In Gaza leben Menschen

Bomben auf Gaza. Bilder der Zerstörung, die fassungslos machen. Wir wissen: Ständig einer unberechenbaren Bedrohung des Lebens ausgesetzt zu sein, täglich Zerstörung und den Tod nahestehender Menschen zu erleben, nichts dagegen tun, nicht einmal fliehen zu können, ist die extremste Form der Traumatisierung. Die Menschen unter solchen Lebensbedingungen erleiden Panik, Ohnmacht und Depression, sind zutiefst erschüttert. Kinder sind der existenzbedrohenden seelischen Verletzung noch stärker ausgesetzt als Erwachsene.
Die OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) fasst die verfügbaren Zahlen zu den Folgen des israelischen Bombardements in Gaza zusammen: 2.131 getötete Palästinenser. Von ihnen wurden 1.473 als Zivilisten identifiziert. Unter den Toten sind 501 Kinder. 18.000 Häuser wurden zerstört oder schwer beschädigt. 108.000 Menschen sind ohne Obdach. 450.000 haben keinen Zugang zu Wasser, Hunderttausende leben derzeit ohne Strom und medizinische Versorgung. 72 Prozent der Haushalte haben nur das Notwendigste an Nahrungsmitteln. 70 Prozent der 20- bis 24-jährigen sind ohne Arbeit. 373.000 Kinder benötigen dringend psychosozialer Hilfe.
Die beste und wirksamste Hilfe wäre ein Leben in Frieden und Sicherheit, ohne Bedrohung und gewalttätige Unterdrückung. Mit selbstverständlichen Menschenrechten.
Wie werden die Überlebenden in Gaza weiterleben, eingesperrt, gedemütigt von einer gewaltigen Übermacht? Mit welchen Gefühlen wachsen die Kinder und Jugendlichen auf? Was war das Ziel der tödlichen Angriffe, denen so viele Menschen zum Opfer fielen? Angriffe, die die ohnehin ärmliche zivile Infrastruktur zerstört haben? Die Blockade wurde schon vor dem Krieg rigoros durchgesetzt, wie medico international beschreibt: „Seit Januar 2009 beschränken israelische Marinekräfte den Zugang palästinensischer Fischerboote offiziell auf drei nautische Meilen vor der Küste und blockieren damit 85% der Fischgründe Gazas. In Wahrheit wird der Zugang bis auf eine Meile beschränkt. Seit 2008 reduzierte diese Seeblockade den Sardinenfang – Haupteinnahme der Fischer – um 90%.“ Bekannt ist auch: Der israelische Außenminister Avigdor Liebermann hatte 2002 die Armee aufgefordert, in Gaza „keinen Stein auf dem anderen zu lassen“ und auch zivile Ziele „dem Erdboden gleichzumachen“. 2009 verlangte er unter Anspielung auf Hiroshima und Nagasaki, Israel solle in Gaza genauso vorgehen wie die USA. (Zitate nach Wikipedia) Welche Politik verfolgt die israelische Regierung aktuell den Palästinensern gegenüber, ist eine Strategie zu erkennen?
Als medico international zusammen mit der israelischen Organisation Comet-ME für Menschen, die  in den Hügeln um Hebron in bitterer Armut leben, wenigstens für Wind- und Solarenergie sorgen wollte, erließ die israelische Administration sofort eine Abrissverfügung. Während in vielen Gegenden des Westjordanlandes palästinensische Bewohner kaum die einfachsten Lebensbedürfnisse decken können, wachsen in unmittelbarer Nähe blühende israelische Siedlungen. Tsafrir Cohen von medico nennt dies „Politik der gezielten Rückentwicklung“ und er schlussfolgert: Es wird „gezielt daran gearbeitet, die Palästinenser als Individuen und als Kollektiv aus den (unter israelischer Kontrolle stehenden – der Verfasser) C-Gebieten zu vertreiben und diese an Israel anzuschließen.“ Ohne diese Gebiete, die etwa 62 Prozent des Westjordanlandes ausmachen, kann es keinen palästinensischen Staat geben.
Cohens Schlussfolgerungen sind keine Spekulation, sie sind offizielle Regierungspolitik eines Staates, der die viertstärkste Armee der Welt mit geschätzten 200 Nuklearsprengköpfen ohne jede Kontrolle durch die Internationale Atomenergiebehörde unterhält (und für deren Abschuss die von Deutschland gelieferten U-Boote geeignet sind). Im Wahlkampf vor der Knesset-Wahl 2013 bezeichnete Ministerpräsident Netanjahu den Bau israelischer Siedlungen in der besetzten Westbank als „heilige Pflicht“. Mehrere Mitglieder der regierenden Likud-Partei forderten die Annexion der C-Gebiete. Führende Politiker wie Naftali Bennet, inzwischen Wirtschaftsminister und Parteichef, verfolgt eine Groß-Israel-Agenda und eine Abkehr von der Zweistaatenlösung: „Gebe mir Gott die Kraft, ganz Israel zu vereinen und Israels jüdische Seele wiederherzustellen.“ In einer Kabinettsitzung verlangte er, „Terroristen“ einfach umzubringen. Auf Einwände entgegnete er: „Ich habe in meinem Leben schon viele Araber getötet, das ist gar kein Problem.“ Die Haltung, die hinter solchen Äußerungen deutlich wird, ist rassistisch und menschenverachtend.
Der Journalist Gideon Levy, ein Kritiker der Politik seines Landes Israel, zählt eine ganze Reihe maßgeblicher Polit-Persönlichkeiten auf, die Deportation der Araber und die Annexion des Westjordanlandes fordern. Der Vorsitzende der Regierungsfraktion Elkin sagte vor den Wahlen: „Wir werden versuchen, so viel Land unter unsere Kontrolle zu bringen wie möglich.“ Der Likud-Politiker Feiglin will Arabern Geld geben, damit sie das Land verlassen. Susanne Knaul (taz): „Mit dem Transfer palästinensischer Familien solle die jüdische Mehrheit in dem von Gott versprochenen Eretz Israel sichergestellt sein, das Israel und Palästina zusammen meint.“ Die rücksichtslosen Menschenrechtsverletzungen, die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik zielen auf Demoralisierung, auf Vertreibung, auf den Besitz des ganzen Landes Palästina. Israel hat ein Recht auf Sicherheit, aber kein Recht auf Eretz Israel – und sei es von Gott versprochen.
Der Forderung einer Experten-Kommission des UN-Menschenrechtsrates, Israel müsse „umgehend alle Siedlungen aus den völkerrechtswidrig besetzten palästinensischen Gebieten abziehen und alle weiteren Siedlungsaktivitäten einstellen“, stellt die israelische Regierung eigene Ziele entgegen. Das Kabinett beschloss eine Resolution, die mit dem Satz beginnt: „Das jüdische Volk hat ein natürliches, historisches und juristisches Recht auf seine Heimstatt und dessen ewige Hauptstadt Jerusalem als den Staat des jüdischen Volkes und ein Anrecht auf Gebiete im Land Israel, deren Status umstritten ist.“ Das verstößt gegen Völkerrecht und UN-Resolutionen. Und: Leider leben dort Palästinenser. „Ist das nicht Apartheid?“, fragt Gideon Levy – und er gibt die Antwort: „Natürlich ist das Apartheid.“
Große Widerstände in der israelischen Bevölkerung gegen diese Ansprüche werden nicht registriert – eher schon gegen die wachsende soziale Spaltung, die durch die neoliberale Politik der Regierung gefördert wird. „Gott hat UNS dieses Land gegeben“, ist auf die Mauer um die Altstadt von Jerusalem gesprüht. Die zaghafte Kritik der EU am expansiven Siedlungsbau vergleicht Außenminister Liebermann mit der Judenfeindlichkeit Ende der dreißiger Jahre. Europa opfere die Juden einmal mehr, zitiert ihn Zeit online „Ein weiterer Staat zwischen Israel und Jordanien ist undenkbar“, sagt Jair Schamir von Israel Beteinu. Er hat recht. Man muss nur einen Blick auf die Karte werfen: Die kleinen Enklaven inmitten weitgehend israelisch beherrschter C-Gebiete und neuer jüdischer Siedlungen werden mit Sicherheit keine Staatenbildung erlauben.
In Gaza leben Menschen. Gaza ist für sie ein Gefängnis. Sie sind mörderischen Präzisionsschlägen einer hochgerüsteten Armee ausgesetzt, ohne Entrinnen. Warum? Könnten sie die klassischen Sätze, die Shakespeare den Juden Shylock sagen lässt, nicht genauso auf sich beziehen? „Hat nicht ein Palästinenser Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen ähnlich, so wollen wir's euch auch darin gleich tun.“ 
Die Menschen in Gaza und dem Westjordanland sind zermürbt, demoralisiert, ohne Hoffnung. Rolf Verleger, Psychologie-Professor und ehemaliges Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden, spricht in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau über die Menschen in Palästina. Die meisten Bewohner des Gazastreifens seien Nachkommen von Vertriebenen: „Leute, die von ihren Häusern in Jaffa seit 1948 nur noch den Schlüssel haben, Menschen aus Aschkalon, die noch in den 50er Jahren eingesammelt und per Lastwagen nach Gaza deportiert wurden.“ Er spricht darüber, dass die Universität von Tel Aviv auf den Trümmern eines palästinensischen Dorfes errichtet wurde und die schönen arabischen Häuser in Jaffa mit Gewalt ihren Besitzern weggenommen wurden. Und er schließt damit, dass „die EU die andauernde Diskriminierung nichtjüdischer Israelis in Praxis und Gesetzgebung, die Militärdiktatur über das Westjordanland und seine Besetzung, die jahrelange Belagerung Gazas, verbunden mit periodischen Massenmorden an seinen Einwohnern, mit Sanktionen gegen Israel belegen muss. Statt Antisemitismus herbeizureden, sollten unsere Politiker und Medien mit ihrem Mitläufertum bei dem aktuellen Unrecht aufhören.“

 

Georg Rammer ist Psychologe und Publizist. Er lebt in Karlsruhe.