakt und weitere Infos: www.ari-berlin.org

 

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 389, Mai 2014, www.graswurzel.net